Thekla 10: Zerowork - Juli 1988 - S. 133-146 [t10unive.htm]


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Nahrungsmittel, Hunger und die internationale Krise

Harry Cleaver (aus Zerowork: Political Materials No. 2, Fall 1977)

In den letzten Jahren hat eine zunehmende Zahl radikaler Gesellschaftskritiker die 1972 auftauchende Nahrungsmittelkrise untersucht und darüber geschrie­ben. Sie haben über diese Periode des Getreidehandels und der steigenden Preise im Westen sowie des Hungers in Afrika und Asien gegrübelt. Sie ver­suchten zu verstehen, wie aus den Lebensmittelüberschüssen der 60er Jahre die Knappheit der 70er Jahre geworden ist. Sie wollten die Ursachen benennen und die dafür Verantwortlichen herausfinden, um mit politischem Druck an der richtigen Stelle die Nahrungsmittelversorgung dauerhaft sichern zu können. Diese Arbeit hat viele nützliche Informationen geliefert und eine Reihe ge­fährlicher Mythen zerstört. Dennoch ist sie in eine Sackgasse geraten, da sie die Ursachen für die Krise nicht ausreichend bestimmen konnte. Sie wies da­her die Kämpfe zeitweilig in Richtungen, die sich nun als kontraproduktiv erweisen. Wir können dieser Sackgasse entrinnen. Dazu müssen wir zunächst sehen, wo die Ursachen für diese Fehler in den ansonsten wertvollen Studien zu finden sind.

Folgendes sind die wichtigsten Ergebnisse der neueren Untersuchungen: er­stens haben sie den Mythos zerstört, die Lebensmittelkrise sei ein durch Wet­terbedingungen oder Naturkatastrophen hervorgerufenes Naturphänomen; zweitens haben sie das Argument widerlegt, diese Krise beruhe auf einem Be­völkerungswachstum, das über die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion hinausgehe; drittens haben sie gezeigt, daß schon seit langem und auch heute genug Nahrungsmittel produziert werden, um die grundlegenden Nahrungsbe­dürfnisse aller Menschen auf der Erde zu befriedigen; viertens – und das ist das Wichtigste – entdeckten sie die Ursachen der Krise im Bereich der politi­schen Ökonomie des Kapitalismus. Die Schwächen der vorliegenden Untersu­chungen liegen in der Tendenz, sich auf eine Vielzahl besonderer institutio­neller Einrichtungen in diesem Bereich zu konzentrieren, ohne eine Analyse der zugrundeliegenden Klassenbeziehungen vorzunehmen. Die Institutionen können immer nur als Momente dieser Klassenbeziehungen verstanden werden. Radikale Gesellschaftskritiker, die sich nicht auf marxistische Kategorien be­ziehen, sehen die Ursachen der Krise tendenziell in einer ungleichen Vertei­lung von Reichtum und Produktionsmitteln, vor allem des Bodens und anderer landwirtschaftlicher Mittel. Sie neigen dazu, die großen und meistens multina­tionalen Konzerne für die ungleiche Verteilung und die daraus folgende Ar­mut und Unterernährung verantwortlich zu machen. Diese Konzerne monopo­lisieren die Ressourcen, beuten die Arbeiter und Kleinbauern aus, setzen na­turzerstörende und kapitalintensive Technologien ein, produzieren aus Grün­den der Profitmaximierung nur für die Zahlungskräftigen (oft für weit ent­fernte Exportmärkte) und untergraben so das Wohlergehen der Armen.[1] Mar­xistische Kritiker stimmen natürlich mit solchen Angriffen auf das Agrobu­siness überein, machen jedoch im "Imperialismus" – vor allem dem US-Impe­rialismus – einen weiteren Schuldigen aus. Imperialismus wird im allgemeinen als die auf die nationalstaatliche Macht gestützte Ausweitung des kapitalisti­schen Geschäfts verstanden.[2] Die grundlegende Schwäche dieser beiden Sicht­weisen liegt darin, daß sie den Kapitalismus als die einzig aktive Kraft anse­hen. Er erscheint - obgleich ein Übel – als expandierende, dynamische und weltumspannende Macht. Im Gegensatz dazu werden die landwirtschaftlichen Arbeiter und Konsumenten als weltweit gespalten dargestellt: passive Opfer (wie in der Sahel-Zone) oder Nutznießer (die besser ernährten westlichen Ar­beiter) des kapitalistischen Wachstums.

Daher sind die Artikel und Bücher dieser Kritiker vor allem entrüstete aber im wesentlichen pessimistische Klagelieder über die Schrecken, die der Welt von multinationalen Konzernen oder Entwicklungshilfeagenturen zugefügt werden – ergänzt durch wenig überzeugende Aufrufe zu Widerstand und Re­volte.[3] Die analytische Schwäche dieser Kritiker entlarvt sich genau in dem Moment, wo sie zur Revolte aufrufen. Denn bei genauerem Hinsehen liegt ein gähnender Abgrund zwischen der beschriebenen Welt unglücklicher Arbeiter und den angebotenen politischen Lösungen: sei es die romantische Vorstellung einer reformistischen Bewegung für Nahrung, von der die Milliarden-Dollar-schweren Konzerne überrollt werden, oder sei es das Konzept einer revolutio­nären Avantgardepartei, die all diese Opfer plötzlich zum dramatischen Sturm auf den heutigen Winterpalast führt. Angesichts dieses krassen Widerspruchs ist es nicht überraschend, daß die Menschen sich nicht um die Banner scharen, die auf solchen Analysen errichtet werden. Aber seien wir vorsichtig: der Wi­derspruch liegt nicht darin, daß der Kapitalismus völlig zutreffend als unter­drückerische Macht beschrieben wird. Was die Advokaten der gängigen An­sätze nicht sehen (oder absichtlich ignorieren), das ist die Macht der Arbeiter und der Zwang, den das Anwachsen dieser Macht auf das Kapital ausübt und es zur Veränderung treibt, zur eigenen technologischen und institutionellen Reorganisierung sowohl auf regionaler wie auf internationaler Ebene. Nur wenn wir diese Macht erkennen, können wir auch begreifen, daß Armut und Hunger keine bloßen Nebenprodukte der kapitalistischen Entwicklung darstel­len. Sie sind Instrumente der kapitalistischen Versuche, diese Klassenmacht unter Kontrolle zu bekommen. Unterentwicklung ist genauso wie Entwicklung sowohl eine Strategie als auch ein Prozeß.

Der Aufruf zum Kampf um Nahrung und gegen Hunger trifft in der Tat ziemlich genau den Punkt. Aber er ist kein Ruf in der Wüste. Die meisten ra­dikalen Gesellschaftskritiker übersehen, daß die Arbeiter genau für diese Ziele gekämpft haben und weiterhin kämpfen. Eben diese Kämpfe sind es, die soviel Hunger in der Welt beseitigt haben. Es liegt nicht am guten Willen des Kapitals und auch nicht an einer "Bestechung", wenn die Arbeiter der entwickelten Welt soviel besser ernährt sind als die Arbeiter in der Sahel-Zone, sondern das ist Ergebnis ihrer Kämpfe: diese haben dem größten Teil der Unterernährung in Nordamerika und Westeuropa ein Ende gesetzt – nicht das Kapital. Damit soll keinesfalls gesagt werden, die Arbeiter andernorts hätten nicht gekämpft. Aber nur wenn wir auf konkreten Erfolgen aufbauen, können wir die ge­mein­same Macht erlangen, mit der sich die Nahrungskrise überwinden und der be­ste­hen­de Hungers beseitigen lassen. Um die Wirksamkeit alternativer Strate­gien beurteilen zu können, müssen wir untersuchen, wie sich Kämpfe um die Pro­duk­tion und Verteilung von Nahrung entwickelten und wie sie zirkulierten. In diesem Artikel sollen zunächst einige Elemente einer klassenorientierten Analyse der Nahrungsmittel (class analysis of food) vorgeschlagen werden, d.h. ein Begriff der Nahrungsmittel als Moment des Klassenkampfs. Zweitens sollen mit Hilfe dieser Elemente die wichtigsten Nachkriegsphasen des Klas­senkampfs und der kapitalistischen Entwicklung in der ganzen Welt kurz un­tersucht werden. Dies erfordert einen Blick sowohl auf die 50er wie auf die 60er Jahre, obwohl der Schwerpunkt auf der gegenwärtigen Krise liegt. Ich kann in diesem Artikel nur die Anfänge einer angemessenen Analyse vorlegen. Aber ich hoffe, schon damit andere davon überzeugen zu können, an das "Nahrungsproblem" auf neue Weise heranzugehen – nämlich derart, daß wir durch die Betonung einer Klassenperspektive in Zukunft zu wirksamen Strate­gien gelangen.[4]

II. Nahrungsmittel und Klassenkampf

Bei einer klassenorientierten Analyse der Nahrungsmittel müssen wir davon ausgehen, daß der Gegenstand immer zwei Seiten hat: zwei Betrachtungswei­sen, die den beiden Hauptklassen in der kapitalistischen Gesellschaft entspre­chen. Aber gleichzeitig sind die beiden Seiten nicht voneinander getrennt, sondern beeinflussen sich gegenseitig als Aspekte der aufeinander einwirken­den Klassen. Da jede Seite für ihre eigenen Ziele kämpft, bewirken und er­zwingen diese Kämpfe Veränderungen auf der anderen Seite. Vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus sind Nahrungsmittel vor allem unsere grundlegenden Konsumgüter. Um zu leben und unser Leben zu genießen, sind wir auf sie angewiesen. Für das Kapital sind Nahrungsmittel zunächst eine Ware wie jede andere. Die Organisierung der Produktion und Verteilung von Nahrung hat die Landwirtschaft zu einem kapitalistischen Industriesektor gemacht, in dem Leute ans Arbeiten gebracht und ausgebeutet werden.

Gerade weil die Arbeiterklasse Nahrungsmittel in genügender Menge und Vielfalt erhalten will, um unsere Wünsche zu erfüllen, weiß das Kapital, daß seine Kontrolle über Produktion und Verteilung der Nahrungsmittel ihm eine beträchtliche Kontrolle über die Arbeiter verschafft. Die grundsätzliche Macht durch Nahrungsmittel liegt für das Kapital darin, die Arbeiterklasse dazu zu zwingen, für ihre Nahrungsmittel zu arbeiten.[5] Das Bedürfnis der Arbeiter­klasse nach Nahrung hat das Kapital dazu gebracht, den Mangel – d.h. Hunger – zu einem grundlegenden Bestandteil seiner Gesellschaftsordnung zu machen. Dies geht soweit, daß Hunger oder seine Androhung im Kapitalismus ende­misch sind. Letztlich versucht das Kapital, das Prinzip "Ohne Arbeit kein Es­sen" zur Lebensbedingung der Arbeiterklasse zu machen und so alle Subsi­stenzmittel in variables Kapital zu verwandeln. Dies ist seit der frühesten Ge­schichte des Kapitalismus der Fall. Die Geschichte der ursprünglichen Akku­mulation ist zum größten Teil die Geschichte der Abtrennung der Arbeiter von ihrem Land und damit von der Möglichkeit, sich selbst mit Nahrungsmit­teln zu versorgen. Die Resultate sehen wir heute sowohl in den städtischen Zentren, in denen das Kapital die Lebensmittelverteilung durch Einzelhandel und Preise kontrolliert, als auch im agrarischen Hinterland, wo diese Kontrolle durch die Manipulation des Bodens ausgeübt (manipulation of land) wird.

Aber die Arbeiterklasse steht dieser Macht des Kapitals nicht passiv gegen­über. Sie ist von der Industrialisierung der Landwirtschaft in doppelter Weise betroffen: von den technischen Aspekten der Nahrungsmittelproduktion, da viele von uns in diesem Sektor arbeiten müssen; von der Qualität und dem Preis der Produkte, da alle sie konsumieren müssen. In landwirtschaftlichen Gebieten kämpft die Arbeiterklasse auf vielfältige Art um die Kontrolle der Nahrungsmittelproduktion: durch den Kampf um Land, um gleiche und hö­here Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für landwirtschaftliche Lohnar­beiter, und auch um die direkte Aneignung der Ernte. Für die städtischen Ar­beiter bedeutet die Frage der Kontrolle über die Nahrungsmittelproduktion die Macht, die Quantität und Qualität des Angebots und des Konsums bestimmen zu können. Dies weist in eine andere Richtung als die üblichen Bemerkungen zur Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Die städtischen Arbeiter fordern ein stabiles Angebot mit guter Qualität und zu niedrigen Preisen. Sie tun dies nicht nur mit Konsumentenboykotten und ökologischen Protesten, sondern auch durch Lohnforderungen und direkte Aneignung in Form von alltäglichem Ladendiebstahl und periodischen Plünderungen.

