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Seit ihrem Bestehen hat sich Wildcat intensiv mit der weltweiten Proletarisierung befasst. Sie ist der Schwerpunkt im nächsten Heft, das Ende August erscheint, mit einer 80-seitigen Beilage zur Situation in den neuen Industriezentren Indiens. Die Dynamik der dortigen Klassenkämpfe lässt sich nicht verstehen, wenn man nicht gleichzeitig die Situation auf dem Land in den Blick nimmt.




Karl und Wera:

vom Untergang der »Bauern-Internationale«


Seit den 1990er Jahren werden die »neuen Bauernbewegungen« als weltweite Avantgarde im Kampf gegen den »Neoliberalismus« und als wichtiger Teil der Antiglobalisierungsbewegung wahrgenommen. Entstanden waren sie bereits in den 1980er Jahren im Widerstand gegen den ausgeweiteten kapitalistischen Zugriff auf das Land im Zuge von »Strukturanpassung«, »grüner Revolution« und Agrobusiness. Der Aufstand in Chiapas hat dazu beigetragen, dass die Aktivitäten von BäuerInnen in allen Ecken der Welt Aufmerksamkeit erlangten: Bauernunruhen, Landbesetzungen, Aktionen gegen Großprojekte, bis hin zu bewaffneten Formen.

Seit 1993 koordiniert Vía Campesina, eine Dachorganisation der weltweiten Bauernbewegungen, Aktionen ihrer Mitgliedsgruppen, die Beteiligung an den Weltsozialforen oder das Auftreten bei/ gegen die G8-Gipfel. Diese »Bauern-Internationale« kommt heute sozial und politisch an ihre Grenzen. Es wird deutlich, dass Hobsbawms vielzitierter Satz vom »Untergang des Bauerntums« von 1994 keine rein zahlenmäßige Feststellung, sondern eine politische Aussage war.

Die treibende Kraft der vollständigen Proletarisierung waren und sind die ProletarierInnen. Die Kapitalisten haben meist versucht zu verhindern, vollständig für die Reproduktion der Arbeitskraft aufzukommen. Dieser Punkt wird oft übersehen, wenn »bäuerliche Subsistenz« als eine dem Kapitalismus entgegengesetzte Gesellschaftlichkeit dargestellt wird, etwa in den Debatten um die IWF-Riots in den 80er Jahren oder der Mythologisierung der »indigenen Gemeinschaften« in Chiapas und Kämpfe um die »neuen Commons« in Nigeria.

Auf Bewegungsseite hat es sich eingebürgert, »dem Marxismus« eine »Missachtung« der Bauern und ihrer Kämpfe nachzusagen - was sich mit bestimmten Zitaten von Marx z.B. aus dem 18. Brumaire durchaus belegen lässt. Tatsächlich setzte Marx zunächst auf einen »schnellen Sieg« der Arbeiterklasse. Dieser trat nicht ein, und nach den Niederlagen von 1848 und 1871 begann er zu fragen, was den Kapitalismus so »instabil und stabil« zugleich macht. Die Grundrisse und die (Vor-)Arbeiten zum Kapital können wir als permanenten Prozess lesen, über den Zusammenhang von Klassenkampf, Kapitalentwicklung und Revolution nachzudenken. Und dazu sah er sich genau in der Welt um.

In den Briefwechseln mit Wera Sassulitsch (1881) [1] spricht Marx von einer »besonderen historischen Möglichkeit«. Die Krise der »orientalischen Produktionsweise« in Russland treffe auf die Krise des Kapitalismus in den Ländern Westeuropas und ermögliche deswegen etwas revolutionäres »Neues«. Im Kontext einer globalen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse bekommen die Bauernkämpfe eine ganz andere Bedeutung, als wenn man sie isoliert betrachtet.

Meist sollen diese Briefe belegen, dass Marx am Ende seines Lebens den »direkten Sprung« aus vorkapitalistischen Gemeinwesen propagieren wollte. Viel wichtiger ist, wie er an die Fragestellung herangeht. Anhand einer inhaltlichen Bestimmung der russischen Agrargemeinschaft überlegt er, ob und wie sie »Sprungbrett« in eine bewusste Form der Vergemeinschaftung sein kann. Er betont, dass es nicht um die Verwandlung einer Form von Privateigentum in eine andere gehe (wie »im Westen«), und arbeitet stattdessen den widersprüchlichen inneren Dualismus der russischen Dorfgemeinde zwischen kollektivem Eigentum und privater Produktion heraus. Das bringt er mit der Krise der kapitalistischen Vergesellschaftung »im Westen« zusammen. In dieser bestimmten historischen Situation könne eine russische Revolution den Untergang der Dorfgemeide stoppen, die kollektiven Momente zusammen mit einer »Arbeiterrevolution« Ausgangspunkt einer neuen Vergemeinschaftung sein.

