18.01.2003 Das Imperium schlägt zurück

Das Imperium schlägt zurück [1]

Maria Turchetto

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Ein postmodernes Genre

Auf der vierten Umschlagseite der französischen Ausgabe von Empire steht: »Ein Versuch, ein neues 'Kommunistisches Manifest' für unsere Zeit zu schreiben«. Die Absicht wird in dem Elzevir bekräftigt (»Elzeviren« nenne ich die Kapitelchen, die in Kursivschrift in den Text eingestreut sind [2]), das dem Thema Politisches Manifest gewidmet ist (S. 76-79). Offen gesagt ist mir nicht ganz klar, warum Empire zum Genre »Manifest« gehören will: in Wirklichkeit stellt es ein neues Genre dar, das unserer Zeit viel mehr entspricht. Die »Manifeste« - ob politische, künstlerische oder philosophische - sind meist zusammenfassend, originell und radikal. Empire ist alles andere, eigentlich geradezu das Gegenteil davon.

Es ist nicht zusammenfassend: Es ist ein »Wälzer« von über 400 Seiten (über 500 in der - für eine Weitsichtige wie mich - besser lesbaren französischen Ausgabe). Absit iniuria verbis [Fern bleibe Unrecht der Rede! d.Ü.]: auch Das Kapital von Marx ist ein »Wälzer«, es ist aber erheblich fundierter und hat Geschichte geschrieben (nicht allein Ideengeschichte), vielleicht mehr als das Kommunistische Manifest. Aber Das Kapital ist ein dichtes und systematisches Werk und deshalb muss es vom Anfang bis zum Ende gelesen werden, unter Beachtung der Reihenfolge, um die Argumentationsstruktur richtig zu erfassen (nicht zufällig hat sich Marx ausführlich mit dem Problem der Darstellung befasst, d.h. mit der Schwierigkeit, eine komplex gegliederte begriffliche Konstruktion in eine Abfolge von Diskursen zu übertragen). Empire ist nicht so: abgesehen vom Umfang ist es ein leichtgewichtiges Kulturprodukt, in dem man mit einer gewissen Freiheit »navigieren« kann.

Empire gleicht vielmehr anderen, jüngeren »Wälzern« aus vorwiegend US-amerikanischer Produktion: ich denke dabei an Werke wie Das Ende der Arbeit von Jeremy Rifkin oder Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch von Francis Fukuyama. Gemeinsam mit diesen Werken ist Empire die (sogar noch deutlich zugespitzte) Hauptthese, die umfangreiche aber leichtgewichtige Argumentation, der populärwissenschaftliche Ton, die überreichlichen, aber selten tiefgehenden Bezüge und vor allem die Eigenschaft, quasi als Hypertext verwendbar zu sein. Die Hauptthese wird rhythmisch immer wieder bekräftigt, so dass sie als leicht wiedererkennbarer (und leicht verwendbarer) Slogan und gleichzeitig als Link funktioniert, der zu verschiedenen argumentativen, relativ autonomen Konstellationen führt. Das Gesamtwerk lässt sich häppchenweise und ohne Reihenfolge lesen [3], ohne dass der zu Grunde liegende Sinn darunter leidet, was es zweifellos leichter konsumierbar macht. Denn so kann man den Gedankengang der Autoren auf verschiedene Art und auf verschiedenen Ebenen aufnehmen.

1. Anhand der Slogans: Allein die Links, die Schlüsselwörter, drücken schon die Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Bewegung« (ich möchte nicht den allzu negativ belasteten Begriff »Ideologie« benutzen) aus. Schlüsselwörter wie Alterität, Autonomie, Begehren, Biomacht, Gemeinschaft, Deterritorialisierung, Disziplin, Desertion, Exodus, Hybridisierung, Immanenz, Imperium, Kommunikation, Kommunismus, Körper, Korruption, Multitude [Menge] usw.. Die Aufzählung ist natürlich unvollständig und ihre - noch dazu alfabetisch geordnete - Zusammenstellung ist nicht mein Verdienst: der Index, mit dem die französische Ausgabe ausgestattet ist, beinhaltet tatsächlich - in einer alles andere als traditionellen Auswahl - Eigennamen und Schlüsselwörter und bietet damit ein zusätzliches Instrument für die Hypertext-Benutzung (eine wahre Sünde, dass der italienische Herausgeber das nicht auch gemacht hat. [der deutsche auch nicht.]).

2. Anhand von Teilargumenten: Das heißt, indem man die argumentative Konstellation herausgreift, die dem eigenen Geschmack, der eigenen Kompetenz oder Bildung am meisten entspricht. Der junge amerikanische radical wird z.B. die Argumentation in Teil II »Passagen der Souveränität« bevorzugen: Dabei handelt es sich um eine leicht lesbare Zusammenfassung (ein wahrer Bignami [Bignami gibt Zusammenfassungen für Prüfungsvorbereitungen raus]) des abendländischen politischen Denkens von Duns Scotus bis zu Malcolm X, die alle Namen enthält, auf die es ankommt (wer es nicht glaubt, braucht nur im Namensverzeichnis nachzuschauen), die der Verfassung der Vereinigten Staaten grundsätzlich apologetisch gegenübersteht. So kann man sich eine revolutionäre Ideologie leisten, ohne zu sehr in Frage zu stellen, was man in der Schule gelernt hat. Jefferson, Lincoln und Wilson können mit anderen Worten neben Marx und Che Guevara in der Heldengalerie bleiben. Der junge europäische Protestierer - der kulturell mehr an die marxistische Tradition gebunden ist - wird umgekehrt in Teil III, »Passagen der Produktion«, eine beruhigende Geschichte der Entwicklung des Kapitalismus finden, eine gerade Linie der gewohnten Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (natürlich in der originalen - inzwischen klassischen - operaistischen Version, nach der die Kämpfe des Proletariats die Entwicklung des Kapitals vorantreiben), eine leicht lesbare Zusammenfassung der Imperialismustheorien, in der die Positionen von Marx, Rosa Luxemburg und Lenin ohne Widersprüche koexistieren und im Grunde nicht mal Kautsky ganz Unrecht hat (aber beruhigt euch: Stalin bleibt trotzdem ein großer Schuft), um dann ganz unbeschwert über Gramsci, die Frankfurter Schule und die Schule der Regulationisten schließlich beim ersehnten postmodernen Postfordismus und dem zweifellos trendigen Nicht-Ort der immateriellen informatischen Welt der Kommunikationsflüsse anzukommen. Wer schließlich etwas Anspruchsvolleres oder Literarischeres will als diese - wirklich ein bisschen allzu lehrhafte - Miniweltgeschichte, der kann sich aus den - eingestreuten, aber durch unterschiedliche Schriftarten hervorgehobenen - Elzeviren bedienen, wo Céline, Conrad und Melville aufgeführt werden oder Philosophen, die noch nicht in den Schulbüchern zu finden sind, wie Foucault, Althusser, Deleuze, Guattari oder Passagen aus der Bibel, von Kirchenvätern, lateinischen und griechischen Klassikern.

3. Durch systematische Lektüre: Das heißt alles von vorn bis hinten, und zwar in dieser Reihenfolge. So bin ich (auf Grund meiner ausgesprochen altertümlichen Bildung) herangegangen, aber davon rate ich ganz offen ab: Es ergeben sich dabei verwirrende Widersprüche. Hinterher wurde mir klar, dass man das postmoderne Genre dieses »amerikanischen Wälzers« nicht so liest: In einem Werk, durch das man sich gut hindurchzappen kann, sollte man nicht um jeden Preis nach Kongruenz suchen, und bei einem Text, dessen Logik nicht über die von Suchmaschinen benötigten Boole'schen Operatoren hinausgeht, sollte man nicht allzu streng auf die Prinzipien der Übereinstimmung, der Nichtwidersprüchlichkeit und des ausgeschlossenen Dritten pochen. Aber da ich diesen Fehler nun mal begangen habe, gehe ich kurz einige der Widersprüche durch, die mir aufgefallen sind.

Eine moderne Geschichte (bzw. zwei oder drei)

Ein erster, man muss sagen, wirklich krasser Widerspruch besteht zwischen dem entschieden postmodernen Stil und der entschieden modernen Geschichtsauffassung, die Empire zu Grunde liegt. Eine teleologische Geschichte mit einer leicht feststellbaren Richtung (bis hin zu Prophezeiungen) und eine dialektische Bewegung des Begriffs im eher hegelschen Sinn: eine Geschichte, die brav über These, Antithese und Synthese auf ihr (Happy) Ende zumarschiert. Eine Geschichte, die für die Guten arbeitet (d.h. für die Befreiung der »Multitude«), in der am Ende die Letzten die Ersten sein werden und den »Armen« [4] die Erde gehören wird. Eine »Die-Geschichte-sind-wir«-Geschichte, wie De Gregori singt, die das »Ergebnis menschlichen Handelns« (S. 249) ist, hervorgebracht von einer starken und bewussten Subjektivität. [5] Ein Puppentheater des Subjekts, des Ursprungs und des Endes, würde Althusser sagen. Eine »große Erzählung«, würde Lyotard sagen, in der Tat eine (gar nicht mal so sehr) säkularisierte Religion. [6] Mit einem Wort: all das, was das postmoderne Denken kritisiert, negiert und verboten hat.