Allein schon die Existenz der Landwirtschaft als getrennter Industriesektor ist ein Element dieser Kämpfe zwischen den Klassen. Dem Kapital dient die Arbeitsteilung in grundlegender Weise als Spaltungsinstrument, um die Arbei­terklasse zu schwächen. Diese Spaltung beginnt mit der Abtrennung der länd­lichen (Nahrungsmittel-produzenten) von den städtischen Arbeitern (Nah­rungsmittel-konsumenten). Der Preis bildet das Zentrum dieser Spaltung: ein hohes Einkommen der Bauern ist auf hohe Erzeugerpreise angewiesen, die das nicht-bäuerliche Realeinkommen verringern; ein hohes Einkommen der Indu­striearbeiter erzwingt angeblich, neben anderen Faktoren, hohe Preise für landwirtschaftliche Ausrüstung und Grundstoffe, was wiederum das Realein­kommen der Bauern verringert. Im allgemeinen ist diese Spaltung eine hierar­chische (wie alle Spaltungen im Kapitalismus), bei der die städtischen (ent­lohnten) Arbeiter ein höheres Einkommen als die ländlichen (nichtentlohnten) Arbeiter haben. Aber manchmal benutzt die Arbeiterklasse entweder diese Spaltung, um mit beeindruckender Härte für mehr Einkommen zu kämpfen, oder sie erzwingt durch Land-Stadt-Wanderung eine Neuzusammensetzung.

Innerhalb des Nahrungsmittelsektors ist die kapitalistische Organisation der Arbeit und der Bezahlung sehr unterschiedlich und entfaltet sich entsprechend der historischen Entwicklung des Klassenkampfs. Die Lebensmittelproduktion beruht nur zum Teil auf entlohnter Arbeit. Zahlenmäßig sind die Nichtent­lohnten sehr viel bedeutender – die Hunderte Millionen von Bauern und klei­nen Farmern, die das Land bearbeiten, und die Hausfrauen, die nicht nur beim Anbau helfen, sondern im allgemeinen die Nahrungsmittel für den häus­lichen Verbrauch verarbeiten. Daß Agrobusiness-Konzerne, die mit dem Ein­satz von Lohnarbeit Nahrungsmittel anbauen, verarbeiten und verteilen, kapi­talistische Institutionen sind, wird weithin erkannt. Aber erst kürzlich wurde erkannt, daß die mit der Nahrungsmittelproduktion und -verarbeitung be­schäftigten nichtentlohnten Gruppen nicht außerhalb des Kapitals stehen, son­dern ein wesentlicher Bestandteil von ihm sind. Selma James aus der "Lohn für Hausarbeit"-Bewegung hat in zwei grundlegenden Artikeln gezeigt, daß die Betrachtung der Hausfrauen und Bauern als nichtentlohnten Teil der Arbeiter­klasse bereits eine klare Aussage über ihre Beziehung zum Kapital ist.[6] Haus­frauen auf dem Land wie in der Stadt stillen Kinder und verarbeiten Nah­rungsmittel, und arbeiten damit als Reproduzentinnen sowohl ihrer eigenen Arbeitsfähigkeit als auch der ihrer Familie. Diese Fähigkeit wird vom Kapital als Arbeitskraft mobilisiert, im Austausch gegen die Verfügung über Subsi­stenzmittel (Löhne, Boden usw.). Ein Teil dieser Subsistenzmittel gelangt über den Mann oder den Staat (Wohlfahrt) vermittelt wieder zur Hausfrau. Auf­grund ihres nichtentlohnten Status kommt sie in eine schwächere und abhän­gige Position gegenüber ihrem entlohnten Mann.[7]

Unter etwas anderen Umständen arbeiten die Bauern ebenso wie die Haus­frauen an der Reproduktion von Arbeitskraft. Diese ist wie die von der Hausfrau produzierte Arbeitskraft nur formal eine "Reserve" im Verhältnis zu den Entlohnten. Am deutlichsten wird das dort, wo bäuerliche Arbeitskraft zum Teil als saisonale Lohnarbeit mobilisiert wird, wie es in den südafrikani­schen Goldminen geschieht. Die Dörfer, in die die halb-entlohnten Arbeiter für einen Teil des Jahres zurückkehren, entsprechen den Haushalten in den Städten. Die in diesen Dörfern geleistete Arbeit zur Produktion eines Teil der Subsistenzmittel für die Arbeiter erlaubt es dem Kapital, die Löhne niedrig zu halten. Die Bauern, die auf dem Land ohne jeden Lohn überleben, unterschei­den sich daher von den Halb-Entlohnten hauptsächlich dadurch, daß sie einen größeren Teil ihrer Zeit auf die eigene Reproduktion als "Reservearmee" ver­wenden. In den Fällen, wo Bauern darüberhinaus einen Überschuß für den Markt produzieren und ihre Erzeugnisse unter Bedingungen des ungleichen Tauschs an das Kapital verkaufen, erinnert dies eher an das Verhältnis von Stücklohnarbeitern zu ihren Bossen als an den Austausch zwischen unabhängi­gen Kapitalisten. Das Einkommen dieser Bauern hängt von der Quantität und Qualität ihres Produktionsausstosses ab und ähnelt daher eher dem Stücklohn als dem Profit. Die für die Stückarbeit charakteristischen langen und intensi­ven Arbeitszeiten werden gewöhnlicherweise in der bäuerlichen und klein­bäuerlichen Produktion tatsächlich angetroffen, vor allem wenn die Produzen­ten Grundstoffe vom Industriekapital erhalten (entweder direkt über Verträge oder Auftragsplanung, oder indirekt über den Markt) und ihre Erzeugnisse an dasselbe Kapital verkaufen.[8] Das Kapital kann sich die Überschüsse natürlich auch über Grundrente, Wucherzinsen oder Steuern aneignen. Letztendlich ist all diese nichtentlohnte Arbeit integraler Bestandteil der ständigen Reproduk­tion des Kapitals. In der erweiterten Reproduktion des Kapitals wächst die Zahl der Nichtentlohnten in gleicher Weise wie die der Entlohnten an.[9] Aber die Nichtentlohnten gehören nicht bloß aufgrund ihrer produktiven Funktionen zur Arbeiterklasse, sondern durch ihre Kämpfe gegen das Kapital haben sie ihren Platz im Klassenkampf und damit in der Theorie machtvoll geltend ge­macht.

Die Landverteilung steht im Zentrum der Kämpfe zwischen dem Kapital und dem in der Landwirtschaft beschäftigten Klassenteil. Marx hat im Kapi­tal den Landbesitz im Kapitalismus als die Domäne der Grundeigentümer analysiert, und die Landnutzung als Domäne der Kapitalisten, die Lohnarbei­ter beschäftigen. Er hat gezeigt, daß die Klasse der Grundeigentümer durch ihren Landbesitz das "Recht" auf einen Teil des Mehrwerts – nämlich die Rente – erhält.[10] Für Marx und für seine wichtigsten Interpreten auf diesem Gebiet, Kautsky und Lenin, war die Entwicklung der Landwirtschaft im Ka­pitalismus im wesentlichen ein einseitiger Prozeß der zunehmenden Umwand­lung vorkapitalistischer (nichtentlohnter) Agrarverhältnisse in Lohnverhältnisse (angeblich die Grundvoraussetzung des Kapitalismus) und die steigende Kon­zentration des Landbesitzes in den Händen von Großgrundbesit­zern/Kapitalisten.

Heute, nachdem sich die Bedeutung der Landverteilung im Kapitalismus ein Jahrhundert lang weiterentwickelt hat, können wir die Sichtweise von Marx sinnvollerweise wie folgt abändern. Die grundlegende Einsicht, daß der Boden selbst keinen Wert produziert, bleibt natürlich weiterhin wahr. Aber als die Bodenverteilung unter die direkte Kontrolle des Kapitals geriet, wurde sie zum zentralen Punkt in den Klassenauseinandersetzungen. Der Boden wurde zu ei­nem grundlegenden Instrument für den kapitalistischen Versuch, die Klasse zu spalten, die Nichtentlohnten gegen die Entlohnten und die verschiedenen Gruppen der Nichtentlohnten gegeneinander auszuspielen. Für die ländliche Arbeiterklasse, deren Situation von niedrigen Löhnen und ausgeweiteter "Ar­beitslosigkeit" gekennzeichnet ist, wurde der Boden zu einer Einkommens-"Garantie". Die letzten Jahrzehnte haben nicht nur gezeigt, daß der Kampf um Boden ein wichtiger Teil des Klassenkampfs sein kann. Es ist auch deutlich geworden, mit welchen Mitteln das Kapital oft versucht, nichtentlohnte Bezie­hungen unter verschiedenen Umständen aufrechtzuerhalten, wiederherzustellen oder sogar selbst zu schaffen. Besonders bezeichnend war in dieser Hinsicht die Unterstützung des Kapitals für tiefgreifende Landreformen in der frühen Nachkriegsperiode (siehe unten). In Japan, Deutschland und Taiwan wurden als Antwort auf Bauernkämpfe großangelegte Umverteilungen des Bodens vor­genommen. Gleichzeitig wurde jedoch die Ressourcenverteilung derart un­gleich gestaltet, daß die damit geschaffene Hierarchie unter den Landbesitzern ihre Einigkeit untergrub.

Das Schlüsselthema dieser Kämpfe ist die Verfügbarkeit der Arbeitskraft. Wird eine aktive Reservearmee benötigt, dann wird versucht, sie durch Bo­denkonzentration bereitzustellen. Wenn die Reservearmee ihre eigentliche Funktion verweigert, die Arbeit als Voraussetzung für Nahrung zurückweist und sich der ländlichen Revolution zuwendet, dann wird das Kapital mögli­cherweise auf Landreformen zurückgreifen. Im städtischen wie im ländlichen Bereich wurde in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, daß sich die Nichtentlohnten tatsächlich oft nicht für die Arbeit zur Verfügung stellen. Diese Nichtverfügbarkeit (für Lohnarbeit) wurde zu einem zentralen Moment der Krise des Kapitals in den 60er Jahren. Im Westen wandten sich Schwarze, Frauen und Studenten der Rebellion statt den Jobs zu und in vielen Ländern beteiligten sich die Bauern am Guerillakrieg und nicht an der kapitalistischen Entwicklung.[11]

Wir sehen jetzt, daß der Kampf um die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln keinesfalls einseitig ist: es handelt sich nicht einfach um die Unterdrückung der Arbeiter durch das Kapital, sondern ebenso wird dem Ka­pital von den Arbeiterkämpfen die Reorganisation aufgezwungen. Dies muß als ein internationales Phänomen erkannt werden. Es waren auch die Erfolge der Lohnarbeiter mit ihren Forderungen nach höheren Löhnen und die Erfolge der europäischen Bauern und nordamerikanischen Familienfarmer mit ihren Einkommensforderungen und ihrem Widerstand gegen die Landvertreibung, die das Kapital zur Suche nach nichtentlohnter Arbeit in Asien, Afrika und Lateinamerika zwangen. Neben der Suche nach Rohstoffen und neuen Märkten war es der Kampf um die Arbeitsbereitschaft, der das Kapital zur Annexion immer größerer Teile des Erdballs zwang. Während Sklavenhandel, Kolonia­lismus und der "Neokolonialismus" unserer Tage dazu dienten, die Welt in ei­ner kapitalistischen Totalität zu vereinen, so haben sie zugleich Verbindungen zwischen den Arbeitern auf der ganzen Welt geschaffen. Die "Imperialismus"-Forscher sehen in der Welt nur die Bewegung des Kapitals. Was wir erkennen müssen, das ist der internationale Charakter der Arbeiterklasse und die Zirku­lation ihrer Kämpfe um mehr, bessere und abwechslungsreichere Nahrung.[12]

Wir haben nun die grundlegende politische Bedeutung der Nahrung im Kampf zwischen Kapital und Arbeiterklasse um die Produktions- und Kon­sumbedingungen, um die Lebensbedingungen, bestimmt. Jede Seite ist aktiv – manchmal in der Offensive, manchmal in der Defensive. Die Form des Kampfs ist von den besonderen Kennzeichen der Arbeitsteilung und der Or­ganisationsformen der Arbeit abhängig. Die Entwicklung dieser Kämpfe er­klärt die Struktur des globalen "Nahrungsmittelsystems". Wie wir im folgenden sehen werden, sind eigentlich alle Aspekte dieses Systems Momente des Klas­senkampfs und werden von ihm umgeformt. Das betrifft nicht nur die Tech­nologie, sondern selbst die Nahrung und die Entwicklung des internationalen Handels.

