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25.04.2022

Brief aus China zur Situation im Lockdown

Mit Brutalität und Ohnmacht gegen Covid

Hallo!

Ich möchte zwei englische Artikel mit Euch teilen, die zeigen wie es Wanderarbeitern im Lockdown ergeht. Der erste mit vier kurzen Berichten vom Lockdown im Wohnheim oder LKW zeigt, wie zu erwarten, Einkommensausfall, fehlende Versorgung mit Lebensmitteln, aber auch Vernachlässigung der Kontrolle von Quarantäneauflagen. Auf einem Foto sieht man, dass es angeblich ein Siegel, einen Lockdownaufkleber über Tür und Türrahmen von Xus Wohnheim gibt, das ist der erste Interviewte. Damit dürften sie eigentlich nicht raus, aber können offenbar doch raus und in der Kantine essen. Bemerkenswert finde ich, dass er als angelernter Arbeiter 7000 RMB (z.Z. über 1000 Euro) im Monat in der Autoteilefabrik verdient hat, dass er aber in Shanghai bei dem Lohn nichts ansparen kann.

Der zweite Artikel von NPR handelt von Wanderarbeitern, die als Covid-Arbeiter in Quarantänezentren oder für Massentests anheuern. Stundenlöhne teils sehr gut, schlechte Behandlung, Betrug etc. und auch hier werden die Covid-Maßnahmen für positiv Getestete nicht so streng beachtet.

Corona-Müdigkeit in der chinesischen Bevölkerung, mangelhaftes Gesundheitswesen, gestiegene Infektiösität des Virus… Je länger sich die Pandemie hinzieht und je umfassender die Lockdowns werden, desto schlechter skaliert die Null-Covid-Politik. Aber wie wird das enden?

Der aktuelle Corona-Ausbruch in Schanghai hat Anfang März begonnen. Nach und nach wurden Teile der 26-Millionen-Metropole unter Lockdown gesetzt, seit Anfang April quasi die gesamte Stadt. Das bedeutet vor allem Hausarrest, sehr viele Bewohner dürfen ihre Wohnung oder ihr Wohngebäude nicht verlassen. Asymptomatische positive Fälle, Verdachtsfälle und Kontakte ersten und zweiten Grades werden zwangsweise in Quarantänelagern isoliert. In Messehallen teilen sich Hunderte eine Handvoll Dixi-Klos, hausen auf Holzpritschen oder Feldbetten, nur die Glücklichen unter ihnen haben Warmwasser oder können sogar duschen. Die täglichen Infektionen liegen zwischen 15-30000, mal sinken sie, mal steigen sie. Die Infektionszahlen werden geschönt und gefälscht. Die offiziellen Zahl von Infizierten in Schanghai, ca. 500 000 seit März, mögen halbwegs stimmen (oder auch um den Faktor 10-100 verfälscht sein), die Zahlen zu den Toten sind aber auf jeden Fall Bullshit. Im Internet habe ich eine Tabelle gefunden, laut der in Schanghai bereits über 130 Tote aufgrund von Lockdown-Maßnahmen beobachtet wurden – im Vergleich zu den angeblich ca. 100 offiziellen Corona-Toten.
Aber trotz der Härte des Lockdowns zeichnet sich noch kein Ende ab.

Außer Schanghai, der wichtigsten Wirtschaftsmetropole Chinas, befinden sich noch ca. 80 der 100 größten Städte Chinas in Lockdowns unterschiedlicher Strenge. Einige davon sind sogar prophylaktische Lockdowns, ohne dass es lokale Infektionen gab – so wurde z.B. in Wuxi der ÖPNV vorsorglich eingestellt.

Die Lockdowns führen zu Obdachlosigkeit und massenhaften Lohnausfällen, oft zur Unterversorgung mit Lebensmitteln, manchmal auch zu krassen medizinischen Notfällen und sogar Toten. Die Triage wird nicht-medizinischem Personal übertragen. Menschen werden in Wohnungen oder Wohnhäusern förmlich eingezäunt. Es sind irrwitzige, tragische, panische Szenen wie vor zwei Jahren in Wuhan.