Dass wir diesen Marx nie so richtig kennengelernt haben, liegt an seinen »Nachfahren« in der Zweiten und Dritten Internationale:

* Karl Kautsky entwickelt 1899 in seinem Buch »Die Agrarfrage« die klassische Position: Auflösung des Bauerntums, Vorrang der großflächigen Landwirtschaft im Sozialismus. Aber gleichzeitig betont er die Bedeutung der Bauern(-gesellschaften) für die kapitalistische Entwicklung. Fundamentales Problem des Kapitalismus sei der hinreichende Zufluss geeigneter Arbeitskräfte. Die »Auslagerung« der Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft in die bäuerlichen Gemeinschaften habe entscheidende Vorteile für die Kapitalisten, die damit einen Teil dieser Kosten einsparen. Kautsky beschreibt die Familienhöfe als »Produktionsstätten neuer Arbeitskraft« und schließt auf ihre beständige Reproduktion. Sie seien gerade deswegen kein Überbleibsel feudaler, vorkapitalistischer Zeiten, sondern integraler Bestandteil des Kapitalverhältnisses. Diese Einsichten Kautskys hätten einen anderen Weg als den kruden Historischen Materialismus und nachfolgenden Reformismus weisen können. Aber in den politischen Auseinandersetzungen um die »Agrarfrage« blieb Kautsky dem Historischen Materialismus treu, um dann vor dem Ersten Weltkrieg auch theoretisch der Revolution eine Absage zu erteilen.

* Lenin setzte – inmitten noch feudaler Verhältnisse – auf die revolutionäre Potenz des entstehenden kämpfenden Industrieproletariats. Die russische Dorfgemeinde war für ihn untergegangen, politisch ging es um ein Bündnis mit den Bauern: »Wir müssen die Bauerninsurrektion auf jede Weise unterstützen bis zur Beschlagnahme der Ländereien, aber niemals bis zu abstrakten kleinbürgerlichen Projekten. Wir unterstützen die Bauernbewegung in dem Maß, wie sie eine demokratische revolutionäre Bewegung ist. Wir bereiten uns (unmittelbar, sofort) auf den Kampf gegen sie vor, für den Fall, dass sie einen reaktionären, antiproletarischen Charakter annimmt.« (Die Lehren der Revolution, 1910). »Die Rolle des Hegemons in der bürgerlichen Freiheitsbewegung, die die revolutionäre Sozialdemokratie stets dem Proletariat zugewiesen hat, mußte genauer definiert werden, als die Rolle eines Führers, der die Bauernschaft führt. Und wohin führt er sie? Zur bürgerlichen Revolution in ihrer konsequentesten und entschiedensten Gestalt.«LW Bd. 13, S. 290.

Loren Goldner verdeutlicht: »Lenin, und später Preobraézenskijs Neue Ökonomik wollten den ’Arbeiterstaat‘ human und bewusst das machen lassen, was der kapitalistische Staat historisch blind und blutig durchgesetzt hatte: die Verwandlung der agrarischen KleinproduzentInnen in FabrikarbeiterInnen. Es blieb Stalin vorbehalten, diesen Prozeß bewußt und blutig durchzusetzen.« (Beilage Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 )

Anders als für Lenin und Kautsky, aber auch im Unterschied zur Phase der »nationalen Befreiungsbewegungen« nach 1945 geht es heute bei der Frage nach der Revolution nicht mehr um ein Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern, sondern um ihre Neuzusammensetzung als globale Arbeiterklasse – vor dem Hintergrund einer absoluten und relativen (zur Weltbevölkerung) Zunahme der Lohnarbeit im Norden, Süden, Osten und Westen, in den Städten, auf dem Land, den Fabriken, Call Centern und Agrarfabriken.




[1] Die russische Narodniki und spätere marxistische Autorin und Revolutionärin Wera Sassulitsch wandte sich an Marx mit einer Frage bezüglich des 24. Kapitels im Kapital »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«: Müsse die dort geschilderte Entwicklung als »historische Notwendigkeit« verstanden werden und müsse, insbesondere, die russische auf Gemeineigentum beruhende Dorfgemeinschaft (Mir) zunächst durch die Entwicklung des Kapitalismus in Russland zerstört werden, oder sei auch ein direkter Übergang zum Sozialismus möglich? Marx verfasste daraufhin drei Antwortentwürfe, und sandte Sassulitsch letztlich eine vierte, sehr kurz gehaltene Antwort.

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