Die Entwicklung des globalen Kampfs um Nahrungsmittel in der Nach­kriegszeit und der Ursprung der gegenwärtigen Weltnahrungsmittelkrise wer­den im folgenden an drei Kampfetappen skizziert: Die frühe Nachkriegsperi­ode bis in die 50er Jahre bildet die erste Etappe, in der die kapitalistischen Pläne für industriellen Wiederaufbau und Entwicklung überall auf der Welt mit einer neuen Woge des Klassenkampfs konfrontiert wurden – die Streik­welle in den USA nach dem Krieg, die antikolonialen und revolutionären Be­wegungen in Afrika und Asien, und die wachsende Macht der Arbeiter und Bauern gegenüber ihren Staaten in den sozialistischen Ländern. Da es nicht gelang, diese Welle durch industrielle Entwicklung einzudämmen, führte die Ausbeutung der Landwirtschaft zur zweiten Etappe – der Entwicklungsdekade. Sie beinhaltete Investitionen ins Humankapital, die Grüne Revolution, einen neuen Druck zur landwirtschaftlichen Zentralisierung in den USA und in Westeuropa, sowie neue Investitionen in der Sowjetunion und in Osteuropa. Die Zurückweisung dieser Globalstrategie durch einen internationalen Kampfzyklus der Arbeiterklasse in den 60er und frühen 70er Jahren verur­sachte die dritte Etappe: die gegenwärtige Krise.

III. Die Priorität der Industrie nach dem Krieg und die Ausbeutung der Landwirtschaft

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die USA und die Sowjetunion als Sie­germächte in ihren jeweiligen Einflußsphären nicht nur die bestimmenden Mächte, sie konnten auch den Wiederaufbau und die Entwicklung nach dem Krieg überwachen. In beiden Ländern standen die Planer vor dem Problem, aus den Kriegszerstörungen heraus einen neuen Wachstums- und Akkumulati­onszyklus in Gang zu bringen. Dennoch hatten sie es mit unterschiedlichen Problemen zu tun. Die sowjetischen Planer mußten den Wiederaufbau in Ge­bieten (im eigenen Land und in Osteuropa) durchführen, in denen die Arbei­terklasse durch Krieg, Besatzung und Konzentrationslager dezimiert worden war. Die US-Planer standen im eigenen Land einer militanten Arbeiterklasse gegenüber, die durch die Kämpfe während des Krieges ihre Macht deutlich ausgebaut hatte. Im Ausland waren sie mit den Arbeiterunruhen in Westeuropa und im entkolonialisierten Asien konfrontiert. Im Osten wie im Westen sollten das Nahrungsmittelangebot und das Verhältnis zwischen Landwirtschaft und industrieller Entwicklung im Zentrum beachtlicher Klassenkämpfe stehen.

Die USA und das Nachkriegseuropa

Noch vor Kriegsende war klar geworden, daß die Manipulation der Nah­rungsmittel eine bedeutende Rolle in der Klassenpolitik nach dem Krieg spie­len würde. In den USA hatte das Andauern der Arbeiterkämpfe während des Krieges den Planern vor Augen geführt, daß es eines inländischen Vollbe­schäftigungsprogramms bedurfte, um eine weitere politisch gefährliche Wirt­schaftskrise zu vermeiden. Dieser von der Arbeiterklasse aufgestellte Imperativ stand (neben bereits bestehenden US-Interessen in Übersee) hinter dem Bemü­hen der USA um wirtschaftliche Stabilität im Ausland. Es ging dabei nicht nur um die Schaffung von Absatzmärkten für US-Exporte, sondern auch um den Zugriff auf Regionen, in denen eingeschränkte Forderungen der Arbeiter­klasse Investitionen leichter zulassen würden.[13] Als die alliierten Armeen durch Europa und Asien zogen, folgten der militärischen Phase Nahrungsmit­tel-hilfe und Wiederaufbau, um eben diese Stabilität zu erreichen. Nicht das pure Mitleid der Kapitalisten gegenüber den Flüchtlingsproblemen, Hungers­nöten und Seuchen rief diese Programme des "humanen" Wiederaufbaus ins Leben, sondern die zu Kriegsende drohenden Arbeiterunruhen in Europa.

Zunächst sah es so aus, als seien die Hauptinstitutionen zur Organisierung der Nahrungsmittelplanung nach dem Krieg international konzipiert worden. 1943 wurden zwei dieser Organisationen im Rahmen des entstehenden Systems der Vereinten Nationen gegründet: die Food and Agriculture Organisation (FAO – Welternährungsorganisation) und die United Nations Relief and Reha­bilitation Administration (UNRRA - Verwaltung der Vereinten Nationen für Hilfe und Wiederaufbau). Im Unterschied zur UNRRA formulierte die FAO umfassendere Ziele und beschäftigte sich mit langfristigeren Planungen. Aber aufgrund ihrer Erfahrungen sollte die UNRRA die FAO daran hindern, zum Hauptzentrum der kapitalistischen Lebensmittelplanung zu werden. Obwohl die UNRRA als multinationale Organisation eingerichtet worden war, bezog sie ihre Nahrungsmittel durch das Combined Food Board. Dieses wurde von den USA und England kontrolliert und war in erster Linie mit Beamten aus diesen Länder besetzt. Von Anfang an war klar, daß es sich im wesentlichen um eine politische und nicht um eine humanitäre Organisation handelte. Die Ver­sammlungen, die zu ihrer Gründung geführt hatten, fanden Ende 1943 wäh­rend der bengalischen Hungersnot in dem noch unter britischer Herrschaft stehenden Indien statt. Als ein Delegierter eine Diskussion über diese Hun­gersnot beantragte, erklärte der vorsitzende britische Delegierte, der Vorschlag gehöre nicht zur Sache.[14]

Nachdem die UNRRA ihre Arbeit aufgenommen hatte, überraschte es nicht, daß sie Lebensmittel und andere Unterstützungsleistungen nach eindeutig po­litischen Kriterien in die kürzlich befreiten Gebiete schleuste. In Europa wurde der größte Teil der Hilfe dorthin gesandt, wo die Gefahr von Aufstän­den am größten war: mehr in den Westen als nach Osteuropa oder Rußland. In Asien ging die Hilfe hauptsächlich in die vom Westen kontrollierten Gebiete und in China an die Regionen, die nicht von der Roten Armee sondern von Nationalchina gehalten wurden. Trotzdem ließ die Hilfsgüterverteilung in den Augen der US-Beamten viel zu wünschen übrig. Insbesondere in China wur­den große Mengen der von der UNRRA gelieferten Nahrungsmittel, Kleidung und Ausrüstung von Kuomintang-Beamten auf dem Schwarzmarkt verkauft, was den politischen Nutzen des Materials in der Auseinandersetzung zunichte machte. Die nicht verkauften Nahrungsmittel wurden vor allem dazu benutzt, Millionen von Chinesen in "Wiederaufbauprojekte" einzubinden, die sich in aller Regel als Hilfen für Chiang Kai‑sheks militärische Operationen heraus­stellten. Der aufsehenerregendste Fall war die Umleitung des Gelben Flusses zur Überschwemmung kommunistischer Gebiete.

Aufgrund dieser Schwierigkeiten bei der Kontrolle der UNRRA und der Lenkung der Nahrungsmittelhilfen in China und anderen Gebieten, schränkten die USA ihre Abhängigkeit von multilateralen Körperschaften ein und ver­ließen sich stattdessen auf leichter kontrollierbare bilaterale Programme. Diese Wende wurde 1946 deutlich, als sich die USA sowohl der Weiterfinanzierung der UNRRA als auch dem Vorschlag des FAO-Generaldirektors Sir John Orr und des Ex-UNRRA-Chefs F. LaGuardia erfolgreich widersetzten, eine neue internationale Organisation (World Food Board) einzurichten, die Reserven unterhalten und den Nahrungsmittelhandel regulieren sollte. Dieser Plan wurde sowohl von privaten Gruppen in den USA wie von Truman und seinem Kabi­nett abgelehnt.[15] Nach dem Niedergang der UNRRA wurde die Nahrungsmit­telhilfe an das chinesische Festland und Chiang Kai‑shek bis zum Sieg der Roten Armee im Jahre 1949 direkt aus den USA geliefert. In Westeuropa wurde die UNRRA-Hilfe ebenfalls durch US-kontrollierte Unterstützung er­setzt – durch den Marshall-Plan.[16] Er wurde 1947 verkündet und bis 1952 ausgeweitet. Über ihn wurden die US-Exporte mit 13 Milliarden Dollar sub­ventioniert, wobei ein Hauptteil für Lebensmittel eingesetzt wurde, um Ar­beiterunruhen einzudämmen und den Wiederaufbau voranzutreiben. Durch diese spezielle Unterstützung für das europäische Kapital gelang es, die Ein­heitsfront-Opposition im Jahrzehnt nach dem Krieg zu überwinden und in Verbindung mit US-amerikanischen Investitionen eine neue Wachstumsphase einzuleiten.

Der Kampf um Nahrungsmittel und die Landwirtschaft in den USA

Die Nahrungsmittel-Reserven für die Kapitalstrategie in Europa speisten sich aus den landwirtschaftlichen Überschüssen der USA, die auf verschiedenen Formen der Preissubventionierung beruhten. Diese Subventionen bildeten einen wichtigen Teil der kapitalistischen Antwort auf den politischen Druck, der sowohl von den landwirtschaftlichen wie den nicht-landwirtschaftlichen Arbeitern ausgeübt wurde. Die wachsende Macht der Arbeiterklasse in den 30er Jahren und während des Krieges zwang das Kapital, die Forderungen der städtischen Arbeiter nach billiger und reichlicher Nahrung zu erfüllen – in der gleichen Weise, wie es zu Vollbeschäftigung und steigendem Lohnniveau ge­zwungen worden war.[17] Die dafür erforderliche deutliche Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität konnte nur durch eine Erhöhung des Far­mereinkommens mittels Subventionen erreicht werden, da sich die Farmer ohne diese Garantie geweigert hätten, in produktivitätssteigernde Technologien zu investieren. Daß die amerikanische Arbeiterklasse über zunehmend mehr und abwechslungsreichere Nahrungsmittel verfügte, war nicht einfach eine Laune der Geographie oder kapitalistische Berechnung, sondern muß als Er­gebnis ihrer Kämpfe begriffen werden.

Der Marshall-Plan und andere Exportsubventionen ergänzten die Zunahme der Inlandsnachfrage, die auf dem Anstieg des Arbeitereinkommens durch die Nachkriegs-Lohnerhöhungen beruhte. Das Ergebnis war ein dramatisches An­ziehen der Lebensmittelpreise, woran sich weitere Lohnkämpfe in der Indu­strie entzündeten. Der Preisindex für Nahrungsmittel sprang zwischen 1945 und 1948 von 106 auf 196, während der durchschnittliche Stundenlohn in der Fabrik zwischen 1945 und 1949 von 1,02 auf 1,41 Dollar anstieg.[18] Angesichts der Subventionen und des Produktionsaufschwungs wäre zu erwarten, daß wir steigende Einkommen und vielleicht sogar steigende Beschäftigung in der Landwirtschaft vorfinden. Das Gegenteil war der Fall: das durchschnittliche Einkommen in der Landwirtschaft lag in den Jahren 1948-1958 um 35 Prozent unter dem der Jahre 1942-1947 und die Beschäftigung ging ständig zurück - von 10 Millionen 1945 auf 7,1 Millionen 1960.[19] Dies erklärt sich aus dem Umstand, daß die Subventionen vor allem den großen Farmern zugute kamen, während kleine Farmer und Landarbeiter vom Land wegziehen mußten. Die Landflucht wurde außerdem durch produktivitätssteigernde technologische Veränderungen – insbesondere Mechanisierung und Agrochemie – verstärkt.

In den 40er und 50er Jahre vollzog sich die "amerikanische Düngemittel-Re­volution", die durch den rapiden Ersatz von stickstoffbindenden Pflanzen und Mist durch Kunstdünger verursacht wurde. Nach dem Krieg stieg das Dünge­rangebot stark an, da die Fabriken, die Stickstoff für TNT-Bomben produziert hatten, zur Düngerproduktion übergingen, und die großen Ölfirmen anfingen, in diese expandierende Industrie zu investieren. Durch die Forschungs- und Vorführprogramme der Tennessee Valley Authority und der Land Grant Colle­ges wurde die Entwicklung neuer Düngemittel und der Verkauf des wachsen­den Ausstoßes gefördert (indem sie die Farmer überzeugten, von traditioneller pflanzlicher Düngung auf Kunstdünger umzustellen).[20] Durch diese Wende waren die Farmer neben Heizöl, Benzin und Elektrizität nun auch auf Kunst­dünger angewiesen, was die Abhängigkeit der Landwirtschaft vom Energie­sektor verstärkte und letzteren immer mehr zu einem Bestandteil des Agrobu­siness machte. Obwohl der Einsatz von Kunstdünger kaum Arbeit einspart, konnten die zahlungskräftigen Farmer aufgrund der steigenden Produktivität diejenigen verdrängen, die nicht über das nötige Geld für den Dünger ver­fügten. Diese "Revolution" war das Vorspiel für die folgende Düngemittelof­fensive in der Dritten Welt und der Grund für die wachsenden ökologischen Probleme wie Bodenverschlechterung und Wasserüberdüngung, die mit der Verwendung von Kunstdünger einhergehen.