Der Hintergrund dieser absurden und unmenschlichen Situation ist die Null-Covid-Politik. In der BRD ging es um das „Abflachen der Kurve“. Für dieses Ziel spielt es keine Rolle, ob etwa einzelne Infizierte gegen die Quarantäne-Auflagen verstoßen, denn es geht um das durchschnittliche Verhalten. Die Ausbreitung sollte verlangsamt werden, es ging nicht darum, alle Infektionsketten abzuschneiden. Wenn das Ziel aber Null oder nahe Null Neuinfektionen sind, muss jede Infektionskette unterbrochen werden und jede/r zur Quarantäne gezwungen werden. Denn jeder Ausreißer könnte die nächste Welle auslösen.

Im Internet rufen viele nach Heimquarantäne und der Erlaubnis, bei leichten Symptomen zuhause bleiben zu dürfen. Dies wäre nicht nur viel humaner, sondern würde dem zusammengebrochenen Gesundheitssystem auch erlauben, sich auf die Fälle zu konzentrieren, die wirklich medizinische Hilfe benötigen. Aber bei Isolierung in den eigenen vier Wänden ohne strenge Kontrolle würde es sicherlich immer wieder zu Ausreißern kommen und eine Rückkehr zu Null-Covid wäre illusorisch. Das Leid in Schanghai ist also eine direkte Folge der Null-Covid-Strategie.

Nach dem Lockdown in Wuhan Anfang 2020 schien Null-Covid in China zunächst relativ erfolgreich. Aber bei den Impfkampagnen wurden nicht medizinische Risikogruppen priorisiert, sondern Menschen, die an Häfen, Flughäfen oder Grenzübergängen in Kontakt mit Personen oder Gütern aus dem Ausland kamen. Das führte zu einer niedrigen Impfquote unter alten Menschen. In Schanghai leben fast fünf Millionen Menschen über 60; deutlich weniger als die Hälfte von ihnen sind vollständig geimpft. China ist ein No-Vaxer-Paradies! Überall muss man zwar einen Gesundheitscode vorzeigen und wird in Quarantäne gesteckt, wenn man aus dem falschen Verwaltungsbezirk kommt, aber nach dem Impfstatus fragt niemand. Erst nach dem Desaster in Hongkong, wo die Impfquote unter alten Menschen noch niedriger ist, sind neue Impfkampagnen angelaufen. Zudem zeigen Studien aus Singapur, dass die chinesischen Vakzine im Vergleich zum Biontech-Wirkstoff nur ein Fünftel der Schutzwirkung gegen schwere Verläufe haben.

Seit über zwei Jahren feiert die chinesische Propaganda Lockdowns und Null-Covid als die Überlegenheit des chinesischen Systems gegenüber dem Westen. Die damit erzeugte Schadenfreude und das Überlegenheitsgefühl habe ich persönlich erlebt. Infizierte werden wie Kriminelle behandelt, Genesene nicht selten wie Aussätzige, denen Miet- oder Arbeitsverhältnis gekündigt wird. Eine kleine Minderheit von Infizierten muss einen sehr hohen Preis bezahlen, damit die große Mehrheit relativ unbehelligt ihrem Alltag nachgehen kann. So lange diese Minderheit sehr klein war, hat sich kaum jemand über ihre inhumane Behandlung aufgeregt, ihre Klagen wurden zensiert, geifernde Nationalisten sahen darin Vaterlandsverrat.

Ein Schwenk weg von Null-Covid ist nicht nur aus ideologischen Gründen sehr schwierig. Dazu müsste auch die Impfquote unter Risikogruppen rasch und deutlich erhöht werden. Damit an die Stelle von Zwangsisolierung und Ausgrenzung eine flexible Politik treten könnte, so dass je nach lokalen Infektionszahlen und Auslastung des Gesundheitssystems öffentliches Leben reduziert oder geöffnet würde, müsste ein Millionen-Heer von Bürokraten, Covid-Arbeitern und Vollstreckern, Pförtnern und Bullen quasi über Nacht umgeschult werden.

