Wildcat-Zirkular Nr. 45 - Juni 1998 - S. 31-35 [z45negri.htm]


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Arbeit und Einkommen

Toni Negri

Die Arbeit

Es gibt zuviel Arbeit, weil alle arbeiten und alle zur Herstellung des gesellschaftlichen Reichtums beitragen. Dieser Reichtum entspringt aus der Kommunikation, der Zirkulation und aus der Fähigkeit, die Anstrengungen aller koordinieren zu können. Wie Christian Marazzi [1] sagt, ist die Produktion des Reichtums heute durch eine biopolitische Gemeinschaft gesichert (durch die Arbeit derjenigen, die eine Beschäftigung haben, aber auch durch die Arbeit der Studenten, der Frauen und all derer, die zur Erzeugung des Gefühlslebens, der Empfindsamkeit und den Formen der Semiotisierung der Subjektivität beitragen). Diese Produktion des Reichtums wird von den Kapitalisten durch die »Deflation« kommandiert und organisiert, d.h. durch das Herabdrücken aller Kosten, die für die produktive Kooperation und die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Reproduktion erforderlich sind. Der Ausbruch der »Inflation« (von Wünschen und Bedürfnissen), der nach 1968 auf die Deflation der Kosten folgte, war der kapitalistische Übergang von der Moderne zur Postmoderne, vom Fordismus zum Postfordismus. Es war ein politischer Übergang, bei dem die Lohnarbeit als fundamentale Matrix der Reichtumsproduktion verherrlicht wurde. Aber die Arbeit ist von ihrer politischen Macht getrennt worden. Diese politische Macht war von der Neuzusammensetzung der Arbeiter in den Fabriken ausgegangen und hatte sich innerhalb von gewerkschaftlichen und politischen Strukturen organisiert. Die Zerstörung dieser Strukturen hat - von außen betrachtet - eine formlose Masse von Proletariern hinterlassen, die im Territorium herumirren: ein wahres Gewimmel, das durch seine ständige Kollaboration und Kooperation den Reichtum produziert. In der Tat, wenn wir die Welt von unten betrachten, die Welt der Ameisen, da wo sich unser Leben abspielt, wird die unglaubliche produktive Leistungsfähigkeit erkennbar, die diese Arbeiter zunehmend entwickelt haben. Wir stehen hier vor einem unglaublichen Paradoxon: nämlich daß die Arbeit immer noch als Beschäftigungsverhältnis betrachtet wird, als eine Arbeit, die vom Kapital »beschäftigt« wird und unmittelbar seiner Produktionsorganisation unterworfen ist.

Die gesellschaftliche und produktive Legitimität der Tätigkeit bemißt sich noch immer an der »Beschäftigungsfähigkeit« (ein barbarischer Neologismus, der allerdings den neuen Charakter der Unterwerfung auf den Punkt bringt) für das Unternehmen oder den Staat. Aus der »Arbeit« wurde nach und nach eine »Beschäftigung«, und der Wert der Tätigkeit hängt nicht mehr von der tatsächlichen Beteiligung an der Reichtumsproduktion ab (wieviele Beschäftigungsverhältnisse sind unter diesem Gesichtspunkt »unproduktiv«!), sondern von der Unterwerfung unter die Kontrolle des Unternehmens oder des Staats. Bezüglich dieser Auffassung von »Arbeit« besteht ein grundlegender Konsens zwischen Rechts und Links, zwischen Unternehmern und Gewerkschaften.