Die zweite Hauptmethode zur Erhöhung der Produktivität bestand im Einsatz arbeitssparender Maschinen. Diese Veränderung der landwirtschaftlichen Technologie entwickelte sich zum Teil als Antwort auf Landarbeiterkämpfe, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Die Mechanisierung der Ernte von Feldfrüchten wie Baumwolle oder Zuckerrüben orientierte sich an dem Vor­bild der Getreideernte mit Mähbindern, Dreschmaschinen usw. im 19. Jahrhundert und der Einführung von Traktoren im 20. Jahrhundert. Ein wichtiges Ergebnis dieser Tendenz war die massive Abwanderung der Schwarzen aus dem Süden. Insgesamt stieg der Kapitaleinsatz pro Arbeitsein­heit in der Landwirtschaft zwischen 1948 und 1966 um jährlich 5,6 Prozent, während sich der Produktionsausstoß pro landwirtschaftliche Arbeitseinheit in den Jahren 1948‑1953 um 6,2 Prozent und 1953‑1960 um 4,1 Prozent er­höhte.[21]

Die Verdrängung der Arbeitskräfte von den Farmen wurde vom Aufschwung der nicht-landwirtschaftlichen Nahrungsmittelindustrie begleitet. Zum Teil beruhte dies auf den Einkommenszuwächsen der Arbeiterklasse und der stei­genden Nachfrage nach leicht zugänglicher und abwechslungsreicher Nahrung. Ein Grund war aber auch die kapitalistische Beeinflussung dieser Nachfrage durch Produktdifferenzierung, irreführende Werbung und Panscherei. Auf der einen Seite wurde der in der Nahrungsmittelproduktion beschäftigte Klassen­teil durch die Entwicklung einer nicht-landwirtschaftlichen Lebensmittelindu­strie (und die Ausweitung des Einzelhandels usw.) weiter aufgespalten, auf der anderen Seite wurde dadurch die organische Zusammensetzung (Kapitalinten­sität) in diesem Sektor drastisch erhöht. Es wurde eine immer ausgefeiltere Maschinerie und Technologie entwickelt, um neue Produkte herzustellen und um Arbeiter zu ersetzen, deren fabrikmäßige Arbeitsbedingungen zunehmend zu Lohnkämpfen führten. Das steigende Einkommen der Arbeiterklasse und die Nachfrage der Hausfrauen nach arbeitssparenden Küchengeräten führte gleichzeitig zu einer schnellen Verbreitung von Kühlschränken, Gefriertruhen, elektrischen Geräten usw. in den Haushalten und zum verstärkten Konsum vorgefertigter Nahrungsmittel aus dem Geschäft. Sowohl die Manipulation der fabrikmäßig hergestellten Nahrungsmittel (Produktverfälschung usw.) wie die Veränderung der Küchenarbeit trugen zum Entstehen der Frauenbewegung und der Konsumentenrevolte in den 60er Jahren bei, die diese Aspekte der Kapitalstrategie bekämpften.

Die Entwicklung der Landwirtschaft in den USA kann nur aus einer glo­balen Perspektive richtig verstanden werden. Dies liegt nicht nur an ihrer ex­portorientierten Vermarktung, sondern auch an dem Einsatz einer großen Zahl aus dem Ausland importierter Arbeiter in der Produktion. Obwohl viele dieser Arbeiter aus Asien kamen (und in jüngster Zeit aus dem Mittleren Osten), war Mexiko die Hauptquelle für "ausländische" Arbeit. Immer wieder hat das US-Kapital auf den Pool billiger Arbeit in diesem Land zurückgegriffen. Jedesmal wenn steigende Löhne in der US-Industrie billige Arbeit knapp werden ließen, wurden die Grenzen geöffnet und Mexikaner in großem Umfang importiert. Aber wenn die Löhne relativ niedrig und Arbeitskräfte auf dem Land im Überfluß vorhanden waren (wie zur Zeit der Depression), dann wurden die Grenzen dicht gemacht. Die Mexikaner wurden zu Prügelknaben und genauso zahlreich deportiert, wie sie zuvor importiert worden waren. Vielleicht nir­gendwo anders wurde eine "bäuerliche" Bevölkerung so eindeutig gezwungen, als dermaßen flüssige Reservearmee zu dienen. Der ständige Fluß von Chi­cano-Arbeitern[22] über die Grenze der USA und wieder zurück hat sie zum klassischen Fall von mobiler "abstrakter Arbeit" gemacht, deren Billiglöhne auf der nichtentlohnten Subsistenzarbeit in ihren Dörfern beruhten. Zugleich hat dieser Prozeß die Rolle der Landesgrenzen als Instrument zur Kontrolle und Manipulation der Arbeiterklasse klar gezeigt.

Als in der Nachkriegsperiode in der Industrie Streiks aufflammten, allge­meine Lohnerhöhungen stattfanden und es 1947 in Kalifornien und anderswo zur Wiedergeburt der Landarbeiterkämpfe (der DiGeorgio-Streik) kam, folgte eine massive Ausweitung des offiziellen Bracero-Programms. 1948 hatte das Programm mit 25 000 Arbeitern begonnen und wurde im Zeitraum von 1956 bis 1960 auf über 400 000 pro Jahr ausgeweitet.[23] Dieses offizielle Programm des Arbeitskraftimports wurde durch einen noch größeren Zustrom von ille­galen Einwanderern ergänzt.[24] Dieser massenhafte Strom von Arbeitern in ländliche und sogar städtische Gebiete (East Los Angeles usw.) wurde mit alt­bekannten Methoden unter Kontrolle gehalten: verschärfte Spaltungen zwi­schen legalen (besser bezahlten) und illegalen (schlechter bezahlten) Arbeitern, hohe Fluktuation und politische Repression – z.B. die Operation Wetback[25] oder die McCarren-Gesetze[26], mit denen die Organisierungsversuche auf den Feldern und in den Barrios angegriffen wurden.[27] Diese Formen der geplanten wie der ungeplanten Einwanderung und des staatlichen Terrors, die eine Vorahnung von der vergleichbaren Situation der ausländischen Arbeiter im Europa der 60er Jahre gaben, schufen nicht nur eine internationale Verbin­dung. Sie zerstörten die ideologische Zweiteilung in Erste Welt (USA) und Dritte Welt (Mexiko) in dem Maße, wie die Klasseneinheit der Chicanos auf beiden Seiten der Grenze zusammengeschmiedet wurde (Aztlan[28]). Diese Ein­heit sollte sich später in verschiedenen Formen explosiv ausdrücken.

Die USA und das revolutionäre Asien

Inzwischen hatte es das US-Kapital in den ehemaligen Kolonien mit neuen ländlichen Gebieten zu tun, in denen es nun über Einfluß verfügte, aber mit denen es nicht sehr vertraut war. Es entwarf daher anhand der Erfahrungen im eigenen Land und in China eine Strategie, mit der das industrielle Kapital durch Abschöpfung landwirtschaftlicher Arbeit und Überschüsse ausgeweitet werden sollte.[29] Der Zusammenbruch der Kolonialmächte, der den Weg für die USA frei gemacht hatte, beruhte aber nicht nur auf dem Krieg. Er war ebenso das Ergebnis der Arbeiterrevolten in den Kolonien, die nun nicht nur den Erfolg der US-Expansion bedrohten, sondern die gesamte Zukunft der kapita­listischen Kontrolle über weite Teile des Erdballs in Frage stellten. Die rapide Verschlechterung der Situation in China, der bald der siegreiche Abschluß dieser Phase der Bauernrevolution folgen sollte, machte jahrzehntelange Be­mühungen vor allem des Privatkapitals zur "Rettung" des Landes zunichte. Ende der 40er Jahre tobte in vielen Teilen Südostasiens der ländliche Guerilla­krieg: In Malaysia waren die Briten in einen ausgedehnten Kampf mit Auf­ständischen verwickelt. Auf den Philippinen brachten die Hukbalahap[30] die von den USA gestützte Regierung in die Defensive. Auch in Korea erschüt­terten Bauernunruhen einen von den USA installierten Staatsapparat. Und in Indochina verloren die Franzosen rasch an Boden gegenüber der Vietminh. Nachdem die Stabilisierung in Europa abgeschlossen war, wurde diese Auf­standswelle zur Hauptsorge der kapitalistischen Planer. Wo es zum offenen Aufstand kam, bekämpften die USA oder ihre Marionetten ihn mit militäri­scher Gewalt. Aber aufgrund der Erkenntnis, daß militärische Aktionen immer nur eine kurzfristige Antwort auf das Anwachsen der Klassenmacht darstellen können, wurden auch verschiedene Programme der Landreform und des "na­tionalen Aufbaus" entwickelt.

Die langfristigen Bemühungen waren von der chinesischen Lektion geprägt: ohne stabile Verhältnisse auf dem Land kann es in einer überwiegend agrari­schen Gesellschaft keine dauerhafte Stabilität geben. Die Quelle der Instabilität wurde allgemein in der wachsenden Macht der Bauern gesehen, die ihre Ar­mut nicht mehr hinnehmen wollten. Außerdem waren die kolonialen und nachkolonialen Regierungen unfähig, die Nahrungsmittelproduktion ausrei­chend zu steigern, um die Forderungen der Bauern erfüllen zu können. Die geringe landwirtschaftliche Produktivität wurde als unvermeidliche Konse­quenz der reaktionären Landbesitzverhältnisse sowie der rückständigen Tech­nologie und Ausbildung betrachtet. Also riefen die Architekten der US-Politik kurzfristig nach Landreform und langfristig nach technologischer und kul­tureller Entwicklung.[31]

Dies war eine ausgesprochene "Reispolitik": das Kapital wurde von den Bau­ern zu einer ausreichenden Nahrungsmittelversorgung gezwungen, und man hoffte, daß sich damit ihr Hang zur Revolte verringern würde. John King schrieb 1953: "Der Hauptkampf gegen den kommunistischen Einfluß in Süd- und Südost-Asien dreht sich um den Lebensstandard seiner Völker. Der Kampf zwischen `Ost' und `West' besteht zum Teil in einem Produktionswett­lauf, dessen Symbol und Substanz der Reis ist."[32] Das langfristige Projekt zur Schaffung einer höheren landwirtschaftlichen Produktivität wurde von den privaten US-Stiftungen betrieben. Diese weitsichtigen Planungs-Institutionen des internationalen Kapitals begannen damit, neue Eliten von Ökonomen, Agronomen und Politikern zu schaffen, die eine neue Ära der Nahrungsmit­telproduktion verwalten sollten. Dazu finanzierten sie die Ausbildung im Aus­land und richteten vor Ort landwirtschaftliche Hochschulen und Forschungs­institute ein. Als Vorbild dienten dabei frühere Stiftungs-Projekte, insbeson­dere die der Rockefeller Foundation: Förderung des US-Federal Extension Service, Unterstützung landwirtschaftlicher Hochschulen in China in den 30er Jahren und Entwicklung von Nahrungsmittelforschung in Mexiko in den 40er Jahren.

Während der 50er Jahre wurden Counterinsurgency und Sozialtechnik aus den Nahrungsmittelüberschüssen der USA finanziert, die bis 1954 auf eine Milli­arde Scheffel <= 36,4 Mrd. Liter> anstiegen. Mit Hilfe des Public Law 480 wurden die Überschüsse für die Sicherung der kapitalistischen Strategie rund um die Welt bereitgestellt.[33] Dieses "Food for Peace"-Programm (Nahrungs­mittel für den Frieden) beruhte zwischen 1954 und 1960 zu über 25 Prozent auf US-Agrarexporten. Den Stiftungen verschaffte es Zeit, um nach einer dauerhaften Lösung für die ländlichen Klassenkämpfe in Asien zu suchen. Obwohl diese Fakten inzwischen weithin bekannt sind, wird eines oft überse­hen: die Regierungs- und Privatprogramme dieser Zeit, nach denen Nah­rungsmittel für politische Zwecke bereitgestellt werden sollten, waren eine Antwort auf weitverbreitete Arbeiterkämpfe. Die mit diesen Programmen ent­wickelten neuen Technologien und erhöhten Nahrungsmittelangebote waren nicht nur eine Initiative des Kapitals, sondern stellten eine Reaktion auf die Intensivierung und Internationalisierung der Klassenforderungen dar.