Nach jahrelangem Selbstlob ob der chinesischen Überlegenheit bräuchte Xi für all dies vor allem auch eine gute Propaganda-Geschichte. Da er aber demnächst zum großen Führer auf Lebenszeit ernannt werden soll, kommt soviel Risiko und Richtungswechsel gerade ganz ungelegen. Das nationale Gesundheitsamt erklärt die Fortführung der Null-Covid-Politik als alternativlos und begründet dies mit der seit einem Jahr wiederholten Leier, dass die Impfquote zuerst erhöht werden müsse und das chinesische Gesundheitssystem andernfalls zusammenbrechen würde. China hat sich mit harten Lockdowns Zeit erkauft, diese aber vergeudet und versagt, anstatt sich mit Impfen und Ausbau des Gesundheitssystems vorzubereiten. Also wird weiter verschärft, »harter Lockdown« bis zum Sieg. Seit ein paar Tagen sieht man vermehrt Videos von Gartenzaun-Lockdowns, wo zwei Meter hohe Gartenzäune nachts vor Hauseingängen errichtet werden.

Brutalität

Auch diesmal gibt es Berichte von Selbstorganisation und Nachbarschaftshilfe, aber viel weniger als Anfang 2020 in Wuhan, und sie werden überschattet von Kommerzialisierung und Wucher. Wohnkomplexe kaufen Lebensmittel im Pulk, organisiert wird das von Community-Leadern, nicht wenige in gehobener sozialer Stellung. Lieferfirmen erhöhen die Preise von Lebensmitteln um das drei- bis fünffache. Behörden verbieten Supermärkten den direkten Verkauf an Einzelpersonen, es darf nur als Gruppe gekauft werden. Lebensmittellieferungen vergammeln vor Hauseingängen, weil die Hausverwaltung ihr Versorgungsmonopol durchsetzt. Ein Logistikarbeiter erzählt, dass er 2000 RMB und mehr am Tag machen kann, das drei- bis sechsfache des Üblichen. Ein Artikel aus der Staatspresse lobt die Nachbarschaftshilfe und beschreibt Beispiele von »Nachrichtenarbeitern«: Einige Freiwillige in einem Wohnkomplex übernehmen die Aufgabe, die Nachrichten und Behördenerlässe zu durchkämmen nach dem, was für den jeweiligen Wohnkomplex über Versorgungslage, PCR-Massentests und etwaige Verschärfungen oder Lockerungen relevant ist. Das ist deshalb nötig, weil sich die Amtsträger hinter Behörden-Kauderwelsch verkriechen, aus Angst vor Verantwortung, Fehlern und Bestrafung.

Leute werden von Dabai, so werden die Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen verniedlichend genannt, missachtet, geschubst, geschlagen, getreten, in Panik versetzt, in Wohnungen wie in einer Gefängniszelle eingesperrt. Aber die Dabai werden genauso missachtet und betrogen wie die Eingesperrten. Neben arbeitslosen Wanderarbeitern werden auch Community-Arbeiter und Anwohner als Dabai rekrutiert. Erstere sind bei den lokalen Behörden als eine Art angelernte Sozialarbeiter beschäftigt und verpflichtet, an den Maßnahmen teilzunehmen. Manche Anwohner melden sich sowohl aus Langeweile oder aus Angst vor Lebensmittelknappheit freiwillig, und weil es für Dabai drei tägliche Mahlzeiten gibt. Von diesen steht niemand 100 Prozent hinter den Maßnahmen. Aus verschiedenen Quellen habe ich gehört, dass auch vom medizinischen Fachpersonal in Schanghai kaum noch jemand von der aktuellen Null-Covid-Strategie überzeugt ist. Aber ebenso wenig wie die Dabai hinter den Maßnahmen stehen, scheinen sie sich um das von ihnen mitverursachte Leid zu kümmern. In zahllosen Videos, in denen Dabai Anwohner einsperren oder einzäunen und Anwohner Auskunft über Sinn, Zweck und Autorisierung verlangen, ignorieren die Dabai solche Fragen und Hilfeschreie und machen stumm und stoisch weiter.