Es heißt, dass Hardt und Negri sich nicht mehr als Bewohner der Postmoderne, sondern als schon weit über diese hinaus geschossene Post-Postmoderne fühlen. Und tatsächlich finden sie die »postmodernen Kritiken an der Moderne« (zu denen sie die postmodernen Theorien im engeren Sinne von Lyotard bis Harvey, die postkolonialistischen Theorien wie Bhaba, die religiösen und ideologischen Fundamentalismen und die neoliberale Weltmarktideologie zählen - vgl. Teil II, Kap. 4, »Symptome des Übergangs«, S. 150 ff.) unzulänglich und im Grunde unnütz, weil sie in der Kritik einer schon überwundenen Logik von Macht »offene Türen einrennen« (S. 151). Und während sich die mutigsten zeitgenössischen Autoren mit einem möglichen Niedergang des Nationalstaats auseinandersetzen, sprechen Hardt und Negri schon wieder vom Niedergang und Fall jenes Imperiums (vgl. Teil IV, »Untergang und Fall des Empire«, S. 361 ff.), das - ihrer Analyse nach - gerade die Stelle des Nationalstaats einnimmt (oder schon eingenommen hat? Es ist schwierig, bei diesen schnellen Streifzügen durch die Zukunft die Orientierung zu behalten). Die Dialektik ist zwar nicht postmodern, aber soweit wir das sagen können, könnte sie jedenfalls post-postmodern sein. Auf jeden Fall machen unsere beiden Autoren großzügigen Gebrauch davon.

Dialektisch im ganz Hegel'schen Sinne wird die Geschichte der abendländischen Macht im Teil II behandelt: Quasi eine Philosophie des Geistes für Nordamerikaner; denn die Entfaltung des Geistes gipfelt hier nicht im preußischen Staat, sondern in der Verfassung der Vereinigten Staaten. Leser, folge mir, und ich erzähle es dir.

These: Humanismus und Renaissance. Eine »Revolution [...] zwischen 1200 und 1600 [...] in Europa über Entfernungen hinweg, die einzig Kaufleute und Armeen überwinden konnten und über die erst die Erfindung der Druckerpresse später hinweghelfen sollte« (S. 84). Besserwisserischer Leser, rümpf nicht die Nase wegen der Daten, leg das Lexikon weg, das die Renaissance in Italien ans Ende des 15. Jahrhunderts datiert: auch bei den rasanten Streifzügen durch die Geschichte verliert man ein bisschen die Orientierung, und dann ist hier auch von einem seltsamen »Humanismus« die Rede, einer »Hybridisierung« - um die Terminologie der Autoren zu benutzen -, die nicht zu dem passt, was sie dir in der Schule beigebracht haben (ich erkläre dir das nachher). In Wahrheit ist diese These gleichzeitig eine Antithese, genauer eine Umkehrung: die Umkehrung der Transzendenz in Immanenz, der schöpferischen Göttlichkeit in produktive Menschlichkeit. [7] Diese These-Antithese ist letztlich der Ausgangspunkt, der uns interessiert, daher werden wir sie ganz einfach als These betrachten. Kannst du mir folgen, unbedarfter Leser, oder bist du gerade etwas verwirrt? Achtung, mit der Dialektik muss man vorsichtig sein.

Also nochmal von vorne. These: Humanismus. Du hast schon begriffen, dass dieser »seltsame Humanismus« nicht aus einer Handvoll Gelehrten besteht, welche die griechischen und lateinischen Klassiker studieren, sondern aus einer »Multitude« von genialen Ungläubigen wie Pico della Mirandola, Erneuerern wie dem Schumpeter'schen Unternehmer und Produktiven wie dem Stachanow'schen Arbeiter. Die »multitudo« besitzt eine unglaubliche Leistungsfähigkeit: klar, dass irgendeiner davon profitieren will. Antithese: Aufklärung. Von Descartes zu Hobbes, Rousseau, Kant und Hegel ... Mein guter Leser, ich sage es dir nochmal: leg das Lexikon weg und hör auf, in den Daten und Definitionen herumzustochern. Falls du es noch nicht verstanden hast: hier wird die Geistesgeschichte und die Geschichte der abendländischen Welt neugeschrieben, daher mach's dir bequem und hab Geduld. Also, die Aufklärer (Descartes, Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel): eine einzige Reihe von Schurken, die an der Errichtung einer weltlichen Transzendentalität arbeiten, welche die arbeitsame Multitudo, die die Immanenz entdeckt hat, unter Kontrolle halten und möglichst ausbeuten soll. Das Resultat dieser Anstrengungen ist der moderne souveräne Staat, das »transzendentale Dispositiv« par excellence, »Gott auf Erden« nach Hobbes' Definition (vgl. S. 92 ff).

Jetzt pass auf, lieber Leser: Wir müssen einen Sprung machen und ein bisschen laufen. Von der Geschichte der Philosophie kommen wir jetzt zur Geschichte der politischen Institutionen (Sprung), indem wir die Entwicklung der europäischen Staaten und die mit eben dieser Geschichte identische Konstruktion der Moderne verfolgen (Lauf): von den großen Monarchien des 18. Jahrhunderts über die Erfindung des »Volkes« im 19. Jahrhundert zum Nationalstaat, der gern auf dem Konsens beruhen würde, aber zu den totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts degeneriert, womit gezeigt wird, dass die Antithese der Macht unfähig ist, die These der Multitudo zu bändigen. Was tun? Hol erst mal Luft.

Man weiß, dass die Vernunft (besonders die dialektische) listenreich ist und in Wirklichkeit schon dafür gesorgt hat, dass auf der anderen Seite des Ozeans eine Negation der Negation, oder vielmehr eine Alternative zur Antithese entsteht: das Imperium. Der Exodus der Siedler nach Amerika - eine Multitude, die sich der Moderne entzieht - führt zu »einer Vorstellung, die den revolutionären Humanismus der Renaissance wieder entdeckt und ihn als eine politische und konstitutionelle Wissenschaft vervollkommnet« (S. 173); sie setzt damit die Prämissen für eine ganz andere Form von Souveränität als der in Europa vorherrschenden. Die amerikanische Revolution ist (im Unterschied zur französischen) eine authentische Revolution und die Vereinigten Staaten (eine Föderation, nicht zu vergessen!) sind von Anfang an - von der Unabhängigkeitserklärung an - kein Nationalstaat, sondern ein Imperium; mehr noch: ein Imperium des Guten, oder zumindest ein Imperium des weniger Schlechten.

Auf jeden Fall sind die Modalitäten der Machtausübung in den amerikanischen States anders als die in den europäischen Staaten üblichen. Nehmen wir zum Beispiel die Art und Weise, wie sich die Europäer zu den Ureinwohnern in den Kolonien verhalten: eine Modalität die auf den kulturellen Dualismen Innen/Außen, Ich/Anderer basiert (vgl. das Kapitel 3 des Teils II, »Die Dialektik kolonialer Souveränität«, S. 127 ff.) [8], Quellen des modernen Rassismus, dessen Grausamkeit wir nur zu gut kennen. Nehmen wir hingegen die Art und Weise, wie sich die amerikanischen Siedler zu den Rothäuten verhalten: Sie betrachten sie nicht als ein kulturell Anderes, sondern einfach als ein natürliches Hindernis, das beseitigt werden muss, genauso wie sie Bäume fällen und Felsen aus dem Weg räumen, um Platz für Anbauflächen zu schaffen: »So wie das Land von Bäumen und Gestein befreit werden muss, um es landwirtschaftlich nutzen zu können, so muss das Terrain auch von den Ureinwohnern 'gesäubert' werden. So wie die Siedler sich gegen die strengen Winter schützen müssen, so müssen sie sich auch bewaffnet gegen die indigene Bevölkerung zur Wehr setzen. Die amerikanischen Ureinwohner waren gemäß dieser Logik nur ein besonders widerspenstiger Teil der Natur.« (S. 181 f.) Das ist doch netter, findest du nicht?