Ende der 50er Jahre veränderte sich an den offenen Kämpfen in Asien vieles. Trotz einiger Landreformen, Nahrungsmittelhilfen, militärischer Inter­ventionen und den Versuchen zum Aufbau neuer regionaler Eliten konnte das Maßnahmenbündel der Reispolitik keinen allgemeinen Erfolg herbeiführen. Die Guerilla-Bewegungen in Malaysia und auf den Philippinen wurden vor­übergehend zerschlagen, aber Korea konnte nur durch die Errichtung einer "sozialistischen" Ordnung in der einen Landeshälfte stabilisiert werden. In In­donesien enteignete das linke Sukarno-Regime holländische Privatfirmen. Im ländlichen Indien scheiterte das Gemeinde-Entwicklungsprogramm, während anhaltende Kämpfe in den Städten die Kapitalakkumulation dort verhinderten. Und die USA begannen in dem Sumpf zu versinken, zu dem sich ihre ver­hängnisvolle Exkursion in Indochina entwickeln sollte. Die Arbeiterklasse hatte einige Rückschläge erlitten, aber sie war bei weitem nicht geschlagen. Was aber zurückgeschlagen worden war, das war die Strategie des US-Kapitals, seinen militärischen Sieg im Zweiten Weltkrieg in eine erfolgreiche neue Ak­kumulationsphase zu übersetzen. Es sollte die Sache der Planer von Kennedys "New Frontier"[34] sein, einen neuen Ansatz zu entwickeln.

Kämpfe um Nahrungsmittel und Landwirtschaft in Rußland und Osteuropa

Während die Politarchitekten des US-Kapitals mit ihren neuen Verantwort­lichkeiten im eigenen Land, in Westeuropa und in großen Teilen der Dritten Welt beschäftigt waren, erneuerten die sowjetischen Bürokraten unter Stalin ihr gewohntes Konzept, mit dem sie die ländliche Arbeiterklasse kontrollierten und Nahrungsmittel für die Städte bereitstellten: die Kollektivierung. Dieser seit 1928 eingeleitete Prozeß bedeutete Repression und Zwangsarbeit auf den genossenschaftlichen (Kolchosen) und staatlichen (Sowchosen) Farmen. Die so geschaffene Organisationsform sollte die Autonomie der Bauern einschränken und die Aneignung eines maximalen landwirtschaftlichen Überschusses ermög­lichen, um mit diesem die Industriearbeiter zu ernähren und die Industrieim­porte zu finanzieren.

Diese Organisierung der Bauern trennte sie nicht nur strikt von den städti­schen Arbeitern, sondern spaltete sie auch untereinander. Auf den Kolchosen waren die Arbeiter in der Regel nichtentlohnt und lebten von ihrer Privat­parzelle und einem kleinen Anteil am Kollektivprodukt. Auf den Sowchosen waren die Arbeiter vom Staat angestellt und erhielten Löhne. Wie im Westen waren auch diese Spaltungen hierarchisch: die Arbeiter in den Städten hatten gewöhnlich ein höheres Einkommen als die Bauern, und auf den Sowchosen wurde deutlich mehr verdient als auf den Kolchosen. Außerdem wurde auf den Kolchosen und Sowchosen die Spaltung zwischen den Geschlechtern, ge­nauso wie in den asiatischen Dörfern oder auf den Farmen des Westens, dazu benutzt, die Schichtung zu verstärken. Zusätzlich zu ihrer Verantwortung für die Hausarbeit mußten die Frauen die schweren und schlecht bezahlten Ar­beiten verrichten. Die wichtigste Veränderung dieses Systems, die Stalin nach dem Krieg einführte, war die verschärfte Regierungskontrolle über die Kol­chosen. Dazu wurden sie zwangsweise in wenigere und größere Einheiten zu­sammengeschlossen.[35] Die Verwüstungen der Kriegszeit und die Erfahrung der Zwangskollektivierung und der Konzentrationslager machten diesen anhaltend hohen Ausbeutungsgrad möglich. Aber Ende der 40er Jahren führte dies (nach den Memoiren von Chruschtschow) zu einer Wiederholung der Hungersnöte der 30er Jahre und der daraus folgenden Bauernunruhen.

In Osteuropa war die sowjetische Politik genauso hart. Die Eintreibung der Kriegsreparationen beraubte Osteuropa eines großen Teils seiner industriellen Kapazität, aber die städtischen Arbeiter profitierten von einigen darauf fol­genden Investitionen ins "Humankapital" (Verbesserung der medizinischen Versorgung, Ausbildung usw.). Die Behandlung der Bauern war jedoch wieder brutal: die anfänglichen Bodenumverteilungen in der Nachkriegszeit, mit denen die Bauern für die Kommunisten gewonnen werden sollten, wurden bald von der Zwangskollektivierung abgelöst. Die sowjetische Besatzungsarmee unterstützte diesen Prozeß, indem sie die unabhängige Macht der Landarbeiter zerschlug. Genauso wie in Westeuropa konzentrierten sich die russischen Be­mühungen in Osteuropa stärker auf die industrielle als auf die landwirtschaft­liche Entwicklung. Aber während Westeuropa auf Nahrungsmittel aus den USA zurückgreifen konnte, um die Forderungen der Arbeiterklasse zu befrie­digen, wies Rußland eine Beteiligung an der Marshall-Plan-Strategie zurück. Stattdessen versuchte es, die industrielle Akkumulation durch die Auspressung der Bauern zu finanzieren.[36]

Diese sowjetische Strategie der Repression und der maximalen Ausbeutung führte zu vielfältigen Formen von Widerstand und Revolte. In Rußland selbst schlossen die bäuerlichen Kämpfe verschiedene Formen der Arbeitsverweige­rung ein: Arbeit in der Staatsproduktion wurde zur Privatproduktion für den persönlichen Konsum eingesetzt; Abwanderung aus den ländlichen Gebieten in die Städte, um höhere Löhne zu erhalten; und sogar isolierte Guerilla-Aktio­nen. Obwohl der Staat die Größe der Privatparzellen strikt begrenzte, war diese Abzweigung von Arbeit äußerst erfolgreich. So wird geschätzt, daß die auf den Privatparzellen verrichtete Arbeit selbst heute mehr als 30 Prozent der gesamten russischen Agrarerzeugung erwirtschaftet (vor allem bei Gemüse und Viehzucht) und den Kolchosen-Familien über 40 Prozent ihres Realeinkom­mens einbringt. Was die Nachkriegs-Migration betraf, so überstieg die Ab­wanderung vom Land schon bald die Bevölkerungsverschiebungen, die der Staat zur Bedarfsdeckung für die Industrie geplant hatte. Zwischen 1929 und 1959 gingen ungefähr 43 Millionen Bauern in die Städte, wodurch die städti­sche Bevölkerung auf über 100 Millionen anwuchs.[37] Die Kämpfe der Bauern zirkulierten zum einen durch die direkte Migration in die Städte, aber auch durch die Lebensmittelknappheit, die aus dem unkooperativen und unproduk­tiven Verhalten der auf dem Land Zurückgebliebenen resultierte. In den neu annektierten Gebieten der Westukraine und Litauens nahm der Widerstand der Bauern durch Gruppen wie die "Partisanen-Armee der Ukraine" die Form des bewaffneten Guerillakampfs an.[38] Die gleichen Triebkräfte waren in Osteu­ropa am Werk und nach Stalins Tod im Jahre 1953 explodierten die Kämpfe in einer größeren Aufstandswelle, die der Kollektivierung ein Ende setzte: 1953 in Ungarn und Ostdeutschland, 1956 in Polen. Wo sich die städtischen Arbeiter den Bauern anschlossen, wie in der ungarischen Revolte von 1956, inter­venierte die Sowjetunion auf militärische Weise – fast genauso wie die USA in Asien. Aber trotz der Intervention fanden die osteuropäischen Kämpfe in der Sowjetunion selbst einen Widerhall. Es kam zu Sympathiestreiks und die Mit­arbeit bei der Repression wurde verweigert. Die russischen Planer waren daher wie ihre US-amerikanischen Kollegen gezwungen, Programme zur Erhöhung des Lebensstandards einzuleiten.

Die Kämpfe bewirkten zwei größere Änderungen in der sowjetischen Strate­gie.[39] Mitte der 50er Jahre unternahm die sowjetische Führung erste Schritte, um eine höhere Getreideerzeugung durch das Umpflügen von Brach- und Grasland und durch die Kultivierung neuer Gebiete in Sibirien und Kasach­stan zu erreichen. Diese Strategie erforderte in der Anfangsphase zwar erheb­liche Investitionen. Aber mit ihr sollten die Ernteerträge gesteigert und die Arbeiterforderungen erfüllt werden, ohne auf größere Investitionen in neue Technologien und die damit verbundene Erhöhung der organischen Zusam­mensetzung in der Landwirtschaft angewiesen zu sein. Die "Urbarmachungs"- und "Umpflüge"-Kampagnen waren von einem ständigen Druck auf die Kol­chosen begleitet, sich zu größeren Einheiten zusammenzuschließen und in Sowchosen unter direkterer staatlicher Kontrolle umzuwandeln. Die zweite größere Veränderung der Strategie bestand darin, deutliche Erhöhungen des bäuerlichen Einkommens zuzugestehen. Zwischen 1953 und 1967 hat sich das Gesamteinkommen der russischen Landbevölkerung schätzungsweise mehr als verdoppelt. Um das gestiegene Einkommen als Arbeitsanreiz benutzen zu kön­nen, wurde auf den Kolchosen die Lohnarbeit stark ausgeweitet. Zu diesem Zweck wurde die Aufteilung des Nettoprodukts (abzüglich des Staatsanteils) zum Jahresende durch monatliche Barauszahlungen, in der Regel auf Stück­lohnbasis, ersetzt.

Gemessen an den kurzfristigen Ertragssteigerungen war das Urbarmachungs-Programm zunächst ein Erfolg: 1958 war der landwirtschaftliche Ertrag gegen­über 1953 um 50 Prozent gestiegen. In den letzten Jahren von Chruschtschows Amtsperiode wurden aber die Grenzen dieser Methode deutlich: erstens führ­ten die Monokulturen auf den neuen Ländereien und das verkürzte Brachlie­gen zu sinkenden Erträgen und zweitens übertrafen die Lohnzahlungen – trotz des etwas geringeren Lohn- und Preisanstiegs zwischen 1958 und 1965 – die Produktivitätssteigerungen bei weitem. Und obwohl die Bezahlung für Kollek­tivarbeit verbessert wurde, stieg in den Jahren 1953 bis 1963 der Zeitanteil weiter an, der auf den Privatparzellen verbracht wurde. Und es gelang auch nicht, die Abwanderung in die Städte in nennenswerter Weise zu verlang­samen. Mit den Nahrungsmittelaufständen von 1959 und 1969 wurde endgültig deutlich, daß es der Agrarpolitik von Chruschtschow nicht gelungen war, die Forderungen der städtischen Arbeiter zu befriedigen. Anfang der 60er Jahre folgten weitere Produktionsrückschläge und es kam daraufhin 1962 zu erneu­ten Lebensmittelprotesten, als die Regierung die Preise zu erhöhen versuchte. Dies zwang den Kreml zu umfangreichen Nahrungsmittelimporten (zum Teil aus den USA) und trug zum Sturz Chruschtschows 1964 bei.[40]

Fassen wir zusammen: In den 50er Jahren hatte der Klassenkampf in weiten Teilen der Welt das Kapital zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion ge­zwungen. Dabei versuchte es, diese Erhöhung ohne größere technologische Veränderungen in der Agrarproduktion zu erreichen. Erst in den 60er Jahren folgte die übrige Welt dem Beispiel der USA und nahm produktivitätsstei­gernde Investitionen in der Landwirtschaft vor. Und dieser Wechsel fand schließlich nur deswegen statt, weil die vorrangig auf die Industrie ausgerich­teten Akkumulationsstrategien weder die Kämpfe der Industriearbeiter noch die der Farmer und Bauern eindämmen konnten.

IV. Aufstieg und Fall der Entwicklungsdekade

Die Einleitung der Entwicklungsdekade war eine Antwort auf das Versagen vorhergehender Maßnahmen, den Klassenkampf einzudämmen oder zu bändi­gen. Es handelt sich um eine Periode, in der die vom Kapital in vielen Regio­nen der Welt angewandten Nahrungsstrategien ungewöhnlich einheitlich waren. Statt sich um Stabilität zu bemühen und aus einer mehr oder weniger traditio­nellen Agrartechnik Überschüsse herauszuziehen, war das Kapital weltweit gezwungen, die "amerikanische Lösung" zu übernehmen – die Einführung größerer produktivitätssteigernder Innovationen, die sowohl ein höheres Ein­kommen für die Arbeiterklasse als auch einen größeren Überschuß für die in­dustrielle Produktion möglich machen sollten. Diese Entwicklungsstrategie für Nahrungsmittel, die in den 60er Jahren in West und Ost in Gang gesetzt wurde, bedeutete die Ausweitung des keynesianischen Produktivitätsdeals auf die Landwirtschaft: durch die Kopplung höherer Löhne an eine höhere Pro­duktivität sollte der Klassenkampf um mehr Einkommen als Triebfeder der Akkumulation genutzt werden. Der Beginn der Entwicklungsdekade wurde im Westen durch den Machtantritt John Kennedys und seiner Experten signalisiert und ihr bekanntestes Produkt war die Grüne Revolution in Asien. Im Osten war der Beginn unterschiedlich, aber die zuerst in der Sowjetunion (und in China) und dann in Osteuropa eingeleiteten Veränderungen wiesen fast diesel­ben Merkmale auf: ein neuer Vorrang für Investitionen in die Landwirtschaft und höhere Einkommen für die Nahrungsmittel-Produzenten wie -Konsu­menten im Austausch gegen (hoffentlich) mehr Arbeit.