Mich würde nicht wundern, wenn in der Rücksichtslosigkeit der Dabai auch ein wenig Rache für die allgemeine Rücksichtslosigkeit im Alltag steckt. Autofahrer sind eh ziemlich rücksichtslos. E-Mopedfahrer aber auch. Ganz gleich ob ich auf einem Fußweg laufe oder eine Fußgängerampel bei Grün überquere, ich muss immer aufpassen, von den E-Mopeds (Essenslieferfahrer, Lastendreiräder ...) nicht angefahren zu werden, was mir trotzdem schon mehrfach passiert ist. Viele nehmen sich nicht nur die Vorfahrt und weichen erst im letzten Moment aus, sondern sie weichen gar nicht aus und es ist ihnen egal, weil es dem Fußgänger ja mehr weh tut. Mein subjektiver Eindruck ist, dass die Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr unter Zweirädern in den letzten Jahren schlimmer geworden ist.

Ein Interview (auf chinesisch) mit jemandem, der zehn Tage in einem Quarantänelager verbracht hat , illustriert sowohl die Rücksichtslosigkeit in den Lagern als auch die fehlende alltägliche Empathie der Schanghaier Mittelschicht gegenüber Arbeitern. Der Interviewte wurde am 4.4. positiv getestet, dann am 11.4. ohne die geringsten Symptome ins Lager gesteckt, als seine Tests längst negativ waren. Kompletter Bullshit! Er schildert, wie ein alter Mann mit Augenleiden inmitten von hunderten Menschen erblindet, weil ihm keine Augenmedizin bereitgestellt wird. Später erklärt der Interviewer, dass die Pfleger und Pförtner eigentlich auch ganz menschlich sein können, nur eben überfordert seien. Er plaudert mit den Pförtnern, die ihn fragen, was er arbeitet. Auf seine Antwort, er produziere Computerspiele, erwidern sie, dass er ja sicherlich viel verdiene, 7. oder 8000, nicht? Darauf lachen Interviewer und Interviewter, denn sie wissen wie auch alle Zuhörer, dass entsprechende Einkommen in Schanghai viel höher sind, als es sich die Pförtner da vorstellen (sicherlich fünf bis zehnmal so viel). Die Mittelklasse, die sich eben noch über mangelndes Mitgefühl für die Insassen der Quarantänelager echauffiert, hat nur Lachen für unwissende Arbeiter übrig, die das wahre Ausmaß der sozialen Ungleichheit noch nicht einmal erahnen.

Die Trägheit der Hilflosen

Der Aufstand gegen den Lockdown bleibt aus. Die meisten Klagen werden nur online oder in kleinen Anwohnergruppen geäußert. Daneben gibt es individuelle Versuche, sich klammheimlich den Massentests zu entziehen und Symptome oder Testergebnisse zu verheimlichen. Die einzige größere Spontandemo mit 500 Leuten, von der ich gehört habe, ging von Mietern aus, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden sollten, um Platz für Quarantänestationen zu schaffen. Nochmal in anderen Worten: Die Arschlöcher von der Schanghaier Bürokratie behaupten, es diene der Pandemiebekämpfung, wenn man 500 Mieter auf die Straße schmeißt, zu einem Zeitpunkt, wo es quasi unmöglich ist, ein Hotelzimmer oder sonst eine Bleibe zu finden! Dagegen gab es verzweifelten Protest der betroffenen Mieter. Aber abgesehen von Online-Lärm habe ich nichts von Solidarisierung gesehen, keine Soli-Demos, keine Soli-Sit-ins...