Aber dieser Zusammenhang zwischen Reichtumsproduktion und Lohnarbeit ist heute aufgebrochen (es handelt sich dabei um eine traditionell-marxistische Betrachtungsweise, die allerdings schon vor Marx von der klassischen politischen Ökonomie formuliert worden war). Der Arbeiter braucht heute keine Arbeitsmittel (d.h. fixes Kapital) mehr, die ihm vom Kapital zur Verfügung gestellt werden. Das wichtigste fixe Kapital, dasjenige, von dem die Unterschiede in der Produktivität abhängen, befindet sich nunmehr in den Gehirnen der arbeitenden Menschen: das ist die Werkzeugmaschine, die jeder von uns in sich trägt. Das ist etwas völlig Neues im produktiven Leben von heute. Und dieses Phänomen ist wesentlich, weil das Kapital durch seine Erneuerung, seine innere Veränderung, durch die neoliberale Revolution und die Umdefinition des Sozialstaats diese Arbeitskraft »einsaugt«. Aber wie saugt es sie ein? Es tut dies in einer Situation, die strukturell zweideutig, widersprüchlich und antagonistisch ist. Die den Reichtum produzierende Tätigkeit ist nicht auf das Beschäftigungsverhältnis reduzierbar. Die Arbeitslosen arbeiten, die Schwarzarbeit produziert mehr gesellschaftlichen Reichtum als die Arbeit der Beschäftigten. Und umgekehrt werden die Beschäftigungsverhältnisse ebenso mit öffentlichen Gelder gefördert wie die Arbeitslosigkeit. Die Flexibilität und Mobilität der Arbeitskraft wurden nicht vom Kapital aufgezwungen, und auch nicht durch die Schachzüge der Vereinbarungen über Lohn und Einkommensverteilung, die zwischen Unternehmern, Gewerkschaften und Staat abgeschlossen wurden, Vereinbarungen, die in den letzten fünfzig Jahren das soziale und politische Leben praktisch bestimmt hatten. Heute befinden wir uns in einer Situation, in der die Arbeit tatsächlich »frei« ist. Natürlich hat dabei das Kapital gewonnen, es hat die Möglichkeiten zur politischen Organisierung der neuen Formen der produktiven Kooperation und ihrer politischen »Macht« vorweggenommen. Aber mit etwas Abstand, und ohne sich deswegen von Optimismus hinreißen zu lassen, muß ebenso festgehalten werden, daß die Arbeitskraft im traditionellen Sinne, d.h. die Arbeiterklasse, gegen die Fabrikdisziplin angekämpft hat. Dann stehen wir erneut vor dem Problem, einen politischen Umbruch einzuschätzen, der historisch betrachtet genauso bedeutsam ist wie der Übergang vom Ancien Régime zur Revolution. Es läßt sich durchaus feststellen, daß wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Umbruch erlebt haben, in dem sich die Arbeit emanzipiert hat. Durch ihre Fähigkeit, intellektuell und immateriell zu werden, hat sie sich emanzipiert. Sie hat sich von der Fabrikdisziplin emanzipiert. Genau darin liegt die Möglichkeit einer globalen, grundlegenden und radikalen Revolution der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft. Der Kapitalist ist von nun an ein Schmarotzer: nicht im klassisch-marxistischen Sinne als Finanzkapitalist, sondern weil er nicht mehr in der Lage ist, die Struktur des Arbeitsprozesses durch die Teilung in Hand- und Kopfarbeit zu beherrschen. Die neuen Formen der Subjektivität haben diese Trennung aufgehoben und umgedreht, indem sie Ausdrucksmittel ihrer eigenen Stärke sowie ein Kampf- und Verhandlungsfeld geschaffen haben.

Das garantierte Einkommen [Le salaire garanti]

Es gibt Konzepte eines minimalen garantierten Einkommens, wie wir sie in Frankreich z.B. in Form des RMI [2] kennen, was nichts anderes als eine Entlohnung des Elends ist. Es handelt sich dabei um Formen, in denen die Ausgeschlossenen entlohnt werden, um neue Armengesetze. Einer Masse von armen Menschen, die zwar arbeiten, aber sich nicht dauerhaft in das Lohnverhältnis integrieren können, wird ein bißchen Geld gegeben, damit sie sich reproduzieren können und keinen gesellschaftlichen Skandal auslösen. Daher gibt es ein Minimum an garantiertem Einkommen, an Subsistenz, aber nur in dem Maße, wie die Gesellschaft sich zur Verhinderung des Skandals von Todesfällen und »Pestilenz« gezwungen sieht. Denn der Ausschluß könnte in Pestilenz umschlagen. Angesichts eben dieser Gefahr waren im England des 17. und 18. Jahrhunderts die ersten Armengesetze geschaffen worden.

Es gibt solche Formen eines garantierten Einkommens, aber die eigentliche Frage des garantierten Einkommens ist eine völlig andere. Es geht darum zu begreifen, daß die Grundlage der Produktivität nicht mehr die Investition des Kapitals ist, sondern die Investition des vergesellschafteten menschlichen Gehirns. Anders gesagt, die Reichtumsproduktion beruht heute vollständig auf der größtmöglichen Freiheit und auf dem Bruch mit der Fabrikdisziplin, auf der maximalen Freiheit der Arbeit. Das garantierte Einkommen beinhaltet die Verteilung eines großen Teils des Einkommens, wobei es den produktiven Subjekten überlassen bleibt, dieses Einkommen für ihre eigene produktive Reproduktion zu verausgaben. Es wird damit zum grundlegenden Element. Das garantierte Einkommen ist die Bedingung für die Reproduktion einer Gesellschaft, in der die Menschen durch ihre Freiheit produktiv werden. Ganz offensichtlich werden an diesem Punkt die Probleme der Produktion und der politischen Organisation identisch. Wenn man diesen Gedanken zu Ende verfolgt, führt das zur Vereinigung der politischen Ökonomie mit der Politikwissenschaft, der Staatswissenschaft. Nur in den Formen der Demokratie - einer radikalen und absoluten Demokratie, wobei ich nicht weiß, ob der Begriff Demokratie hier noch verwendet werden kann - läßt sich dann noch die Produktivität bestimmen: eine substantielle, wirkliche Demokratie, in der auch die Gleichheit der garantierten Einkommen immer größer, immer grundlegender wird. Sicherlich wird es im weiteren Verlauf auch noch Debatten über Maßnahmen zum Anreiz [zur Arbeit! d.Ü.] geben, aber das sind Probleme, die uns nicht wirklich interessieren.

