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Berichte zur Krise

DREI: USA

Leben mit der Krise

Wir hatten Leute in verschiedenen Ländern gebeten, ihre Beobachtungen zu den Auswirkungen der Krise aufzuschreiben.
Hier ein Bericht aus den USA von Ende letzten Jahres.

English version


Mitte September 2008, nach der Pleite von Lehmann Brothers, wurden die Auswirkungen der Wirtschaftskrise so extrem, dass es anscheinend jeder merkte. Ich nahm an mehreren Nachmittagen in der Woche den Bus zur Arbeit und fuhr durch die schrumpfende afroamerikanische Community im Western Addition District. Die Angst war spürbar, und oft hörte ich Leute am Handy darüber sprechen, wie jemand entlassen worden war, wie Häuser zwangsversteigert wurden, oder wie jemand einfach bis zur Privatinsolvenz verschuldet war.
Es ging oft um Zwangsversteigerungen in Vororten wie Antioch, Pittsburg, Brentwood und Stockton, das sind Parzellenbaugebiete, die vor kurzem noch boomten, mit vielen afroamerikanischen und Latino-Bewohnern, die vorher in den Innenstadtbezirken von San Francisco und in den armen Arbeitervierteln von East and West Oakland gewohnt hatten.
Viele Familien konnten während des Irrsinns des »Housing Boom« ihre Häuser in der Innenstadt, die im vorhergehenden Jahrzehnt stark im Wert gestiegen waren, verkaufen. Damit konnten sie es sich leisten, in die Vororte zu ziehen - wie die Weißen in den 50er Jahren.
Die Kredite, die ihnen seit den frühen 90ern angeboten wurden, waren »subprime« [1], mit zinsvariablen Hypotheken (ARMs) - selbst wenn sie eigentlich die Kriterien für stabilere Festzinskredite erfüllten. Bei Autokrediten passierte ab den späten 90ern das Selbe.
Viele amerikanische Hausbesitzer aller »Hautfarben« benutzten ihr Haus als Bankautomat, indem sie Kredite auf ihre schnell im Wert steigende Immobilie aufnahmen. Einige taten das, um mit den seit Anfang der 70er Jahren stagnierenden Löhnen zurechtzukommen, andere gerieten in einen regelrechten Kaufrausch.
Ich arbeite in der öffentlichen Bibliothek von Berkley mit einigen Afroamerikanern zusammen. Berkleys afroamerikanischer Bevölkerungsanteil ist dramatisch geschrumpft, weil viele Leute in die Vorstädte gezogen sind, sie arbeiten aber immer noch in Berkley, Oakland oder San Francisco. Eine meiner Schwarzen [2] Kolleginnen ist nach Antioch gezogen, einem der beliebtesten Vororte, wohin sie mindestens eine Stunde pro Strecke braucht. Vielen anderen Nicht-Weißen Kollegen geht es ähnlich. Der Staat Kalifornien hat den Etat für Bildung, Bibliotheken und öffentliche Parks zurückgefahren, so dass die Programme durchschnittlich zehn Prozent weniger Geld bekommen. Wahrscheinlich heißt das, dass entweder unsere Gehälter oder unsere Stunden um zehn Prozent gekürzt werden. Bei den Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen ist es genauso, alle einfachen Angestellten sind betroffen. Meine Kollegin aus Antioch steht sehr unter Druck, denn wenn ihr Gehalt gekürzt wird, kann sie ihre Hypothek nicht mehr zurückzahlen und verliert vielleicht ihr Haus. Ihr Haus ist eindeutig »underwater«, das heißt sie hat darauf mehr Schulden als es zurzeit wert ist. Einige Banken würden ihr erlauben »leer zu verkaufen«, d.h. sie könnte das Haus für einen geringeren Betrag verkaufen, als sie der Bank schuldet, und sie würden ihr den Rest erlassen. Aber wenn sie zu tief »unter Wasser« ist, bleibt ihr nur, sich entweder in Folge der Zwangsvollstreckung räumen zu lassen, oder das Haus einfach zu verlassen, so dass die Bank es wieder in Besitz nehmen und zwangsversteigern lassen kann.

Einige der Vorstadtgegenden an den äußeren Rändern des Metropolengebiets San Francisco Bay, in denen Afroamerikaner, Latinos und Filipinos den amerikanischen Traum vom Hausbesitz verwirklicht hatten, führen die Liste der Zwangsversteigerungen in den gesamten USA an. Die drei Spitzenreiter 2007 und 2008 waren Modesto, Stockton und Merced. Vallejo, eine weitere Stadt der Bay Area war auf dem achten, das nahe gelegene Sacramento auf dem zehnten Platz.
Im November 2008 machten einige von uns eine Rundfahrt durch ein paar der am schlimmsten betroffenen Gebiete. Zuerst besuchten wir Modesto. Auf dem Weg dahin kamen wir durch ein kleines, komplett neu bebautes Gebiet namens Mountain House, das das Pech hat, momentan die Stadt mit den meisten »upside-down« [3] Hypotheken in den USA zu sein. Im November 2008 waren dort laut New York Times 90 Prozent der Hausbesitzer mit durchschnittlich 122 000 Dollar »unter Wasser«.