Ach Gott, einverstanden, es war nicht alles eitel Sonnenschein, da war auch noch die Negerfrage, nicht sehr erbaulich, und gewisse Beziehungen mit Lateinamerika waren so aggressiv, dass sie eher »imperialistisch« als authentisch »imperial« wirkten, und dann der Vietnam-Krieg ... Sagen wir mal so: auch die Alternative zur Antithese auf der anderen Seite des Ozeans ist zuinnerst antithetisch, dialektisch, sie hat eine gute Seele und eine böse Seele. Die böse Seele tendiert dazu, den europäischen imperialistischen Nationalstaat nachzumachen: das ist zum Beispiel die Versuchung Theodore Roosevelts, der »eine imperialistische Ideologie europäischer Art« propagierte (S. 186). Die gute Seele ist die von Woodrow Wilson, der im Gegensatz dazu »für eine internationalistische Friedensideologie« plädierte (ebd.). Und letztlich zählt nur, dass die gute authentisch demokratische Seele siegt (gestern hatte Toqueville das geahnt, heute erkennt es Hannah Arendt, vgl. S. 175): diese verkörpert eine Souveränität, die »nicht in einer Regulierung der Menge« besteht, sondern »aus den produktiven Synergien der Menge« entsteht (S. 176). Wenn es eine Kontrolle gibt, dann gehorcht sie nicht einem Prinzip der Repression, sondern einem »Prinzip der Expansion«, nicht unähnlich dem, welches das imperiale Rom praktizierte: Während der europäische Nationalstaat im Konfliktfall die Grenze befestigt und damit die Unterscheidungen Innen/Außen, Ich/Anderer verschärft, verschiebt das amerikanische Imperium sie, in dem es das Außen verinnerlicht und das Andere einschließt (vgl. S. 179-184).

Und da wären wir auch schon bei der Synthese: Das gegenwärtige globale Imperium, das »sich unmittelbar vor unseren Augen materialisiert« (S. 9). Da es keine Grenzen mehr für den ökonomischen und kulturellen Austausch, keine Unterscheidung mehr zwischen Innen und Außen und dank der Informatisierung und der Kommunikation im Netz keine räumliche Fesseln mehr gibt, ist das Imperium ein Nicht-Ort (vgl. S. 200). Die Vereinigten Staaten bilden nicht das Zentrum (S. 12), einfach weil ein Nicht-Ort kein Zentrum hat, und sie sind auch keine globale Führungsmacht, weil »dazu heute kein Nationalstaat in der Lage« ist (ebd.). »Die heutige Idee des Empire ist aufgrund der globalen Expansion des US-amerikanischen Verfassungsprojekts entstanden« (S. 194) und deswegen haben sie - zugegebenermaßen - eine »Sonderstellung« (S. 193). Aber sie sind selbst global eingebunden, subsumiert, ja aufgegangen in einer umfassenderen Logik. Das Imperium ist die Vollendung von Wilsons internationalistischem und pazifistischem Projekt, die Krönung und das Ende der Geschichte, der Endpunkt der langen (circa tausendjährigen, wenn man den Humanismus klugerweise ein kleines bisschen vordatiert) Reise durch die These (Humanismus), die Antithese (europäischer Nationalstaat) und die Alternative zur Antithese (amerikanisches Imperium) hin zur höchsten Synthese des Imperiums sans phrase, in der wir - gemäß den guten Regeln der Dialektik - die endlich befreite, glückliche und zufriedene These wiederfinden.

Was hast du, Leser? Ist Dir schlecht geworden? Glaubst du nicht, dass das Imperium »internationalistisch und pazifistisch« ist? Aber schau mal, Empire wurde 2000 veröffentlicht, als der Jugoslawien-Krieg schon zu Ende war und der Afghanistan-Krieg noch nicht angefangen hatte. Du sagst, es waren aber schon einige andere Konflikte vorhersehbar? Ach was, die Propheten müssen uns sagen, wie die Universal-Geschichte enden wird, sie können sich doch nicht in diesen Details verlieren. Sag mir die Wahrheit, du Schelm von Leser: die alte (pardon, moderne) Kategorie »Imperialismus« gefiel dir besser! Los, komm her, ich will dir noch eine andere Geschichte erzählen.

»Und hier die zweite Geschichte, die ich euch erzählen will ...« [9]

Mein Publikum von (fünf, nein vier: einer ist schon abgehauen) Altmarxisten wird sich darüberhinaus fragen, was in dieser Geschichte aus dem Kapitalismus geworden ist. Tja, in der ersten Geschichte gibt es ihn nicht, er wird nur in einem lapidaren Hinweis erwähnt: »Die europäische Moderne ist untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden« (S. 100) Um den Kapitalismus geht es in einer anderen Geschichte.

Auch die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte, eine »große Erzählung«. In diesem Fall ist weniger die Hegelsche Dialektik am Werk als vielmehr die »Dialektik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen«, von der die marxistische Tradition so lange gezehrt hat. Bekanntlich wurde auf der Basis dieser Dialektik ein evolutionäres Modell von Entwicklungsstadien errichtet: für die Menschheit als ganzes (die eine regelrechte Evolution vom phantomhaften »Urkommunismus« über die antike, feudale und kapitalistische Produktionsweise durchmachen muss, um dann eines Tages im eigentlichen Kommunismus anzukommen und so am Ende den Ursprung in entfalteter Form wiederzufinden) und unabhängig davon betrachtet für die kapitalistische Produktionsweise (für die wir hingegen ein biologistisches Schema zur Verfügung haben, in welchem die verschiedenen Stadien sehr der Geburt, dem Aufwachsen, der Reife, dem Altern und dem Tod eines lebenden Organismus ähneln). In Teil III von Empire befinden wir uns in dieser zweiten Dimension: Jetzt interessieren uns mehr die Etappen der Entwicklung des Kapitalismus als die Geschichte der Menschheit.

In Empire wird nichts (oder wenig [10]) weggeworfen, deshalb geht es vor allem darum, das einzubinden, was die Marxisten schon analysiert haben. Sie haben uns gesagt, dass der Kapitalismus vom Konkurrenzstadium zum monopolistischen Stadium (eine schon von Marx vorhergesehene Tendenz) und damit zum Imperialismus übergeht. »Würde eine möglichst kurze Definition des Imperialismus verlangt, so müßte man sagen, daß der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist«, [11] sagte Lenin, der sich damit die Analyse Hilferdings zu eigen machte, aber einige Ideen verwarf, die das Imperium vorwegnahmen, wie die Idee von der Weltbank und den Kautsky'schen »Ultraimperialismus«. Zu hastig? Nein, wie wir sehen werden, gibt es eine andere Erklärung.

Unter den Imperialismustheoretikern bevorzugen Hardt und Negri jedenfalls Rosa Luxemburg. Die bekannte Unterkonsumtionstheorie wird aufs Skelett reduziert (niedrige Löhne bedeuten niedrigen Konsum, Anwachsen der organischen Zusammensetzung mit der Konsequenz der Verringerung des variablen Kapitals, also »der den Arbeitern gezahlte Lohn« (S. 235), was noch niedrigeren Konsum bedeutet: »Die Verwertung des Kapitals wird also durch das Problem der 'engen Basis' der Konsumkräfte blockiert« [gemeint ist die Kaufkraft] (ebd.) und Marx selbst zugeschrieben (vgl. ebd.) [12] Sie wird zum Hauptwiderspruch des Kapitalismus erhoben, auf den die anderen »Grenzen« und »Barrieren« des Kapitals zurückgeführt werden können. [13] Auf jeden Fall eignet sich der Luxemburg'sche Ansatz gut, die Tendenz des Kapitalismus zur Expansion, zur »Verwandlung in Kapital der nichtkapitalistischen Umgebung« (S. 238) zu belegen und darzulegen, wie »im Prozess der Kapitalisierung [...] das Außen zum Innen« wird (ebd.. Aber war nicht diese »Verinnerlichung des Außen« ein besonderer Charakterzug des amerikanischen Imperiums, ja eben das, was es vom europäischen Imperialismus unterschied? Vergessen wir's, das ist eine andere Geschichte, und es ist nicht gesagt, dass sie mit der vorherigen zusammen passen muss).

Angetrieben von seinen inneren Widersprüchen ... Nein, angetrieben von den Kämpfen des Proletariats ... Keine Angst, um hier Ordnung hineinzubringen, haben wir die Dialektik, stimmt's? Seht mal, wie man das macht: »die kapitalistische Krise [ist] nicht eine simple Funktion der Kapitaldynamik selbst, sondern ihre Ursache ist unmittelbar der proletarische Kampf« (S. 272). Hoppla. [14] Mit welchem Antrieb auch immer erschöpft sich auch die imperialistische Phase und der Kapitalismus geht in ein neues Entwicklungsstadium über. Das Modell dafür stellt der Roosevelt'sche New Deal dar, der nach dem Zweiten Weltkrieg von den Vereinigten Staaten in alle westlichen Staaten exportiert wird. Seine Kennzeichen sind die Übernahme der Regulierung der Wirtschaft durch den Staat, die keynesianische Politik und der Wohlfahrtsstaat. Wie nennt sich nun dieses neue Entwicklungsstadium?