Nahrungsmittelkämpfe in den USA

In dieser Phase stand das US-Kapital vor drei größeren Problemen im eigenen Land: erstens die Rebellion der Schwarzen im Süden und dann im Norden, zweitens das Anwachsen der Konsumentenbewegung im ganzen Land und drittens eine neue Runde in der Organisierung der Farmarbeiter und der Aus­dehnung der Chicano-Bewegung im Südwesten.

Auf das erste Problem antwortete das Kapital sowohl mit weiterer Repres­sion wie mit subtileren Entwicklungsstrategien. Die militärische Unterdrüc­kung der Aufstände und die COINTELPRO-Unterwanderung der Black Pan­ther und anderer militanter Gruppen wurde von Armutsprogrammen begleitet, mit denen die von schwarzen Frauen vorangetriebenen Kämpfe um Sozialhilfe geschwächt werden sollten. Dazu wurde das vom Staat geforderte Geld über spezielle Programme (einschließlich Lebensmittelmarken) verteilt, um dadurch die Bewegung kontrollieren und in eine für das wirtschaftliche Wachstum günstige Richtung lenken zu können. Aber die schwarzen Frauen und arbeits­losen Jugendlichen nahmen das Geld und die Nahrungsmittel, ohne sich dafür zu disziplinierten Lohnarbeitern und -arbeiterinnen machen zu lassen. Indem sie ihre Stärke in den Ghettos entfalteten, griffen sie nun auch die Spaltung zwischen der nichtentlohnten Gruppe der Hausfrauen und Straßenjugendlichen und den entlohnten Fabrikarbeitern an.[41]

Das zweite Problem, das Auftauchen der Konsumentenbewegung, war eng mit der Frauen- und der Ökologiebewegung verbunden. Im wesentlichen han­delte es sich hierbei um eine Reaktion auf den kapitalistischen Versuch, die Einkommenszuwächse der Arbeiterklasse in Profite umzuwandeln. Die Bewe­gung griff die unsägliche Panscherei des "chemischen Festmahls" an, das den Menschen geboten wurde. In der gleichen Weise attackierte sie die irrefüh­rende Werbung und Preisgestaltung, mit denen überteuerte, nutzlose und schädliche Produkte verkauft wurden. Mit dem Anstieg der Inflation bekam die Frage der Preise eine größere Bedeutung in der Bewegung, was aber zu keinem Zeitpunkt das Niveau eines Massenkampfs vergleichbar der italieni­schen Bewegung für Selbstreduzierung der Preise erreichte. Obwohl große Teile der Bewegung von Leuten wie Ralph Nader[42] von einer klassenpoliti­schen Auseinandersetzung abgehalten wurden, steckte in ihr trotzdem die For­derung der Arbeiterklasse, die Menge und Qualität der ihr zugänglichen Nah­rungsmittel selbst bestimmen zu können.[43]

Mit dem Ende des bracero-Programms <1964> verlor das Agrobusiness ein Instrument, mit dem es die Chicanos untereinander und gegenüber anderen spalten konnte. Da die "Drohung der auswärtigen Arbeit" schwächer wurde – ohne ganz wegzufallen, weil der Import "illegaler" Arbeiter und Arbeiterinnen weiter ging – weitete sich die Organisierungs­kampagne unter den Landarbei­tern in den 60er Jahren beträchtlich aus. Teil dieser Kampagne war die Ein­leitung der Konsumentenboykott-Strategie, die eine Produzenten-Konsumen­ten-Verbindung zwischen der United Farm Workers (UFW)[44] und Millionen anderen, hauptsächlich weiblichen, ArbeiterInnen im ganzen Land herstellte. Durch die Unterstützung der Hausfrauen/Einkäuferinnen und Studenten konnte die UFW in den Jahren 1965 und 1966 dramatische Erfolge erzielen. Das Kapital antwortete darauf mit einem geplanten Gegenangriff: mit Hilfe der Mechanisierung wollte es aufrührerische Arbeiter loswerden, die UFW sollte durch eine Firmengewerkschaft ersetzt werden und an die Stelle der Ar­beitsmigration die Migration des Kapitals treten.

Angesichts der drohenden Landarbeiterkämpfe wurde bereits seit einiger Zeit die Entwicklung arbeitssparender Technologien für Obst und Gemüse be­trieben. Über die Land Grant Colleges und landwirtschaftliche Versuchsan­stalten des Staats wurde diese Entwicklung vom Agrobusiness und der Regie­rung vorangetrieben und finanziert. Nach dem mechanischen Baumwollpflüc­ker gelang einer der wichtigsten Durchbrüche bei Obst und Gemüse: der me­chanische Tomatenpflücker zusammen mit einer neuen Sorte harter Tomaten, die von der Maschine nicht zerquetscht wurden. Solange billige Chicano-Ar­beit verfügbar war, kamen die teuren Maschinen kaum zur Anwendung: 1961 wurde lediglich ein Prozent der Tomaten maschinell geerntet und dieser Anteil erhöhte sich bis 1964 nur auf 3,8 Prozent. Aber mit dem explosiven Wachstum der Landarbeiterkämpfe stieg der Einsatz dieser Technologie sprunghaft an. 1966 wurden fast 66 Prozent der Tomaten maschinell geerntet und 1969 war der Übergang mit 99,5 Prozent nahezu vollständig vollzogen. Mit dem Einsatz der Maschinerie wurde die Feldarbeit nicht völlig beseitigt, aber sie wurde wesentlich verringert und umstrukturiert. Die Zahl der Handarbeiter bei der Tomatenernte fiel zwischen 1964 und 1972 von 50 000 auf etwa 18 000, wäh­rend die Produktion um 50 Prozent anstieg. Gleichzeitig wurden die männli­chen Arbeiter (die in gebückter Haltung auf den Feldern gearbeitet hatten) durch schlechter organisierte Hausfrauen aus der Umgebung ersetzt, die nun die Sortierarbeit auf den Maschinen verrichteten.[45]

Die Kämpfe und Erfolge der Landarbeiter waren in den Bereichen am größten, in denen die Maschinisierung durch die Art der Früchte technisch am schwierigsten war. Der herausragende Fall waren die Schlachten der UFW bezüglich der kalifornischen Weintrauben. In solchen Situationen griffen die Plantagenbesitzer auf eine andere Taktik zurück: sie strebten Verträge mit ei­ner Gewerkschaft an, die sich als kooperativer als die UFW erwies, nämlich den Teamsters[46]. Unter dem Deckmantel des "gewerkschaftlichen Wettbewerbs" führten die Verhandlungen zwischen den Plantagenbesitzern und der Team­ster-Bürokratie zu "sweetheart"-Verträgen, die die Bedürfnisse der Arbeiter weitgehend außer acht ließen. Die UFW antwortete darauf mit einem massiven Streik/Boykott gegen Perelli-Minetti, der als erster Plantagenbesitzer 1966 mit den Teamsters abgeschlossen hatte. Im folgenden Jahr wurden die Teamsters herausgedrängt und 1970 gelang es der UFW, größere Verträge mit den kali­fornischen Plantagenbesitzern von Wein- und Tafeltrauben abzuschließen.[47]

Die Verlagerung der Investitionen über die Grenze nach Mexiko bildete das dritte Moment der kapitalistischen Antwort auf die Landarbeiter. Diese Bewe­gung war nicht völlig neu, aber in den 60er Jahren beschleunigte sie sich ra­pide und führte zwischen 1964 und 1973 zu einem Anstieg der US-Gemü­seimporte aus Mexiko von 36 auf 176 Millionen Dollar. Diese Bewegung ist sehr oft als eine kapitalistische Methode dargestellt worden, mit der die Macht der Landarbeiter unterlaufen werden sollte. Aber wie bei den technologischen Veränderungen wurde auch hier erstaunlicherweise ignoriert, daß diese Bewe­gung dem Kapital durch die Landarbeiterkämpfe aufgezwungen wurde: sie war die Flucht des Kapitals vor der wachsenden Arbeitermacht und nicht einfach ein weiterer listiger Schachzug.[48] Darüberhinaus trug dieses Manöver des landwirtschaftlichen Kapitals und der Aufbau grenznaher Industrien seitens des industriellen Kapitals dazu bei, die Ausbreitung der Kämpfe auf der an­deren Seite der Grenze zu beschleunigen und die Macht der Landarbeiter in Mexiko selbst aufzubauen.

Außerdem waren die Kämpfe der Chicanos nicht auf die Felder und Super­märkte begrenzt: die anwachsende Bewegung umfaßte das gesamte Gebiet von La Raza.[49] In den Städten begannen Chicano-Gruppen, um ihren Anteil an den Armenfonds zu kämpfen. In East Los Angeles entstanden die Brown Be­rets, eine den Black Panthers vergleichbare Organisation, und nichtentlohnte Chicano-Frauen beteiligten sich an den Kämpfen der schwarzen Frauen um Sozialhilfe. Ungefähr zur gleichen Zeit rief Reies Lopez Tijerina eine Land­besetzungsbewegung in Neumexiko ins Leben und Jose Gutierrez gründete zusammen mit anderen die Mexican-American Youth Organisation (MAYO, Mexikanisch-Amerikanische Jugendorganisation). Sie fingen an, die organisa­torischen Strukturen aufzubauen, die zur La Raza Unida (Partei des vereinig­ten Volkes) und 1970 zur Machtübernahme in Crystal City und Zavala County in Texas führen sollten. Ende der 60er Jahre gerieten die Bewegungen der Landarbeiter und Chicanos, gleich denen der Schwarzen, Frauen, Studenten, Soldaten usw., schnell völlig außer Kontrolle.

In dieser Zeit war in den gesamten Vereinigten Staaten eine Agrarpolitik bestimmend, wie sie in den 50er Jahren praktiziert worden war. Kennedys Agrarpolitik setzte die Subventionierung der Preise fort, betonte aber etwas stärker als frühere Regierungen die Produktionskontrolle. Neben der Beschleu­nigung der Mechanisierung und dem zunehmend teurer werdenden Einsatz von chemischen und biologischen Stoffen, führte diese Politik zu einer ständig steigenden Konzentration des Landbesitzes und zum Rückgang der Arbeits­kräfte. Die Gesamtzahl der Farmen verringerte sich von 3,96 Millionen im Jahre 1960 auf 2,95 Millionen 1970. Die Zahl der landwirtschaftlichen Ar­beitskräfte fiel im gleichen Zeitraum von 5,49 auf 3,46 Millionen und deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung sank von 8,3 auf 4,4 Prozent.[50] Dieser an­haltende Konzentrationsprozeß in der Nahrungsmittelindustrie, vor allem bei der Erzeugung und dem Handel von Getreide, sicherte einen ständigen Über­schuß von Nahrungsmitteln, mit dem die neue Strategie des US-Kapitals im Ausland unterstützt wurde.