Auf dem Heimweg fuhren wir durch Patterson, direkt an der Interstate 5 weiter im Süden. Hier hat sich die Einwohnerzahl kürzlich durch Langstreckenpendler der Bay Area auf fast 20.000 verdoppelt, weil auf der I-5 nicht der übliche Verkehrskollaps stattfindet. Ein junger Latino, der in Modesto im Maklerbüro der Familie arbeitet (und der mit seinem Vater, dem Firmeninhaber, Hauptorganisator der Aktion der mehr als 10.000 Latino-Arbeiter war, die am Ersten Mai 2006 in Modesto die Arbeit niederlegten; beide wurden monatelang von Polizeiwagen verfolgt) sagte uns, dass mehr als achtzig Prozent der brandneuen vier- und fünf-Zimmer-Häuser in den Neubaugebieten direkt an der I-5 leerstehen, fast alle entweder in Zwangsvollstreckung oder unverkauft. Bei Sonnenuntergang fuhren wir dort durch, es war gänzlich dunkel und gruselig; es schien, als ob die Gegend von einer Neutronenbombe getroffen worden wäre ? alle Gebäude intakt, aber kein Lebenszeichen.
Junge AnarchistInnen aus Modesto haben uns auf diese Tour mitgenommen. Mehrere von ihnen sind selbst Hausbesetzer und sie kennen Dutzende von Leuten, meist Familien, die nach der Zwangsvollstreckung wieder in ihre Häuser eingezogen sind und immer noch da wohnen. Aber sie meinten, dass man sehr, sehr vorsichtig sein muss. Die Polizisten in Modesto sind brutale Schläger und nehmen die geringste Provokation zum Vorwand, um Leute zu drangsalieren und festzunehmen. Allerdings sind die Nachbarn in den betroffenen Gebieten, die noch legal in ihren Häusern wohnen, ganz froh über die Besetzer, weil sie die Grundstücke in Ordnung halten, also Rasen mähen, den Garten pflegen und saubermachen, so dass der Schein gewahrt bleibt und der Wertverfall und ein Sichtbarwerden der Krise hinausgezögert werden. Einerseits bremst es das Abrutschen der Immobilienwerte ein kleines bisschen, und andererseits hält es Drogenabhängige davon ab, alle Kupferleitungen und Rohre herauszureißen und beim Schrotthändler zu verkaufen. Einige, die noch legal in ihren Häusern wohnen, legen den Besetzern aus Solidarität Elektroleitungen hinüber. In einigen Städte in der Nähe von Modesto wurden es gesetzlich verboten, in einem Haus mit abgestellten Wasserleitungen zu wohnen. Also müssen die Besetzer oft das Wasser illegal wieder anstellen. Aber die meisten Besetzer tun alles, um nicht von der Polizei und anderen Behörden entdeckt zu werden.

Die häufigste Form des Widerstandes gegen diese Zwangsvollstreckungen, die uns bisher aufgefallen ist, waren Massenversammlungen, die von Kirchengruppen in einigen der von Zwangsvollstreckungen und fallenden Immobilienpreisen am schwersten betroffenen äußeren Vororte organisiert wurden, so besipielsweise in Contra Costa County östlich von Oakland. Obwohl meistens hunderte von wütenden Menschen auf diesen Treffen sind, kommt doch nicht mehr dabei heraus als reformistische Versuche, Einfluss auf Politiker zu nehmen und damit die Banken zu Verhandlungen über die Hypothekendarlehen zu zwingen. Städte wie Oakland haben schon eingegriffen und versuchen über Gesetze, eine Umwandlung der zinsvariablen Hypothekendarlehen (ARMs) in eher bezahlbare Festzinskredite zu erreichen, und Räumungen von noch bewohnten Häusern zu erschweren.

Eine außergewöhnliche Form des Widerstands war diese inspirierende Aktion der AktivistInnengruppe ACORN am 15. Dezember 2008 in Oakland:
Aus Protest gegen die Räumung einer sechsköpfigen Familie zogen 25 Leute symbolisch in das Büro des Maklers ein, wobei sie es mit Stühlen, Tischen, einem Kinderbett, Familienfotos und sogar einem Weihnachtsbaum einrichteten.

Wie bei der Fabrikbesetzung der Republic Windows and Doors in Chicago, die letztes Jahr im Dezember dichtgemacht wurde, fangen die Leute an, sich auf die historische Lektion der Kämpfe gegen Zwangsräumungen und Arbeitslosenproteste der 30er Jahre zu beziehen.
Die Arbeitslosen nutzten eine Reihe spontaner Überlebensstrategien, etwa formelle und informelle Kooperativen, familiäre und nachbarschaftliche Netzwerke der Unterstützung, Plünderung von Supermärkten, Kohlenschmuggel, entschlossene Suche nach Arbeit, und einfallsreiches Strecken der Einkommen. Gleichzeitig regten radikale Organisatoren [4] formellere und politischere Arbeitslosenproteste an, wie sit-ins bei Fürsorgestationen, landes- und bundesstaatweite Hungermärsche, Demonstrationen vor dem Rathaus und direkten Widerstand gegen Räumungen? Sie haben es nicht nur geschafft, Räumungen zu verhindern und die Fürsorgegelder zu erhöhen, sondern sie haben auch das Klassenbewusstsein vieler ihrer Mitglieder intensiviert. [5]

[1] Kredit für Leute mit schlechter Bonität

[2] Wie im engl. Original großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine beliebige Eigenschaft sondern eine Zuschreibung mit rassistischer Geschichte handelt. [Anm. d.Ü.]

[3] wie »underwater«: Hypotheken, bei denen die Leute mehr Schulden haben, als ihre Häuser wert sind

[4] Diese gehörten zur Kommunistischen und Sozialistischen Partei und trotzkistischen Gruppen

[5] s. Roy Rosenzweig: »Organizing the Unemployed: The Early Years of the Great Depression, 1929-1933«. In Radical America 10/4, 1976.

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