»Staatsmonopolistischer Kapitalismus!«, werden meine altmarxistischen Leser sofort sagen. »Fordismus!« würde ein zufällig vorbeikommender Anhänger der Regulationsschule sagen. Falsch! Es nennt sich Imperium. Siehst du! Wir sind auf einem andern Weg gekommen, aber angekommen sind wir trotzdem: So wie einst alle Wege nach Rom führten, führen sie heute zum Imperium.

Und wir entdecken, dass Lenin uns betrogen hat, als er den Imperialismus als »höchstes Stadium« (d.h. letztes) des Kapitalismus definierte. Bewusst betrogen, denn er wusste wohl (er kannte schließlich die Ultraimperialismus-These, stimmt's?), dass die Geschichte angesichts der schlimmsten Krise, die in den Ersten Weltkrieg mündete, zwei Wege hätte einschlagen können: die Revolution oder das Imperium. Er hat die Möglichkeit des Auswegs Imperium geleugnet, weil er um jeden Preis die Revolution verwirklichen wollte, sofort, bevor der Kapitalismus seine volle Reife erreicht hatte (vgl. S. 244 ff).

Nachdem die Revolution gescheitert ist, treffen wir wieder auf das Imperium, das wirklich das »höchste Stadium« ist, und zwar aus zwei Gründen: Erstens weil in diesem Stadium die Fabrikdisziplin auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt wird (ja, das ist die alte operaistische These, super, ihr habt sie wiedererkannt): das »Modell des New Deal [...] brachte die höchste Form einer Disziplinarregierung hervor« (S. 254). »Eine Disziplinargesellschaft ist eine Fabrikgesellschaft« (S. 255). Zweitens weil infolge der Entkolonisierungsprozesse ein Übergang von der formellen Subsumtion der Welt unter das Kapital, welche den alten Imperialismus der »extensiven Expansion« charakterisierte, zur reellen Subsumtion der Welt unter das Kapital, welches heute eine »intensive Expansion« praktiziert, stattfand (vgl. S. 266 ff.).

»Am Kulminationspunkt des mitreißenden Finales« [15]

Es war gut, mein lieber altmarxistischer Leser, der du inzwischen als einziger übrig geblieben bist, um das Ende dieser Geschichte (d.h. letztlich das Ende aller Geschichten [16] oder der Geschichte tout court) anzuhören, es war wirklich gut, dass das Projekt Lenins gescheitert ist und dass das Imperium sich schließlich entwickeln und ausbreiten konnte, ohne noch Grenzen auf dieser Erde zu haben. Wie sagt der Dichter: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Vor allem wird uns das Imperium vor der ökologischen Katastrophe retten: die »reelle Subsumtion« der Welt, das heißt ihre intensive Ausbeutung, fällt genau mit der Ära des Postindustriellen zusammen, die, wie du weißt, sauber und small and beautiful ist. »Das scheint die wahre Antwort des Kapitals auf die Drohung der 'ökologischen Katastrophe' zu sein, eine Antwort, die in die Zukunft blickt« (S. 283).

Vor allem (halt durch, wir sind da!) hat das Imperium das antagonistische Subjekt par excellence hervorgebracht, den fähigsten, kreativsten, unglaublichsten Kämpfer, den es jemals zu sehen gab: den gesellschaftlichen Arbeiter, der an die Stelle der früheren Figuren des Facharbeiters und des Massenarbeiters tritt. [17] Wenn der Facharbeiter (der der »Phase industrieller Produktion« entspricht, »die der vollen Etablierung fordistischer und tayloristischer Regimes voranging«, S. 415) die produktive Arbeit entfesselte, wenn der Massenarbeiter (welcher »der Einrichtung fordistischer und tayloristischer Regimes korrespondiert«, S. 416) es tatsächlich wagte, »eine wirkliche Alternative zum System kapitalistischer Macht zu schaffen« (ebd.), so kann schließlich der gesellschaftliche Arbeiter (welcher der Phase der »immateriellen Arbeit« entspricht) »sich als Selbstverwertung des Menschen« (ebd.) ausdrücken: »eine Organisation produktiver und politischer Macht in Gestalt einer biopolitischen Einheit, die von der Menge koordiniert, organisiert und gelenkt wird - sozusagen absolute Demokratie in Aktion« (ebd.).

Wow! Wo? Wann? Na hier, jetzt, sofort! Das Imperium wird fallen, es steht vor dem Fall, es fällt, es ist schon gefallen! Und was braucht es dazu? Im Grunde ist das nur eine Frage der mentalen Einstellung: es reicht, wie es Franz von Assisi gemacht hat (der Protagonist des letzten Elzevirs, Militant, S. 418-420): die Lebensfreude dem Elend der Macht entgegenzusetzen. Zittert, ihr Mächtigen: ein kleines Lächeln wird euch begraben. Und ihr, Multituden, gehet hin in Frieden: der »Wälzer« ist zu Ende.

 

Das Imperium geht weiter ...

Wenn ihr noch ein bisschen Zeit und Geduld habt, bleibt trotzdem noch. Es gibt noch einige Beobachtungen zu machen, einige andere Widersprüche aufzuzeigen.

Imperium, Staat und Markt

Negri war schon immer ein Optimist und ein Träumer, ja: ein optimistischer Träumer : Wenn er von einem Monster träumt (gestern der »Planstaat«, heute das »Imperium«), dann träumt er, dass es tot ist; wenn er von einem Helden träumt (gestern der »gesellschaftliche Arbeiter«, heute die »Multitude«), dann träumt er, dass er lebendig und siegreich ist. Träumen ist schön, das bestreite ich nicht, an Halluzinationen leiden eher weniger. Und ein gefallenes Imperium und einen triumphierenden Kommunismus zu sehen, wo eigentlich ein aggressiver Kapitalismus, ein fast permanenter Kriegszustand und eine besiegte Arbeiterbewegung sind, kommt mir weniger wie eine schöne Utopie vor, sondern offengestanden eher wie eine Halluzination. Ich will allerdings nicht über die träumerischen oder halluzinatorischen Aspekte von Empire diskutieren, die im Grunde die originellere Seite dieses Werkes darstellen und vielleicht etwas für Fantasy-Fans ist. Ich würde lieber kurz bei den wenigen analytischen Werkzeugen bleiben, die Empire vorschlägt und die man sogar ernst nehmen könnte, die mir aber unangebracht und irreführend vorkommen. Die Kategorie »Imperium« gegen die Kategorie »Imperialismus« ins Spiel zu bringen, scheint mir alles in allem letztlich zum Scheitern verurteilt: weil er alles Neue liebt - und damit das alte marxistische Laster wiederholt, jede Veränderung als ein höheres Stadium zu sehen (in der Hoffnung, es möge endlich das höchste sein) - macht er sich allzu schnell frei von Kategorien, die vielleicht helfen, die heutige Realität zu verstehen. Und auch die Idee vom Niedergang des Nationalstaats - die Hardt und Negri ja nicht als einzige vertreten: die Debatte über die Globalisierung lebt seit Jahren davon [18] - könnte ein bisschen mehr Nachdenken vertragen.

Das Imperium von Hardt und Negri, diese neue Form politischer Macht, die angeblich den Platz des Staates eingenommen hat, ist, vorsichtig formuliert, schwer zu greifen (ist sie Ende des 18. Jahrhunderts mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung entstanden oder im 20. Jahrhundert mit dem New Deal, oder materialisiert sie sich vielmehr unter unseren Augen im 3. Jahrtausend? Praktiziert sie die authentische Demokratie, die fordistische »Disziplin« oder die postfordistische »Kontrolle«?); immerhin wird gegen Ende des Bandes eine kleine Anstrengung unternommen, wenigstens eine Vorstellung von seiner Struktur zu geben, indem - wenigstens als Metapher - auf die Beschreibung des römischen Reiches von Polybius zurückgegriffen wird. »Für Polybius stellte das Imperium Romanum den Höhepunkt der politischen Entwicklungsgeschichte dar, insofern es die drei 'guten' Formen der Macht vereinte: Monarchie, Aristokratie und Demokratie, verkörpert in der Person des Imperators, im Senat und in den Komitien des Volks« (S. 325). Analog dazu haben wir heute einen Imperator, d.h. »eine Supermacht, die USA, die sich im Weltmaßstab den Einsatz von Gewalt vorbehält« (S. 320), einen Senat, bzw. »eine Gruppe von Nationalstaaten, von der die grundlegenden weltweiten monetären Institutionen kontrolliert werden«, und die »damit die Möglichkeit [haben], die internationalen Wechselkurse zu regulieren« (ebd.), unterstützt durch »transnationale kaptialistische Unternehmen« (S. 321), deren Interessen sie vertreten; und Komitien, d.h. »Gruppen, die innerhalb der globalen Machtanordnung populare Interessen repräsentieren«, denn »die Menge ist in die Strukturen der globalen Macht nicht direkt zu inkorporieren, sie muss vielmehr die Filter von Repräsentationsmechanismen passieren« (S. 321 f.). Diese Vermittlungsapparate sind recht unterschiedlich: Nationalstaaten, Medien, religiöse Organisationen, NGOs (letztere seien angesichts ihrer übernationalen Dimension besonders wichtig, vgl. S. 323 f.).