Heute besteht das wirkliche Problem darin, die Sichtweise umzukehren, nach der sich die Kritik der politischen Ökonomie von allein entwickeln würde, d.h. die Vorstellung von der Notwendigkeit der kapitalistischen Investition. Das ist nicht neu und wurde schon in den Jahren diskutiert, als die produktive Kooperation in allen Lebensbereichen völlig neu erfunden wurde, seien sie nun linguistisch, gefühlsmäßig oder den Subjekten zugehörig. Daher wird heute das garantierte Einkommen zur Hauptsache, als Bedingung für die Reproduktion dieser Subjekte in ihrem Reichtum. Kein Machthebel und nichts Transzendentales wird mehr benötigt, und es bedarf auch keinerlei Investitionen, die heute nicht mehr die sogenannten »Arbeitsplätze von morgen« schaffen, sondern nur zur Spaltung innerhalb des Proletariats zwischen Arbeitslosen und Arbeitenden, zwischen »Unterstützten« und »Produktiven«, »Sozialversicherten« und »Unversicherten« dienen. Es handelt sich um eine Utopie, und zwar um diese Art von Utopie, die zu einer Maschine der Wirklichkeitstransformation wird, wenn man sie nur in Gang setzt. Eine der schönsten Sachen heute ist es, daß sich dieser öffentliche Raum von Freiheit und Produktion zu definieren beginnt und dabei die Zerstörung all dessen mit sich bringt, was heute als Organisation der Produktivkraft und folglich als Organisation der politischen Macht existiert.

Die Arbeitszeitverkürzung

Wenn die Arbeitszeitverkürzung zu einem Mythos wird, demzufolge sich die Industriearbeit durch die Verkürzung der Arbeitszeit der noch Arbeitenden aufrechterhalten ließe, dann ist sie genau das: ein Mythos. Die Informatisierung und Automatisierung der fordistischen produktiven Arbeit schreitet so schnell voran, daß dabei keine Arbeitszeitverkürzung mithalten könnte. Wenn wir uns an das halten, was zum einen Gorz, zum anderen Fitoussi, Caillé oder Rifkin sagen, dann würden für das Niveau von Entwicklung und beschleunigter Automatisierung und Informatisierung, das die Vollbeschäftigung gesichert hatte, heute zwei Stunden Arbeit am Tag ausreichen. Dem würden zwei, höchstens zweieinhalb Tage pro Woche entsprechen. Wenn eine gewisse Linke mit ihrer Politik der Arbeitszeitverkürzung darauf zielt, die garantierte Beschäftigung der Arbeitskraft aufrechtzuerhalten, dann handelt es sich um eine reine Mystifikation.

Begeben wir uns nun auf die andere Ebene, bedenken wir, daß die Produktion nicht wegen der abgesicherten Arbeiter läuft, sondern wegen der Mobilität und Flexibilität, wegen der Ausbildung und der kontinuierlichen Weiterqualifizierung der gesellschaftlichen Arbeitskraft. Und daß diese Produktion gleichermaßen aufgrund der im unmittelbaren Arbeitsprozeß verrichteten Tätigkeiten funktioniert wie durch die wissenschaftliche Produktion und ihre Sprachen oder durch die Herstellung einer Gefühlsgemeinschaft. Wenn man diese dynamische, flexible, mobile, fließende, baumartig sich verzweigende Auffassung der Produktivität übernimmt, dann muß man sie absichern. Und was bedeutet es, sie abzusichern? Es heißt, daß alle ein garantiertes Einkommen bekommen müssen. Mit drei grundlegenden Merkmalen: nicht nur ein Einkommen für alle, sondern entsprechend einer Gleichheitsregel innerhalb der Gesellschaft ein gleiches Einkommen. Zweitens soll mit dem garantierten Einkommen nicht nur allen die Subsistenz innerhalb des Prozesses gewährt werden, sondern es muß auf diesem hohen Niveau der Bedürfnisse und Produktivkräfte der größtmöglichen Zahl von Bürgern die Aneignung von Geld ermöglichen. Von diesem Standpunkt aus ist das garantierte Einkommen drittens nicht nur ein Problem der Gestaltung von Arbeit und Produktivität. Es ist ein Problem, das unmittelbar das Steuerwesen und den Staatshaushalt sowie die grundlegenden Elemente der Organisation betrifft: das ist tatsächlich ein revolutionärer Prozeß. Und ich verstehe einfach nicht, wie man sich dem widersetzen kann.

Auszüge aus »EXIL«, Toni Negri, Éditions Mille et une nuits, Paris Februar 1998


Fußnoten:

[1] Christian Marazzi, Il posto dei calzini, Edizioni Casagrande, Bellinzona 1994; Deutsch: Christian Marazzi, Der Stammplatz der Socken. Die linguistische Wende der Ökonomie und ihre Auswirkungen in der Politik, Seismo 1997.

[2] RMI = le revenue minimum d'insertion, Mindesteinkommen zur Wiedereingliederung, beträgt zur Zeit ca. 600 Mark; siehe »Die Arbeitslosenbewegung in Frankreich« in Wildcat-Zirkular Nr. 42/43.


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