Grüne Revolution gegen Rote Revolution

Die US-Planer waren mit der Aussicht konfrontiert, daß die Situation sowohl im Ausland wie zuhause weiterhin unruhig bleiben würde: angefangen von den hartnäckigen Aufstandsbewegungen in Indochina und Afrika bis hin zu den bäuerlichen und industriellen Unruhen in Südasien und Lateinamerika. Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre waren sie daher gezwungen, ihre Theo­rien und die damit verknüpften Strategien bezüglich Nahrung und Landwirt­schaft neu zu formulieren. Es waren weiterhin die Revolten gegen Armut und Hunger, die der kapitalistischen Expansion Grenzen setzten. Aber die Ideolo­gie der Planer machte die Bereitschaft zur Revolte nun zunehmend weniger am Mangel als solchem fest, sondern sie sahen ihren Ursprung in den enttäu­schenden Erfahrungen, die die Arbeiter in Zeiten eines begrenzten wirtschaft­lichen Wachstums machten. In solchen Phasen gerieten die traditionellen Ge­sellschaftsstrukturen ins Wanken, während die neue Organisation der Produk­tion die Bedürfnisse der Menschen noch nicht befriedigen konnte. Diese Sichtweise bedeutete für die Agrarstrategie folgende vier Punkte: Verlang­samung der gesellschaftlichen Umstrukturierung wie Landreform und Gemein­deentwicklung; Steigerung der landwirtschaftlichen Investitionen zur Erhöhung der Produktivität und des Nahrungsangebots; Entwicklung neuer Aufstandsbe­kämpfungs-Konzepte unter Einbeziehung des Militärs in wirtschaftliche und soziale Programme; und schließlich das Vorantreiben von Familienplanung und Geburtenkontrolle, um das Anwachsen einer Arbeiterklasse zu begrenzen, die sich weigerte, produktiv und zu profitablen niedrigen Löhnen zu arbeiten. Dieses Bündel bildete den Dritte-Welt-Aspekt an Kennedys neuer, mit Hilfe der New Frontier durchgeführten, "flexible response"-Strategie. Die Peitsche der Aufstandsbekämpfung diente zur Kontrolle offener Bauernunruhen und wurde in Südostasien und Lateinamerika auf breiter Ebene eingesetzt. Das Zuckerbrot des gesteigerten Konsums sollte durch die Grüne Revolution si­chergestellt werden.[51]

Die frühere, von der Rockefeller Foundation finanzierte Forschung erwies sich nun als äußerst nützlich. Anfang der 50er Jahre waren neue, hochertrag­reiche Weizensorten entwickelt worden, mit deren Hilfe Mexiko Anfang der 60er Jahre vom Nettoimporteur zum Nettoexporteur von Weizen werden konnte. Ausgehend von diesem Erfolg startete die Stiftung einen globalen Versuch, die neue Nahrungstechnologie in allen Weizenanbaugebieten der Dritten Welt einzuführen. Die Ford Foundation begann derweil, ihre Unter­nehmungen in Indien von der Gemeindeentwicklung auf die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität zu verlagern. 1960 initiierte sie das Intensive Agricultural District Program (Intensivprogramm für landwirtschaftliche Ge­biete), mit dem den modernsten, kreditwürdigsten und mächtigsten Bauern Mittel für die Steigerung des Bruttoertrages zur Verfügung gestellt wurden. 1962 gründeten die beiden führenden Stiftungen mit vereinten Kräften das International Rice Research Institute (Internationales Reisforschungsinstitut) auf den Philippinen, das noch schneller als das mexikanische Projekt zu Erfol­gen führte. Innerhalb von kaum drei oder vier Jahren wurde mit verschie­denen "Wundersorten" der Reisertrag auf den Philippinen gesteigert und stand für den Export zur Verfügung.

Parallel zur Entwicklung von hochertragreichen Getreidesorten wurde der Einsatz von Kunstdünger ausgeweitet, wie wir oben schon andeuteten. Die in den 50er Jahren gewaltig angewachsene Düngemittelindustrie der USA und Europas stellte die Exportkapazität bereit, die für die Strategie der Hocher­tragssorten erforderlich war. (Denn die neuen Anstrengungen waren auf den Einsatz von Dünger im großen Maßstab angewiesen). Das Wachstum der Kunstdüngerproduktion spornte die Öl- und Düngemittelkonzerne aber auch zur Suche nach neuen Absatzmärkten an, da sie zuhause vor dem Problem der Überproduktion standen. Die Industrie entschied sich daher gemeinsam, neben den Bemühungen überseeischer Geschäftspartner die neue UN-Kampagne Freiheit von Hunger als Instrument für ihre expansionistische Politik zu be­nutzen. Eine Gruppe aus us-amerikanischen und europäischen Vertretern ver­schiedener Firmen teilte der FAO im Jahre 1960 mit, die Industrie werde ko­stenlos Dünger liefern, wenn die FAO Tausende von Demonstrationsprojekten auf der ganzen Welt einrichten würde. Die FAO war einverstanden und stellte damit ihre Organisation der Düngemittelindustrie zur Verfügung.[52] Auf der Grundlage der daraufhin steigenden Auslandsnachfrage versuchte die Industrie später, vom Export zur Produktion in Übersee zu wechseln. Insgesamt wurde die Landwirtschaft der Dritten Welt durch den ausgeweiteten Einsatz von Düngemitteln stärker vom Energiesektor abhängig (Kunstdünger wird aus Öl hergestellt) und verwundbar gegenüber Preis- und Angebotsschwankungen in diesem Sektor. Diese Situation kam dem Kapital während seiner Energiever­knappungs-Offensive in den 70er Jahren sehr gelegen.

Die Durchsetzung der Grünen Revolution gegenüber den Regierungen der Dritten Welt ist eine Geschichte voller Intrigen und taktischer Manöver. Eine der berüchtigsten Episoden ereignete sich in Indien während der Dürre und Hungersnot von 1965-1967. Der Widerstand der Regierung gegen die Durch­führung der Grünen Revolution wurde dadurch gebrochen, daß US-Präsident Johnson die Verschiffung von Nahrungsmitteln nach PL 480 verweigerte und den Hunger die Überzeugungsarbeit tun ließ. 1970 waren mehr als 15 Millio­nen Morgen der indischen Weizenanbaugebiete mit den neuen Sorten bepflanzt und etwa 11 Millionen Morgen mit den neuen Reissorten.

Die Auswirkungen der Grünen Revolution sind mittlerweile breit erörtert worden und müssen hier nicht im Einzelnen behandelt werden. Man ist sich einig, daß das Projekt zwar in vielen Gebieten die Produktivität und den Ge­samtertrag steigern konnte, aber daß es sein eigentliches Ziel, das Unterbinden von bäuerlichen und industriellen Unruhen, verfehlt hat.[53] Neben diesem Fehlschlag, und zum Teil durch ihn, war auch die Industrie nicht in der Lage, die erhofften Gewinne aus dem Verkauf von Grundstoffen zu realisieren. Beim Kunstdünger war es am deutlichsten: nach all den Anstrengungen zur Ausweitung des Absatzmarktes wurde dieser Industriezweig 1969-70 erneut von einer schweren Überproduktionskrise getroffen. Die Landwirtschaft der Dritten Welt war nicht mit dem vorausgesagten Tempo gewachsen und die in­ländische Nachfrage wurde durch die neue Politik der USA zur Überschuß­senkung (siehe unten) und die Verringerung von PL-480-Lieferungen ge­kürzt.[54]

Ende der 60er Jahre fegte eine Serie von Aufständen über dieselbe Welt, die mit der Grünen Revolution hatte stabilisiert werden sollen. Der zweite indo­chinesische Krieg befand sich in vollem Gange und in Thailand kam es drei­mal zu anwachsenden Aufstandsbewegungen. Auf den Philippinen gab es eine erneute Bewegung von Bauern und Studenten, Indien wurde von der Naxaliti­schen Revolte[55] und Landbesetzungen erschüttert. In vielen anderen Gebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas kam es zu ländlichen und städtischen Unruhen. All diese Revolten waren nicht isoliert, sondern bildeten zusammen einen neuen und massenhaften Kampfzyklus der internationalen Arbeiter­klasse, der die Ziele der Entwicklungsdekade zunichte machte und das Kapital in eine schwere Krise stürzte.

Die Entwicklungsdekade kommunistischer Machart

Die "Entwicklungsdekade" in den sozialistischen Ländern wich zeitlich etwas von der im Westen ab. Und die kommunistischen Parteien würden gewiß jede Vermutung einer Ähnlichkeit mit den imperialistischen, westlichen Entwick­lungen als irrtümlich und verleumderisch zurückweisen. Trotzdem gab es ei­nige bemerkenswerte Parallelen. Bezüglich der 50er Jahre haben wir bereits gesehen, daß es der Politik in der Sowjetunion und in Osteuropa letztlich nicht gelang, die durch den Klassenkampf geschaffenen Hindernisse für eine schnelle Akkumulation aus dem Weg zu räumen. Innerhalb des sozialistischen Gebiets gab es große Unterschiede zwischen solchen Kämpfen. (Aus Platz­gründen und wegen relativ geringer Informationen werden wir uns nicht mit dem Beispiel China auseinandersetzen, obwohl alles darauf hin deutet, daß China keine Ausnahme von den hier untersuchten Entwicklungen darstellt.) Aber überall waren es die niedrige landwirtschaftliche Produktivität und die Versuche, mit Hilfe des Lohns oder der Bodenreform das Einkommen zu er­höhen, was den kommunistischen Planern bei der Kontrolle des Arbeits­kraftangebots und der Überschüsse enge Grenzen setzte. Früher oder später wurde in allen Fällen mit derselben grundlegenden Strategie auf die anhalten­den Arbeiterforderungen geantwortet wie in der US-Landwirtschaft und ihrem Abkömmling: der Grünen Revolution. Es wurde in produktivitätssteigernde Technologien investiert, seien sie mechanisch, chemisch oder biologisch.

In der Sowjetunion begann die Entwicklungsdekade in den letzten Jahren der Chruschtschow-Regierung mit der neuen Betonung der landwirtschaftlichen Entwicklung, mit der sie auf die Fehlschläge und Aufstände zwischen 1959 und 1962 reagierte. 1965 wurde diese Wende von Breschnjew fortgeführt und im Fünfjahresplan für 1966-1970 festgeschrieben. Kernpunkte der neuen Strategie waren die Absicherung von Einkommenssteigerungen für die Bauern und von stabilen Nahrungsmittelpreisen für die städtischen Arbeiter sowie die Erhöhung des konstanten Kapitals in der Landwirtschaft. Zugleich sollte das Einkommen der Bauern, wie in der Vergangenheit, so umgestaltet werden, daß es sie zu höherer Arbeitsleistung antrieb.[56]

Das Einkommen der Bauern wurde auf verschiedene Weise erhöht. Erstens wurden die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise angehoben und die Investiti­onsgüterpreise gesenkt, wodurch das Nettoeinkommen anstieg. Zweitens wur­den die direkten Zahlungen an die Bauern heraufgesetzt: Lohnerhöhungen für Kollektivarbeit, Sicherung eines Mindesteinkommens und einer Altersversor­gung für die Kolchosbauern, Verbesserung der Wohnverhältnisse und der öf­fentlichen Einrichtungen auf dem Land, und Aufhebung der Zusatzsteuern und Einschränkungen für den privaten Parzellenanbau. Gleichzeitig wurde die Bezahlung neu gestaltet, um das Einkommen enger an die Arbeit anzukoppeln: die noch bestehende Arbeitstag-Kalkulation wurde durch Lohnzahlungen für die gesamte Kolchosenarbeit ersetzt. Durch die Lohnerhöhungen verringerte sich das Stadt-Land-Gefälle. 1970 betrugen die Löhne der Kolchosarbeiter 75 Prozent, die Löhne der Sowchosarbeiter 85 Prozent des durchschnittlichen Industriearbeiterlohns. Aber aufgrund der ärmlichen Wohnverhältnisse, der schlechten Gesundheitsversorgung usw. war das tatsächliche Einkommensge­fälle wesentlich größer.

Um diese Maßnahmen bezahlen zu können, mußten Investitionen in die Landwirtschaft umgeleitet werden. Der Einsatz von Kunstdünger, Bewässe­rung, Maschinerie, Agrochemikalien usw. wurde drastisch gesteigert und die wissenschaftliche Forschung auf die Entwicklung von Hochertragssorten und produktiverer Viehzucht ausgeweitet. Dadurch stieg die landwirtschaftliche Erzeugung und Produktivität zwischen 1962 und 1968 um 25 Prozent. Die neue Nahrungsmittelproduktion beruhte stärker auf kapitalintensiven Metho­den als auf den Strategien zur Neulanderschließung mit ihren langfristigen Unsicherheiten. Aber da nun die Beschaffungskosten für landwirtschaftliche Grundstoffe über die festgesetzten Verkaufspreise stiegen, mußte die sowjeti­sche Regierung die Subventionen drastisch erhöhen – 1968 waren es umge­rechnet fast fünf Milliarden Dollar.

Obwohl die Produktion und die Produktivität auf dem Land mit den neuen Investitionen gesteigert wurden, kämpften die Bauern weiter gegen ihre Aus­beutung. Nicht nur der Anbau auf den privaten Parzellen weitete sich aus, sondern auch die direkte Aneignung des "kollektiven" Ertrags. So wurden kommunales Weideland und Getreide illegal für die private Viehzucht benutzt, während in den Städten die Klauerei auf der Arbeit, der Schmuggel und der Schwarzmarkt um sich griffen.[57] Auch die Abwanderung in die Städte konnte mit dieser Strategie nicht gestoppt werden. Ende der 60er Jahre nahm die Landflucht solche Ausmaße an, daß sich die sowjetische Regierung veranlaßt sah, Studien zur Erforschung der Ursachen durchführen zu lassen. Deren Er­gebnisse waren nicht überraschend: die Menschen verließen die Landwirt­schaft, um der Arbeitsüberlastung und der geringen Bezahlung zu entkom­men.[58]

Diese Analyse der sowjetischen Klassenkämpfe in den 60er Jahren trifft in vielen Punkten auch auf große Teile Osteuropas zu: niedrige Produktivität, Abwanderung in die Städte, Diebstahl von staatlichem Eigentum und gerin­geres Einkommen der Bauern. Aber der Übergang zu einer Strategie der Ent­wicklung durch gesteigerte landwirtschaftliche Investitionen scheint hier erst sehr viel später vollzogen worden zu sein.[59] Nichtsdestoweniger bildete sie eine Antwort auf dieselbe Situation: zugespitze Klassenkämpfe der ländlichen und der städtischen Arbeiter.