Eine suggestive (wenn auch entschieden vormoderne, wenn wir Foucault glauben sollen [19]) Rekonstruktion, die aber in die Irre führt, vor allem wegen der Trennung zwischen ökonomischer und politisch-militärischer Macht, die sie suggeriert. Dies ist ein böser Schritt rückwärts im Vergleich zu den alten (aber wenigstens modernen) Imperialismustheorien. Der Begriff »Imperialismus«, der zwischen 1800 und 1900 geprägt wurde, bezeichnete nämlich hauptsächlich (und nicht nur bei marxistischen Autoren) die Verbindung zwischen der von mächtigen Staaten, den damaligen »Großmächten« praktizierten Politik der militärischen Aggression einerseits und wirtschaftlichen Prozessen wie dem Kapitalexport, der Herausbildung des Finanzkapitals, dem Auftreten der großen internationalen Monopole. Der Begriff »Imperium«, wie ihn Hardt und Negri einführen, zerreißt genau diese Verbindung. In ihrer Sichtweise wird die Globalisierung des Marktes zu einem rein ökonomischen Prozess, der insofern auch im wesentlichen »friedlich« ist (klar impliziert er Ausbeutung und ein bisschen gesunde Konkurrenz, aber er hat nichts mit im eigentlichen Sinne militärischen Aspekten zu tun) und in dem es dank der supranationalen Lenkung der Währungsinstrumente keine innerkapitalistischen Konflikte gibt. [20] Umgekehrt hat dann der Krieg außerökonomische Gründe, er ist eine reine Machtdemonstration seitens seiner Majestät des Kaisers, der USA, oder er wird in Wirklichkeit zum Schutz von universellen Werten geführt, die einem »tertium super partes« [über den Parteien stehender Dritter (in der deutschen Ausgabe fälschlich als »tertium inter pares«, wiedergegeben)] anvertraut sind (vgl. S. 23 ff.), und obwohl die Börsen extrem empfindlich auf seine Ergebnisse reagieren, hat er nichts mit den Interessen des Marktes und des Kapitalismus zu tun.

Auch wenn es alter, ganz alter »Ökonomismus« ist: ist es so falsch, ökonomische Fragen hinter den letzten Kriegen zu sehen, die die USA geführt haben? Ölfragen hinter dem Golfkrieg; die Notwendigkeit, sich die Kontrolle in einer ökonomisch strategischen Region zu sichern, hinter dem jetzigen Einsatz in Afghanistan; der Wille, starke Signale an mögliche Konkurrenten auszusenden (Deutschland, verstärkt von der europäischen Region, mit seinem Schielen auf die Märkte der ehemaligen sozialistischen Länder), hinter dem letzten Jugoslawien-Krieg. Sicher, es gibt auch eine relativ (aber nur relativ) eigenständige »Macht«-Logik: aber auch diese ist eine Teil -Logik, die sich in einem Bild - um Foucault zu zitieren, der unseren beiden Autoren so gefällt - »staatlicher Konkurrenz« erklärt, in jener »unbestimmten Zeit, in der die Staaten gegeneinander kämpfen müssen«, in der die »Staatsräson« herrscht. [21] Auch wenn es nicht nur ökonomische Gründe gibt, ist es in jedem Fall sicher nicht falsch zu sagen, dass sie auch im Spiel sind.

Im übrigen ist der Krieg auch ein enormes Geschäft: Er nährt einen mächtigen Sektor der Industrie (der äußerst materiell ist und bei dem enorm viel für andere materielle und nicht-materielle Sektoren abfällt). Und die USA üben auch eine ökonomische Hegemonie aus: Wenn von Krise, Rezession und schlechter Gesundheit der amerikanischen Wirtschaft die Rede ist und dabei die schlechten Daten beim Wachstum oder der Verschuldung der USA betont werden, wird nur allzu oft am Ende behauptet, die USA wären den anderen starken Ländern rein militärisch überlegen. Meines Erachtens haben die USA nach der Krise der 70er und den Ängsten der 80er Jahre auf breiter Front auch eine wirtschaftliche Überlegenheit gefestigt: dank der Kriegsindustrie (die anders als der welfare das amerikanische Wirtschaftswachstum geradezu vervielfacht), dank all dem, was für die zivile Industrie dabei abfällt (Transport, Chemie, Komponentenbau, Hardware, Software u.v.m.), dank der wissenschaftlichen Forschung (zum großen Teil durch die Forschung zu militärischen Zwecken vorangetrieben) und nicht zuletzt dank einem ausgeprägten tarifären und nicht-tarifären Protektionismus, einer Währungspolitik pro domo sua [zum Nutzen des eigenen Hauses] und Interventionen zur Stützung von in die Krise geratenen Unternehmen: Für ein Land, das laut Hardt und Negri nie ein Nationalstaat war, ist das allerdings eine ganz schön nationalstaatliche Politik! Angesichts des vielbeschworenen Neoliberalismus scheint das Rezept der USA eindeutig »mehr Markt und mehr Staat« zu heißen.

Humanismus

Zum Schluss muss ich noch ein paar Bemerkungen zur Kategorie »Humanismus« loswerden, die die Autoren bemühen und die in ihrer Argumentation eine so zentrale Rolle spielt. Wie ich schon sagte, ein »seltsamer Humanismus«: seltsam, weil er aus einer Hybridisierung (oder einer Ansteckung? einer Mischung? einer Korrumpierung? all diese Dinge sind jedenfalls sehr, sehr imperial und postmodern) zwischen der angelsächsischen und der italienischen Kultur der Autoren entstanden ist. Für einen Angelsachsen bedeutet Humanismus in erster Linie »a system of belief and standards concerned with the needs of people, and not with religious ideas«, d.h. Laizismus oder Atheismus und erst in zweiter Linie »the study in the Renaissance of the ideas of the ancient Greeks and Romans« (Longman, Dictionary of English Language and Culture). Für einen Italiener ist der Humanismus ein glorreiches Kapitel der vaterländischen Geschichte: Er ist die »geistige Bewegung, die die Geburt und die Entwicklung der Renaissance (zweite Hälfte des 14. bis 16. Jahrhundert) begleitete« (Garzanti, Nuova enciclopedia universale), mit Petrarca, Alberti, Ficino und Pico della Mirandola. Damit wir wissen, was gemeint ist, werden wir ersteres die »philosophische Bedeutung« und letzteres die »historische Bedeutung« des Begriffs Humanismus nennen. In der Praxis besteht die Hybridisierung zwischen beiden in der Behauptung, dass Petrarca, Alberti, Ficino und Pico della Mirandola (gemeinsam mit anderen früheren oder späteren Autoren, die aber alle für philosophisch unverzichtbar gehalten werden, vor allem natürlich Spinoza) nicht nur Ciceros studia humanitatis, sondern den Atheismus wiederentdeckt hätten. Genauer gesagt, dass wir diesen Autoren (die im übrigen für einen Ausdruck der »Multitude« gehalten werden, der wahren Schöpferin dieser Kulturrevolution) die Umkehrung der Transzendenz in Immanenz, die Ersetzung Gottes durch den Menschen im Vorrecht der Schöpfung verdanken.

