Wildcat-Zirkular Nr. 48/49 - März 1999 - S. 2-3 [z48edito.htm]


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Editorial

Sonntag nachmittag - und ich sitze am Rechner und schreibe euch was, statt Fußball spielen zu gehen! Aber was soll's - bei dem Wetter! Fast hätten wir den Drucktermin doch noch verschieben und ein neues Vorwort für die Beilage schreiben müssen. Kritisieren wir darin doch die GenossInnen von Aufheben (siehe Beilage) dafür, daß sie vom »Rückzug der Sozialdemokratie« und dem »Verschwinden des Reformismus« schreiben. Und dann tritt Oskar zurück - freie Bahn für die Schrödersche Arschkriecherei bei den Unternehmern. Aber damit würden wir es uns zu einfach machen. Denn sozialdemokratische Regierungen zeichnen sich ja nicht durch eine »arbeitnehmerfreundliche« Politik aus. Es brauchte Sozialdemokratie, um Kämpfe der ArbeiterInnen in eine Intensivierung der Ausbeutung zu kanalisieren. Sei es die SPD nach dem Ersten Weltkrieg oder die Sozialdemokratie der 70er Jahre. Der Reformismus ist nichts von den ArbeiterInnen Abgetrenntes, er funktioniert nur, solange er an der Begrenztheit ihrer Kämpfe ansetzen kann. Sozialdemokratie läßt sich nicht an bestimmten Inhalten festmachen, sondern am Anspruch der Vertretung und Vermittlung. Deshalb liegen viele linke Vorstellungen so nahe an den Umbauplänen des Kapitals (siehe das Vorwort zur Beilage).

In dieser Diskussion wird das Bike häufig am Auspuff gelenkt - dabei verbrennt man sich übrigens recht schnell die Finger. Die Ergebnisse früherer Klassenkämpfe wie kürzere Arbeitszeit und Bezahlung von Arbeitslosigkeit werden von der Linken als »Errungenschaften« und Ziel der Kämpfe und Forderungen dargestellt. In Zeiten politischer Flaute probiert man es auch mal andersherum - fängt mit einer Forderung an, damit sich ne Bewegung dazugesellt.

Der Artikel mit der langen Überschrift zum Existenzgeld kritisiert das auf zwei Ebenen. Erstens ist der Sozialstaat nicht Ziel der Klassenkämpfe, sondern eine mittels staatlicher Gewalt durchgesetzte Verrechtlichung von Konflikten, die den Zwang zur Arbeit immer wieder neu durchsetzen soll - individuelles Einklagen von Ansprüchen statt kollektiver Kämpfe. Zweitens bedeutet eine Flaute der Klassenkämpfe nicht, daß die ArbeiterInnen zu Lernprozessen nicht fähig sind und eine Vertretung brauchen. In dem Artikel »Die Aktionen von Arbeitslosen und Prekären in Frankreich im Winter 1997/98« von Genossen aus Frankreich wird genau dieses Verharren in einer Vertreterlogik kritisiert. Sie widersprechen den Darstellungen vieler Arbeitsloseninitiativen, in Frankreich hätte es eine breite Bewegung von Arbeitslosen gegeben, die sich vermöge der richtigen Forderung auf ganz Europa ausweiten ließe.

Der Verweis auf die »Bewegungen der Arbeitslosen« in Frankreich und sogar in Deutschland eröffnet auch den Text »Dole Autonomy« der Gruppe Aufheben aus England in der Beilage. Aber daraus zimmern sie nicht eine Parole, sondern stellen die Frage, warum es nicht auch in »ihrem« Land so eine Bewegung gab. Das nehmen sie zum Anlaß, die Erfahrungen der Klasse in GB mit Arbeitslosigkeit und die widerständigen Verhaltensweisen gegen verschiedene Programme zur Verschärfung des Arbeitszwangs unter verschiedenen Regierungen daraufhin zu untersuchen. Warum entwickelt sich dabei kaum Kollektivität? Wo liegen mögliche oder schon sichtbare Bruchpunkte in den Ausbeutungsverhältnissen?

Daß sich solche Bruchpunkte nicht an tariflich geregelten offiziellen Arbeitszeiten festmachen lassen (auch nicht, wenn man »radikal« vor die Arbeitszeitverkürzung schreibt!), zeigt der Artikel zur Arbeitszeitverkürzung. Was uns von den Gewerkschaften als »Jahrzehnt der Arbeitszeitverkürzung« angeboten wird, nämlich die 80er Jahre, war in Wirklichkeit der breite Einstieg in Flexibilisierung und Erhöhung der Arbeitsintensität. Da ist inzwischen viel passiert - die Schmerzgrenze müßte erreicht sein.

Drückt sich das vielleicht schon in Aktionen wie bei Opel Bochum und bei der Bahn aus? Und im Bericht aus Rußland heißt es: »Die Fabrik befindet sich nach wie vor unter der Kontrolle der Arbeiter/innen. Die Stadtverwaltung scheint weder willens noch in der Lage, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Leute reden von Revolution.« Schön wär's, sage ich von hier aus, aber irgendwie muß ja mal was passieren, oder?! Bis denne! h&m, Potsdam


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