Online sieht man immer dasselbe Muster: In zahlreichen Mitschnitten von Telefonaten mit Gesundheitsämtern und lokalen Behörden versuchen die Behördenvertreter oder sog. Freiwilligen zunächst, die Anrufer (die z.B. einen medizinischen Notfall zu Hause haben) abzuwimmeln; wenn dies nicht gelingt, brechen sie in Tränen aus und jammern, sie seien ja auch hilflos und für sie sei ja auch alles so hart und ihre eigenen Vorgesetzten würden sie auch im Stich lassen... 无能为力,wunengweili, hilflos, machtlos… ist das Stichwort, das man überall hört. Selbst ein kleines Protestvideo, das gerade etwas Lärm schlägt, läuft auf diesen Satz hinaus. China ist zum Heimatland der Hilf- und Machtlosen geworden, 无能为力国家.

Der chinesische Dr. Drosten heißt Zhong Nanshan, er mimt seit Beginn die Galionsfigur zu Xis Volkskrieg gegen das Virus, Poster von ihm mit Sprüchen zur Pandemiebekämpfung hängen an jeder Litfaßsäule. Er hat kürzlich in einem Artikel geschrieben, dass Null-Covid nur eine zeitlich beschränkte Strategie sein kann und das Land sich früher oder später wieder öffnen müsse – die chinesische Version des Artikels wurde gelöscht. Dabei ist offensichtlich, dass die Null-Covid-Strategie nicht mehr lange fortgesetzt werden kann. Die Leute haben mehr Angst vor den Quarantänelagern als vor dem Virus. Die Einhaltung des social distancing und der harten Lockdowns wurden von Beginn an mit der der Angst vor dem Virus durchgesetzt. Mit dem Schwinden dieser Angst schwindet auch die Einhaltung der Maßnahmen und damit deren Effektivität. Gleichzeitig steigt der Arbeitsaufwand bei den aktuellen Infektionszahlen. Überall werden Ärzte und Krankenpfleger abgezogen, und den kaum ausgebildeten Dabai geht Null-Covid wahrscheinlich immer mehr am Arsch vorbei: sie erfahren am eignen Leib, wie wenig es ernst genommen wird, wenn sie sich im Schlafsaal selbst infizieren.

In einem Video wehrt sich eine positiv getestete 94-Jährige mit einem Besen gegen sechs Leute in weißen Anzügen, die sie in ein Quarantänelager schleppen wollen. Sie schlägt sie in die Flucht und kann in ihrer Wohnung bleiben! So schwer ist es offensichtlich nicht, sich gegen die Maßnahmen zu wehren, aber es trauen sich nur wenige. Man sieht Videos von Einzelnen, die aus Umzäunungen ausbrechen – und dann von Bullen in weißen Anzügen gefasst und weggeschleppt werden. Aber kollektive Aktionen? Einmal gemeinsam zum Pförtner gehen, das Tor aufbrechen und im Supermarkt einkaufen, so einfach wäre die Lösung der Versorgungsprobleme! Oder gemeinsam das Quarantänelager verlassen?

Warum gibt es nicht mehr Krach in Schanghai? Wenn ich diese Frage mit meinen hiesigen anarchistischen Freunden diskutiere, fällt denen auch nur ein, dass die chinesische Gesellschaft eben krass atomisiert ist. Genau diese Vereinzelung, die Ohnmacht und fehlende Empathie machen ihre politische Praxis in China so schwierig. Die großen Streikwellen sind lange her. Ein Freund sagt, den Ereignissen in Schanghai widme er absichtlich nur wenig Zeit, weil er es unerträglich findet. Danach habe ich den Eindruck, erst jetzt die soziale Herausforderung zu begreifen, vor der meine Freunde die ganze Zeit stehen. Sie sind nicht überrascht, ich schon!