In Wahrheit hat die (angelsächsische) »philosophische Bedeutung« des Begriffs einen Vorläufer im 19. Jahrhundert (und in Europa: ich entschuldige mich dafür bei Hardt, aber es ist unmöglich, auf dem Feld der Geschichte der abendländischen Philosophie nicht eurozentrisch zu sein): Ich denke vor allem an Feuerbach, der eben den Begriff »Humanismus« zur Charakterisierung seiner antiteleologischen und antispekulativen Position benutzt. Und Marx kritisierte bekanntlich in den Thesen über Feuerbach und in der Deutschen Ideologie heftig den Feuerbachschen Humanismus, da er sich auf eine überhistorische Vorstellung vom Menschen gründe. Im 20. Jahrhundert ist dann wiederum bei Sartre von Humanismus die Rede (Der Existenzialismus ist ein Humanismus); im 20. Jahrhundert ist vor allem sehr maßgeblich von Antihumanismus die Rede: von Heideggers Brief über den Humanismus bis zu den »antihumanistischen« Positionen Althussers (beispielhaft - und sehr explizit - ist der Schlussteil des Essays »Ist es leicht, in der Philosophie ein Marxist zu sein?«) und Foucaults (ich denke vor allem an das außergewöhnliche Kapitel »Der Mensch und seine Doppel« in Die Ordnung der Dinge).

Ach du Schreck! Die Lieblingsautoren von Hardt und Negri - Marx, Althusser, Foucault - sind Kritiker des philosophischen Humanismus! Was tun? Das Elzevir Humanismus nach dem Tod des Menschen (S. 104-106) versucht den Kuchen zu essen (Humanismus) und gleichzeitig zu behalten (Althusser und besonders Foucault): Mit Wortspielen und dialektischen Schlägen und der Behauptung, der Foucault der letzten Werke (die über die »Sorge um das Selbst«) sei in Wirklichkeit ein Humanist, ja sogar einer der besten Anhänger des größten Humanisten von allen, nämlich Spinoza, was aber nicht im Widerspruch zu den früheren Werken stehe, sondern einen interessanten »antihumanistischen (oder posthumanen) Humanismus« darstelle (S. 105), völlig auf einer Linie mit dem Projekt der Renaissance. Armer Foucault, verquirlt in der Dialektik und in einer Geschichte mit lauter Grossbuchstaben gelandet - ausgerechnet er!

In Wirklichkeit ist der Widerspruch diesmal unheilbar, und da hilft auch keine Dialektik: erstens weil der von Empire vorgebrachte »philosophische Humanismus« genau der ist, den Marx, Althusser und Foucault kritisiert haben; zweitens weil es keine Synthesen gibt, die mächtig genug sind, um unvereinbare theoretische Ansätze zusammenzuhalten: Der humanistische Historizismus, zu dem sich Hardt und Negri bekennen, kann nur ein Realrepugnanz -Verhältnis [realer, in den Sachen selbst liegender Widerstreit im Unterschied zum nur logischen in Begriffen] zum radikalen Antihistorizismus von Althusser haben, zur Kritik am »humanistischen Marxismus«, die dieser Autor ständig vorgebracht hat, zur systematischen Demontage der »Humanwissenschaften«, der Foucault ein ganzes Leben voller Studien gewidmet hat. Das ist kein kleines Problem, denn unter den 126 Autoren (ich habe sie gezählt), die in Empire zitiert werden, sind Althusser und Foucault diejenigen, die sozusagen wirklich präsent sind: die wichtig sind, ernst genommen, benutzt werden. Ihnen werden ganze Elzeviren gewidmet, ihre Kategorien werden breit aufgegriffen, angewandt, weiterverarbeitet.

Althusser ist vielleicht die kleinere auctoritas der beiden. Die wichtigste Lehre, die Hardt und Negri aus ihm ziehen, besteht darin, in Spinoza, Macchiavelli und Marx die höchsten Punkte des authentisch demokratischen abendländischen Denkens zu erkennen. Eine derartige, natürlich begrenzte, Anleihe erlaubt es vielleicht, den Mantel des Schweigens über grundlegende Aspekte des althusserschen Ansatzes auszubreiten, die sich nicht so leicht in ein Sammelsurium wie Empire integrieren lassen, auch wenn dieses so wirkt, als könne es praktisch alles verdauen. Vor allem eben die Kritik am »humanistischen Marxismus«, die vollkommen auf die Anlage von Empire zutrifft. Hören wir Althusser: »In Frage steht [...] der theoretische Anspruch einer humanistischen Konzeption, die Gesellschaft und die Geschichte ausgehend vom menschlichen Wesen, vom freien menschlichen Subjekt, dem Subjekt der Bedürfnisse, der Arbeit, des Begehrens, dem Subjekt des moralischen und politischen Handelns zu erklären. Ich behaupte, dass Marx die Wissenschaft von der Geschichte nur begründen und das Kapital nur schreiben konnte, weil er mit dem theoretischen Anspruch jedes derartigen Humanismus gebrochen hat«. [22] Das scheint gegen Empire geschrieben zu sein. Zweitens die radikale Kritik an jeder »Geschichtsphilosophie« und besonders an jener, die die marxistische Tradition »mit einer gewissen Anzahl an Formeln von Marx und Engels« verpackt hat, »jener umgekehrte Hegelianismus, der eine unmögliche und undenkbare Geschichtsphilosophie nährt [...], die schlechte Philosophie der unausweichlichen Revolution als Ende der Zeit, als Erfüllung des menschlichen Wesens usw« [23]: Das passt wie angegossen auf die Geschichten, die Hardt und Negri erzählen. Drittens die Kritik am Subjektivismus: wie bringt man eine als »Prozess ohne Subjekt« gedachte kapitalistische Dynamik in Einklang mit der ganz und gar operaistischen Idee von der Arbeitersubjektivität, die den Kapitalismus und seine Verwandlungen vorantreibt und formt? Wie bringt man die These vom »aleatorischen Materialismus« der letzten Schriften von Althusser in Einklang mit der »Geschichte als Produkt menschlichen Handelns«, die außerdem dermaßen kohärent und vorhersehbar ist, dass wir über ihr Ende nachdenken können, eine monströse Geschichte, die gleichzeitig von Gesetzen regiert und von bewussten Subjektivitäten bewegt wird, die wir in Empire am Werke finden.

Mit Foucault läuft es noch schlechter, denn die Anleihe ist offensichtlicher. Von Foucault werden die Begriffe »Biopolitik« und »Biomacht« übernommen: Negri liebäugelt schon seit ein paar Jahren damit und macht weiterhin unsachgemäßen Gebrauch davon. »Das imperiale Kommando wird nicht mehr durch die Disziplinarmechanismen des modernen Staats ausgeübt, sondern folgt den Modalitäten biopolitischer Kontrolle«, lesen wir in Empire (S. 352). Und weiter: »Das Empire stellt so die paradigmatische Form von Biomacht dar« (S. 13). Schade, dass bei Foucault die »Biopolitik« gerade die besondere Machttechnik bezeichnet, die im Nationalstaat benutzt wird, die »Regierungskunst«, die an das Aufkommen der »Staatsräson« gebunden ist; [24] und schade, dass sich für Foucault die »Biomacht« gerade dadurch auszeichnet, dass sie disziplinarisch ausgeübt wird. [25] Aber wie kann man dann einerseits Foucault treu bleiben und andererseits die Biopolitik dem Imperium (also nicht dem Auftreten, sondern dem Verschwinden des Nationalstaats) zuschreiben und ihren disziplinarischen Charakter leugnen?

Verzweifelt nicht, unsere Akrobaten haben keine Angst vor gar nichts, nicht mal vor Widersprüchen. Wir haben schon gesehen, dass sie sich auf die von Marx nicht geschriebenen Bände des Kapital berufen: Foucault lassen sie eine ähnliche Behandlung zukommen und schreiben ihm eine Unterscheidung zwischen Disziplinargesellschaft und Kontrollgesellschaft zu: »Die Arbeiten von Michel Foucault haben in vielerlei Hinsicht eine solche Untersuchung über das materielle Funktionieren imperialer Herrschaft vorbereitet. Vor allem erlaubt uns Foucaults Werk den historischen, epochalen Übergang zu verstehen, den die gesellschaftlichen Formen von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft vollziehen« (S. 37). In Anmerkung 17 lesen wir: »Der Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft findet sich bei Foucault nicht explizit formuliert, doch ist er implizit in seinen Schriften enthalten.« Er hat es also nie gesagt, aber er muss es manchmal gedacht haben, das Spiel ist jedenfalls gemacht, eins hat sich in zwei geteilt und wir haben einen Begriff für den Nationalstaat, die »Disziplin«, und einen Begriff für das Imperium, die »Kontrolle«. Jetzt geht es darum, zu definieren, inwiefern die Kontrolle etwas anderes ist als die Disziplin, und hier wird es etwas schwieriger: Die Kontrolle ist eine stärker verinnerlichte und breitere Disziplin, »die Kontrollgesellschaft könnte man also durch die Intensivierung und Verallgemeinerung der normalisierenden Disziplinarmechanismen charakterisiert sehen«; sie dehnt sich »über die strukturellen Orte sozialer Institutionen hinaus durch flexible und modulierende Netzwerke aus« (S. 38). Diese Veränderung ist ein bisschen zu einfach quantitativ, um einen epochalen Wandel anzuzeigen? Wir können mit Hegel immer noch auf einen Sprung von der Quantität zur Qualität hoffen. Die Kontrolle ist also letztlich eine Art höchstes Stadium der Biopolitik: »Es lenkt nicht nur menschliche Interaktion, sondern versucht außerdem direkt über die menschliche Natur zu herrschen« (S. 13).