Die Szenen von brutalen und irrationalen Lockdowns zu Beginn der Pandemie vor zwei Jahren hatte ich für ein außergewöhnliches, einmaliges Ereignis gehalten und teilweise mit der allgemeinen Panik erklärt – damals bin ich ja auch in Panik verfallen. Das war Wunschdenken.

Die aktuellen Lockdowns zeigen, dass offenbar sowohl irrationale, inhumane Quarantäne-Erlässe, und deren brutale, stoische und gnadenlose Vollstreckung dauerhafte Institutionen der chinesischen Gesellschaft sind – wie auch ihre hilflose Hinnahme und das Ausbleiben von kollektiver Gegenwehr . Ebenso sind Vereinzelung, individuelles Ohnmachtsgefühl, die Neigung sich das eigene Leid und die Propagandalügen schön zu reden, und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen wesentlicher Bestandteil des erlernten Sozialverhaltens. Über Jahre und Jahrzehnte wurden die Dabai-Arbeiter unmenschlich und wie Entrechtete behandelt, warum sollten sie es jetzt gegenüber ein paar Mittelschichts-Anwohnern anders machen?

Ich habe mir nicht vorstellen können, dass die alltägliche Rücksichtslosigkeit solche Implikationen hat, noch habe ich theoretische Erklärung dafür. Würde man versuchen, dies einfach als kapitalistisches Business-as-usual zu erklären, müsste ich schmunzeln – so naiv war ich auch mal.

Was bedeutet das für soziale Kämpfe und politisches Handeln? Bei der Frage kommt mir unweigerlich die Vorstellung, dass diejenigen, die sich eben noch über Lohnraub und Überstunden beklagen, im nächsten Moment nichts dabei finden, wenn sie alte und kranke Menschen wie Mehlsäcke über den Boden schleifen. Was kann man da noch tun außer »Unfallgutachten« wie diesen Brief zu schreiben? Welche Hoffnungen kann man sich dann noch auf kollektive Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen machen, wenn selbst so drastische Verschlechterungen der Lebensbedingungen nicht zu kollektivem Protest führen?

Was in Shanghai (und in anderen Lockdowns) an absurdem und unnötigem Leid mit Gleichgültigkeit vollstreckt und jammernd, aber widerstandslos hingenommen wird, das ist ein trauriger Indikator für das, was an sozialer Dynamik in den nächsten Jahren (Jahrzehnten?) wahrscheinlich ausbleiben wird.

Auf der anderen Seite erzeugt dieses stille Verhalten der Hilflosen gesellschaftliche Veränderungen. Der LKW-Verkehr in Schanghai liegt bei 18 Prozent des Vorjahrs, in der Nachbarprovinz bei ca. 60, in ganz China bei ca. 75. Kaum einer will noch LKW fahren und in Quarantäne enden. In den nächsten drei Jahren werden der Industrie in China ca. 30 Millionen Fabrikarbeiter fehlen, weil keine mehr dort malochen will. Vor Schanghai stauen sich die Frachter, das genaue Ausmaß der wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns wird jedoch wie ein Staatsgeheimnis verschwiegen...

Als Antwort weitet sich der Staat in der Krise noch weiter in die Wirtschaft aus, staatliche Immobilienunternehmen sollen den abrutschenden Immobilienmarkt stützen, staatliche Investmentfonds den kollabierenden Aktienmarkt; die neue, staatlich organisierte private Rentenversicherung soll private Ersparnisse und Geldanlagen in staatliche Pensionsfonds umleiten, Lokalregierungen sind angewiesen, den größten Teil der erlaubten Neuverschuldung für dieses Jahr bereits im ersten Halbjahr rauszuhauen und noch mehr Brücken, Straßen und Rechenzentren zu bauen… Zur Sicherung der sozialen Stabilität wird die Blase weiter aufgepumpt. Daraus muss Instabilität erwachsen. Aber je länger ich in diesem Land lebe, umso klarer wird mir, wie wenig ich darüber zu spekulieren vermag, wie und wann diese sich je Geltung verschaffen wird.

Es grüßt,
Euer Gustav

 
 
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