Dieser letzte Satz zeigt, dass die Autoren von Empire nicht nur überziehen und unsachgemäßen Gebrauch von den Foucault'schen Texten machen, sondern dass ihr Begriff von Macht und der von Foucault vorgeschlagene effektiv unvereinbar sind. Für Foucault beherrscht die Biomacht die menschliche Natur nicht, sondern schafft sie. Darin besteht der unmöglich mit dem »Humanismus« von Hardt und Negri in Einklang zu bringende »Antihumanismus« von Foucault: Es gibt keinen von der Macht unterdrückten authentischen Menschen, sondern eine spezifische Form von Macht (genauer: die mit ihr verbundenen diskursiven Praktiken) hat die besondere prometheische Vorstellung vom Menschen geschaffen, die noch immer in den westlichen Gesellschaften im Umlauf ist und die genau Hardt und Negri uns wieder vorschlagen. Die moderne Macht, lehrt uns Foucault, hat positive, konstruktive und nicht rein repressive Modalitäten: Aber diese Lehre kann man nicht akzeptieren, wenn man will, dass die ganze Kreativität auf der Seite der unterdrückten Multitude liegt. »Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts existierte der Mensch nicht. Er existierte ebensowenig wie die Kraft des Lebens, die Fruchtbarkeit der Arbeit oder die historische Mächtigkeit der Sprache. Es ist eine völlig junge Kreatur, die die Demiurgie des Wissens eigenhändig vor noch nicht einmal zweihundert Jahren geschaffen hat. Er ist aber so schnell gealtert, dass man sich leicht vorgestellt hat, dass er während Tausenden von Jahren im Schatten den Moment seiner Beleuchtung erwartet hat, in dem er schließlich bekannt wurde.« [26] Und hier entdecken Hardt und Negri nach Adam Smith, nach Feuerbach, noch einmal den Menschen, die Potenz des Lebens, die Fruchtbarkeit der Arbeit, die schöpferische Kraft der Sprache.

Aber bevor man mit Foucault flirtet, muss man sich entscheiden: Ist es die Biomacht, die den Menschen formt, oder ist es die Multitude, die schon immer die Biomacht besitzt und die endlich den Kommunismus verwirklichen wird, wenn sie aufhört, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen? Das fröhliche Ende von Empire, an dem »Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben« (S. 420), deutet diese zweite Perspektive an. Gegen die Lehre von Foucault, der uns, wie jeder wirklich kritische Denker, den Preis auferlegt, tröstende Ideologien aufzugeben.


Fußnoten:

[1] »L'impero colpisce ancora« (2002) aus Intermarx, »virtuelle Zeitschrift für Analyse und materialistische Kritik«. Anmerkung zur Übersetzung: wir haben alle Zitate aus dem Buch »Empire« aus der deutschen Übersetzung rausgesucht und die Angaben von Seitenzahlen entsprechend korrigiert; so sind wir auch - soweit uns die Bücher vorlagen - mit den anderen Zitaten umgegangen. Es gibt zwei problematische Begriffe: der italienische Titel des Buchs ist »Impero«, während die deutsche Ausgabe den englischen Begriff »Empire« hat stehen lassen (statt »Imperium« oder »Reich«). Wir haben nun »impero« richtig als »Imperium« übersetzt, nur wenn vom Buch die Rede ist, steht »Empire«. Das führt zu unterschiedlichen Bezeichnungen, je nachdem, ob es sich um den Text von Turchetto oder ein Zitat aus dem Buch handelt - es ist aber jedesmal derselbe Begriff! Das gleiche mit »Multitudo« (ital., lat.), »Multitude« (frz., neu-dtsch.) und »Menge« (dtsch.): in der Diskussion wird gerne das neuartig klingende »Multitude« benutzt, die Übersetzer der deutschen Ausgabe haben aber das schlichte »Menge« bevorzugt; also auch hier verschiedene Wörter im Text für denselben Begriff.

[2] Anm.d.Ü.: Elzevir ist der Name einer holländischen Buchdruckerfamilie des 17. Jahrhunderts. Sie druckten kleine und handliche, in der Antiqua gesetzte Büchlein mit besonders sorgfältiger Textedition, die heute gesuchte Raritäten darstellen. Turchetto benutzt diesen Ausdruck der Bibliothekarwissenschaft hier zweifellos in ironischer Absicht.

[3] Das sagen die Autoren selbst: »Wie die meisten dicken Bücher kann man dieses hier auf verschiedene Art und Weise lesen: von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn, in Abschnitten, kreuz und quer oder indem man Hinweisen folgt.« (S. 14)

[4] Im Elzevir Die Armen erfahren, dass die »Multitude« aus den »Armen« besteht: »Der Arme [...] ist der gemeinsame Nenner des Lebens, die Grundlage der Menge« (S. 169).

[5] Dieses Geschichtsverständnis wird im Elzevir Zyklen (S. 249-251) entwickelt.

[6] Obwohl die »Immanenz« für so wichtig gehalten wird, ist die religiöse Inspiration in den häufigen Bezügen auf den Exodus, die augustinische Himmelsstadt, in den gnostischen Einflüssen (für die der Begriff Multitudo selbst ein Symptom ist - multitudo ist die lateinische Übersetzung von pleroma [= das, womit man etwas anfüllt, die Fülle, die Erfüllung, die volle Zahl, die volle Mannschaft, d.Ü.]) stark gegenwärtig. Auch durch diesen Aspekt präsentiert sich Empire als ein breit einsetzbares multikulturelles Erzeugnis, gut für Atheisten (dank der Zweideutigkeit des Begriffs »Humanismus«, der in der amerikanischen Kultur in erster Linie »a system of belief and standards concerned with the needs of people, and not with religious ideas« und erst an zweiter Stelle »the study in the Renaissance of the ideas of the ancient Greeks and Romans« bedeutet, vgl. Longman, Dictionary of English Language and Culture) wie für Gläubige verschiedener Konfessionen (welche, gemäß der Religionszugehörigkeit, das Epos von der Multitudo als Reise des auserwählten Volkes ins Land der Verheißung, als den Erlösungsfall, als Himmlische Stadt auf irdischer Pilgerschaft, als Aufstieg der pleroma-multitudo zur göttlichen Erfüllung, usw.). Ohnehin wird die katholische Welt schon dadurch bevorzugt, dass der Heilige Franz von Assisi der namengebende Heros der Multitude, Prototyp und universelle Gestalt des Kämpfers, des Aktivisten, und Protagonist des Elzevirs ist, welches den Band schließt (Militant, S. 418-420). Die Moslems sollten nicht den Mut verlieren, ein Örtchen gibt es auch für sie, nämlich als Repräsentanten der Postmoderne (ich mache keine Witze: vgl. S. 159-162).

[7] Der größte Befürworter des Umsturzes ist Spinoza, dessen Philosophie »den revolutionären Humanismus zu neuem Glanz [erweckte]: Sie setzte den Menschen und die Natur an die Stelle Gottes, verwandelte die Welt in einen Ort praktischen Handelns und bestätigte die Demokratie der Menge als höchste Form der Politik« (S. 92). Dieser Spinoza hat für meinen Geschmack etwas zu viel Ähnlichkeit mit Feuerbach, aber lassen wir das mal auf sich beruhen.

[8] Es ist anzumerken, dass in diesem Kapitel derart großzügiger Gebrauch von der Dialektik gemacht wird (sie wird sowohl von den Autoren benutzt, um die Modalitäten des Kolonialreiches darzulegen, als auch von den Kolonialisten, um die Multitudo zu verwirren), dass Behauptungen gemacht werden wie: »Nicht die Wirklichkeit ist dialektisch, sondern der Kolonialismus.« (S. 141). Überdosis?

[9] Zeile aus dem Lied Serafino von Adriano Celentano.

[10] In einer Rekonstruktion, die mehr oder weniger alle marxistischen Beiträge übernimmt und verwertet und jeden interpretativen Streit einebnet (der orthodoxe Marxismus bekommt ebenso Raum wie der heterodoxe, Lenin und Kautsky, Gramsci, die Frankfurter Schule, Althusser, die Regulationsschule, außerdem natürlich auch eine »Reihe zeitgenössischer marxistischer Autoren aus Italien«, die in der französischen Zeitschrift Futur antérieur schreiben - vgl. S. 43 und Anmerkung 26 - deren Begründer aus Bescheidenheit nicht genannt wird, aber er hat einen Nachnamen, der mit »Ne« beginnt und mit »gri« endet), der einzige schroffe Bannstrahl ist der sogenannten Weltsystem-Schule und Giovanni Arrighi im Besonderen vorbehalten, dem ein empörtes Elzevir gewidmet ist (Zyklen, S. 249-251). Dass die Idee dieses Autors von der Zyklizität und Rekursivität der fortgeschrittenen kapitalistischen Dynamik sich für unsere beiden Autoren hier als unverdaulich erweist, ist nur allzu verständlich: Sie stößt sich tatsächlich massiv nicht nur mit den von Hardt und Negri benutzten »großen Erzählungen«, sondern auch mit dem starken Subjektivismus, der dem operaistischen Ansatz immer eigen war.

[11] Wladimir Iljitsch Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Lenin-Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 270.

[12] Auf der Basis einiger Zitate aus dem 3. Band des Kapitals von Marx, von denen mir mindestens eines - das im Text angegebene - verdächtig erscheint. Es ist unmöglich, es zu überprüfen, weil die entsprechende Anmerkung keine Seitenzahl enthält. Ohne pedantisch sein zu wollen - höchstens um anzumerken, dass man inzwischen die kritische Ausgabe der Werke von Marx und Engels in der MEGA in Rechnung stellen sollte, die den 3. Band des Kapital beträchtlich zusammengestutzt hat - und ohne auch noch die Philologie zu bemühen, ist jedenfalls offensichtlich, dass es - freundlich ausgedrückt - verkürzt ist, Marx zuzuschreiben, er habe die Krise aus der Unterkonsumtion erklärt.

[13] Damit trägt Empire eine drastische Vereinfachung der spitzfindigen operaistischen Interpretationen der hochberühmten Passagen aus den Grundrissen vor, die von dieser Denkschule für ganz grundlegend gehalten wurden und Gegenstand endloser und oft abstruser Exegesen waren. Dialektische Widersprüche, innere Schranken, Negationen der Negationen, alles bloß ein Unterkonsumtionsproblem: »Alle diese Schranken rühren von einer einzigen her, sie sind durch das ungleiche Verhältnis zwischen dem Arbeiter als Produzent und dem Arbeiter als Konsument bestimmt« (S. 234 f.) Dieses Vorgehen ist jetzt wirklich mutig: Meiner Meinung nach verdient es einen Applaus und nicht nur ein ungeduldiges »Das hättet ihr doch gleich sagen können!«.

[14] Ich habe es etwas vereinfacht, um meine altmarxistischen Leser (mittlerweile sind sie auf drei geschrumpft) nicht zu verschrecken, aber das Unterfangen, den Objektivismus des orthodoxen Marxismus mit dem Subjektivismus operaistischen Stils zu versöhnen ist in Wirklichkeit ziemlich komplex. Für diese authentische Akrobatik, bei der »das Auftauchen der Subjektivität Kausalität und Finalität in der Entwicklung der Geschichte neu ordnet« (S. 247), bemühen die Autoren Nietzsche und stützen sich auf die »fehlenden Bände des Kapitals« von Marx (S. 246-249). Eine Zirkusnummer.

[15] Zeile aus dem neapolitanischen Volkslied Addó sta Zaza.

[16] Ich habe dir ein paar davon erspart. Die von der Entwicklung der Produktivkräfte seit der Epoche der Agrikultur über die Ära der Industrie (Modernisierung) und das Zeitalter der Dienstleistungen (Postmodernisierung): Ja, die alte und verunglimpfte Theorie von den Entwicklungsstadien taugt immer noch, vorausgesetzt man interpretiert sie nicht rein quantitativ, sondern qualitativ und hierarchisch (vgl. S. 296 ff.). Und die von der Herausbildung des revolutionären Subjekts, die ich dir gleich in wenigen Zeilen zusammenfassen werde.

[17] Tatsächlich hatte Negri nach der Verwandlung des Facharbeiters in den Massenarbeiter und in den »gesellschaftlichen Arbeiter« weitere Figuren vorhergesehen wie die Massenintellektualität (Ausdruck der informatisierten Welt und vollendete Verkörperung des General Intellect) und in neueren Schriften das kollektive Unternehmertum (Ausdruck der Dezentralisierung der Produktion, der Entstehung von Industriedistrikten, der selbständigen Arbeit und des fleißigen italienischen Nordostens). Sie sind alle nach demselben Schema produziert: theoretisch abgeleitet von realen oder virtuellen Entwicklungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation, werden diese Figuren wie von Zauberhand soziologisch bewiesen (man braucht sie nur mit irgendwelchen ad-hoc-Beispielen zu veranschaulichen, über deren Verallgemeinerbarkeit diskutiert man nicht). Wie schon bei der Interpretation der Grundrisse so stellt Empire auch hier eine Art theoretischer Selbstverstümmelung dar. Aber die Redewendung gesellschaftlicher Arbeiter, wobei der frühere operaio durch den lavoratore ersetzt wurde, ist tatsächlich hinreichend unbestimmt, um sie mit der unsäglichen Multitudo kompatibel zu machen, deren tausendjährige Epopöe Empire erzählt.

[18] Intermarx bietet mit den zum Thema »Globalisierung, Imperialismus und Staat« gesammelten Artikeln einen hervorragenden Überblick über diese Positionen.

[19] »Bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts hat die Ähnlichkeit im Denken (savoir) der abendländischen Kultur eine tragende Rolle gespielt.« Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1974, S.46.

[20] Das ist wirklich eine grobe Vereinfachung. Das Währungssystem ist gerade das, was im heutigen Panorama am wenigsten globalisiert ist, im Gegensatz zu den »einfach« imperialistischen Epochen (mit der Herrschaft des Pfund Sterling bis zum Ersten Weltkrieg und des Dollar nach dem Zweiten Weltkrieg).

[21] Michel Foucault: Résumé des cours 1970-1982, Julliard, Paris 1989; ital.: Pisa 1994.

[22] Louis Althusser: »Ist es schwierig, in der Philosphie Marxist zu sein?«, in Freud und Lacan, Berlin, Merve, 1970.

[23] Louis Althusser: Sur la philosophie, Paris, Gallimard, 1994.

[24] Vgl. Michel Foucault, Résumé des cours, a.a.O.: »Die 'Staatsräson', die sich in den verschiedenen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts beschriebenen 'Regierungskünsten' ankündigt«, erklärt Foucault, »ist nicht der Imperativ, in dessen Namen sich alle anderen Regeln in Unordnung bringen können oder müssen; sie ist die neue Matrix der Rationalität, nach der der Fürst bei der Regierung der Menschen seine Souveränität ausüben muss [...]; was wichtig scheint, ist die Kenntnis und die Entwicklung der Kräfte eines Staats: innerhalb eines (zugleich europäischen und weltweiten) Raums staatlicher Konkurrenz, der ganz anders ist als der, in dem sich die dynastischen Rivalitäten gegenüberstanden, ist das Hauptproblem eine Dynamik der Kräfte und der vernünftigen Techniken, mit denen man in ihn intervenieren kann. So nimmt die Staatsräson Form an innerhalb zweier großer Ensembles von politischem Wissen und Technologie: eine diplomatisch-militärische Technologie [...] ist das Ensemble, das von der 'Polizei' konstituiert wird - in dem Sinne, den man damals diesem Wort gab, d.h. das Ensemble der Mittel, die nötig sind, um von innen die Kräfte des Staates wachsen zu lassen [...]. Die Entwicklung dessen, was Medizinische Polizei, hygiene publique, social medicine genannt wurde, muss ins allgemeine Bild einer 'Biopolitik' eingeschrieben werden« (S. 66 f. und S. 69; übers. a.d.Ital.).

[25] Genauer gesagt agiert die Biomacht in zwei Richtungen, die disziplinäre, »mikrophysische« und in die der Kontrolle der Bevölkerung, die »makrophysische«. »Konkret hat sich die Macht zum Leben seit dem 17. Jahrhundert in zwei Hauptformen entwickelt, die keine Gegensätze bilden, sondern eher zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole. Zuerst scheint sich der Pol gebildet zu haben, der um den Körper als Maschine zentriert ist. Seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnützung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme - geleistet haben all das die Machtprozeduren der Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen Körpers. Der zweite Pol, der sich etwas später - um die Mitte des 18. Jahrhunderts - gebildet hat, hat sich um den Gattungskörper zentriert, der von der Mechanik des Lebens durchkreuzt wird und den biologischen Prozeduren zugrundeliegt. Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung. Die Disziplinen der Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat.« (Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt 1983, S. 166).

[26] Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 373.

 

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