Die erste Welle größerer Unruhen wurde in dieser Phase von der Massenbe­wegung der nichtentlohnten Studenten 1968 eingeleitet. Wie die Studenten in den USA und in Westeuropa lehnten sich die osteuropäischen Studenten gegen ihre fabrikmäßigen Arbeitsbedingungen und die vom Staat erzwungene Diszi­plin auf. Im März jenes Jahres gingen polnische Studenten aus Protest gegen die kolonialistische Politik und Zensur der Sowjetunion auf die Straße. Im Anschluß an die große Erhebung der französischen Studenten und Arbeiter im Mai veranstalteten im Juni jugoslawische Studenten Demonstrationen, auf denen sie die wachsende Einkommenshierarchie und die ungleiche regionale Entwicklung anprangerten. Diese Welle förderte die Einleitung von schritt­weisen Wirtschaftsreformen, mit denen die Finanzierung des von den Arbei­tern geforderten höheren Lebensstandards möglich gemacht werden sollte. In der Tschechoslowakei führten die tiefgreifenden Reformen von Dubcek gera­dewegs zur Intervention der Sowjetunion. In Ungarn hatten die Reformen kei­nen offen politischen Charakter und der Kreml verzichtete auf einen derart drastischen Schritt.

Die nächste Explosion in Osteuropa fand in Polen statt. Hier betraf sie un­mittelbar die Frage der Landwirtschaft und der Nahrungsmittel. Sie bildete zugleich einen Wendepunkt bei der Umleitung von bedeutenden Investitionen in die Landwirtschaft und bei der Übernahme von politischen Maßnahmen, wie sie in der Sowjetunion und überall auf der Welt bereits angewandt wur­den.[60]

Die polnische Erhebung von 1970 war eine direkte Folge der unzureichenden Investitionen in der Landwirtschaft und der politischen Benachteiligung der Bauern, die Gomulka in den Jahren nach der Dekollektivierung von 1956 be­trieben hatte.[61] Angesichts relativ stagnierender Erzeugerpreise weigerten sich die Bauern, die Erträge und die Produktivität zu erhöhen. Zusammen mit der traditionellen Politik sowjetischen Stils, bei der die Industrialisierung durch den Export von Nahrungsmitteln (in diesem Fall vor allem von polnischem Schinken) finanziert wurde, führte dies zu einer wachsenden Diskrepanz zwi­schen dem verfügbaren Nahrungsangebot und den steigenden Löhnen der städtischen Arbeiter – und dies, obwohl Polen der größte Nahrungsmittelpro­duzent in Osteuropa ist. Die Entscheidung Gomulkas, dieses Problem durch Preiserhöhungen für Nahrungsmittel zu lösen, statt das Angebot zu verbessern, war der unmittelbare Anlaß für den Aufstand. Kurz vor Weihnachten kündigte er die Preiserhöhungen an. Die polnischen Arbeiter reagierten prompt und heftig. Das Land wurde von spontanen Arbeitsniederlegungen und Riots überzogen, deren Ausmaß an Ungarn 1956 erinnerte. Angeführt wurde der Aufstand von den Werftarbeitern in der nördlichen Stadt Danzig, aber auch Arbeiter aus anderen Industriezweigen, Hausfrauen und Studenten beteiligten sich. Im Verlauf einer Demonstration von etwa 20 000 Leuten wurden die Büros der Kommunistischen Partei in Brand gesteckt und aus den staatlichen Läden Lebensmittel und andere Waren geplündert. Obwohl die Regierung be­müht war, die Stadt mit Hilfe von Panzern und Truppen vom Land abzu­schneiden, sprangen die Kämpfe auf Warschau, Krakau und weitere Regionen über. Ein Generalstreik wurde vorbereitet. Schließlich mußte Gomulka zu­rücktreten. Sein Nachfolger Gierek kündigte die Erhöhung der Mindestlöhne um 18 Prozent an, zögerte jedoch, Gomulkas Preiserhöhungen zurückzuneh­men. Da diese Maßnahmen das polnische Volk nicht zufriedenstellen konnten, gingen die Streiks und Proteste weiter. Der Durchbruch gelang im April, als zehntausend, überwiegend weibliche, TextilarbeiterInnen in Lodz in den Streik traten und Lohnerhöhungen von 16 Prozent als Ausgleich für die Preissteige­rungen forderten. Gierek kapitulierte: mit Hilfe der Sowjetunion (Kredite und Getreidelieferungen im Wert von 500 Millionen Dollar) senkte er die Preise wieder auf das alte Niveau.

Die ganze Geschichte war ein unglaublicher Sieg der polnischen Arbeiter und hatte kolossale Auswirkungen in ganz Osteuropa und der Sowjetunion. Russische Arbeiter unterstützten den polnischen Kampf mit Demonstrationen und einige osteuropäische Regierungen beeilten sich, die Entfaltung der Ar­beitermacht an anderen Orten zu verhindern. Die DDR schickte Truppen in die baltischen Küstenstädte, um Sympathiestreiks und Demonstrationen zu verhindern. Rumänien war von der Aufstandswelle der späten 60er Jahre an­geblich verschont geblieben, aber nun erklärte Ceausescu eiligst, daß seine Re­gierung über ausreichend Nahrungsmittel für den ganzen Winter verfüge. In Bulgarien, das sowohl Winterfrüchte und Gemüse als auch Landarbeiter in die Sowjetunion exportiert, kündigte die Regierung vorsichtshalber an, daß sie keine Preiserhöhungen für Lebensmittel beabsichtige.

Der Versuch, die Nahrungsmittelkrise durch Preissteigerungen zu lösen, mit denen der Konsum der Arbeiterklasse eingeschränkt werden sollte, wurde vollständig zurückgeschlagen. Daher war die polnische Regierung zu Investi­tionen in die Landwirtschaft gezwungen, was einen wichtigen Teil der Gierekschen Reformen bildete. Außerdem wurde in der Übergangsphase die Subventionierung von Nahrungsmitteln deutlich erhöht (von 27 Mrd. Zloty im Jahre 1970 auf 100 Mrd. in 1975) und mehr Getreide für die Ausweitung der Fleischproduktion importiert. Daraufhin stieg zwischen 1970 und 1975 der Fleischverbrauch pro Kopf von 53 auf 70,2 Kilo. Aber auch diese Politik scheiterte schließlich. Es gelang ihr nicht, die Produktion im selben Maße zu steigern, wie der Verbrauch anstieg, und die ständige Belastung des Investiti­onsbudgets der Regierung blockierte die Akkumulation.

Wir haben jetzt an einigen Fällen gesehen, wie der Klassenkampf in Ost und West die Entwicklung der Nahrungsmittel und der Landwirtschaft prägten. Nach den Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums stieg die Weltnah­rungsmittelproduktion zwischen 1954 und 1973 schneller als das Bevölke­rungswachstum (2,8 gegenüber 2,0 Prozent).[62] Nicht zuletzt war es die direkte und indirekte Folge der Klassenmacht, die diesen Anstieg im Lebensstandard erzwang. Die direkte Forderung nach Lebensmitteln oder nach höherem Lohn und Einkommen, um sie bezahlen zu können, war ein wesentlicher Bestandteil der Kämpfe. Der Erfolg dieser Kämpfe hatte die Entwicklungsstrategien der 50er und 60er Jahre hervorgerufen, sie aber auch zu Fall gebracht. Gleichzei­tig bekämpften die städtischen Arbeiter und die Bauern die Versuche, die ge­stiegenen Löhne mit mehr Arbeit zu verbinden. Für die Strategie der Arbei­terklasse, das Einkommen von der Arbeit abzutrennen, war dies genauso wichtig. An den Beispielen in diesem Abschnitt sollte deutlich geworden sein, daß es sich sowohl bei den Entwicklungskonzepten, die auf landwirtschaftli­chen Produktivitätssteigerungen beruhten, als auch bei der Zurückweisung dieser Entwicklung um weltweite Erscheinungen handelte. Die Kämpfe bezüg­lich der Produktion und Verteilung von Nahrung gehörten also zu dem inter­nationalen Kampfzyklus, der Ende der 60er Jahre die Krise der westlichen Entwicklung auslöste. Weiter unten werden wir sehen, daß sich diese Kämpfe weiter in den Osten ausbreiten, wodurch das sozialistische Lager möglicher­weise Mitte der 70er Jahre in eine gleichartige Krise gedrängt wird.

V. Der Gegenangriff

Das Versagen der Entwicklungsdekade zwang dem Kapital weltweit eine schwere Krise auf. In Zerowork 1 wurde der allgemeine Charakter dieses Kampfzyklus und der darauf folgenden Krise herausgearbeitet. Die vorange­gangenen Abschnitte dieses Artikels beschäftigten sich genauer mit den Aspekten der Nahrungsmittel und der Landwirtschaft bei den Problemen, vor denen das Kapital steht. Wir müssen nun untersuchen, welche Rolle den Nah­rungsmitteln in der Antwort des Kapitals auf die Krise, in seinem Gegenan­griff, zukam.

Bei einer näheren Untersuchung dieser Periode fällt auf, daß die "Nah­rungsmittelkrise" als Teil des Gegenangriffs schrittweise hervorgerufen und entwickelt wurde. Erstens: Hinter dem Gerede von "food power" (Macht der Nahrungsmittel) in den 70er Jahren stand die Beseitigung der Lebensmittel­überschüsse der USA und die Einschränkung der PL-480-Maßnahmen. Da­durch sollten künstliche Knappheiten vorbereitet werden, die der Schwächung der Klassenmacht dienten. Das neue System sollte auf dem Güterhandel beru­hen, das heißt das Angebot sollte tatsächlich allein von der effektiven Nach­frage und nicht von den Bedürfnissen abhängen. Die Lebensmittel könnten auf diese Weise verteuert werden, um das Einkommen der Arbeiterklasse zurück­zuschrauben. Zweitens: Großangelegte Getreidegeschäfte zwischen den USA und der Sowjetunion trieben 1972/73 und ein weiteres mal 1975 die Lebens­mittelpreise in den USA in schwindelnde Höhen, während sie gleichzeitig dem sowjetischen Politbüro ermöglichten, mit den Forderungen der russischen und osteuropäischen Arbeiter fertigzuwerden. Drittens: Die Währungsabwertungen und die Energiekrise verstärkten die anfänglichen Auswirkungen des Export­schubs und der Getreidegeschäfte. Kunstdünger und andere landwirtschaftliche Grundstoffe wurden damit verteuert und das Einkommen der Farmer und Bauern auf der ganzen Welt gesenkt. Viertens: Speziell auf die organisierte Macht der westeuropäischen Bauern und der Farmarbeiter in den USA ausge­richtete Angriffe ergänzten diese allgemeine Politik. Fünftens: Der weltweite Inflationsangriff auf die Arbeiterklasse wurde von Dürren und Flutkatastro­phen in der Dritten Welt unterstützt, die in Hungersnöte umgemünzt wurden. Auf diese Weise dienten sie dazu, die regionalen Kämpfe von Bauern und Nomaden zu untergraben und den Arbeitern auf der ganzen Welt zu drohen. Sechstens: Die Umstrukturierung der weltweiten Landwirtschaft beruhte auf folgendem: Wachstum der kapitalintensiven Produktion in den USA, neue landwirtschaftliche Großinvestitionen in den OPEC-Staaten, Umstrukturierung der von Hungersnöten getroffenen Regionen, um die rebellischen Menschen unter neuen und besser kontrollierbaren Bedingungen wieder ans Arbeiten zu bringen. Siebtens: Die Nahrungsmittelkrise fängt an, sich nach denselben Mu­stern wie im Westen ins sozialistische Lager auszubreiten. Wir werden nun je­den dieser Schritte der Reihe nach untersuchen.

Nahrungsmittelkrise und Nahrungsmittelpolitik

Allem Anschein nach brach die Nahrungsmittelkrise 1973/74 aus, als die weltweite Landwirtschaft im Westen von rapiden Preissteigerungen bei Nah­rungsmitteln und Kunstdünger, und in Afrika und Asien von Hungersnöten erschüttert wurde. Durch verschiedene Debatten über "food power", Agrobu­siness und die Nord-Süd-Beziehungen wurde die Landwirtschaft zu einem zentralen Punkt der internationalen Politik. Diese Kontroverse erreichte in der Zeit vor den Konferenzen zur Weltbevölkerung und zur Welternährung im August und November 1974 ihren Höhepunkt.[63] In dieser Phase ließen füh­rende Vertreter der USA verlauten, ihr Land ziehe den Einsatz von Nah­rungsmitteln als Waffe in Erwägung, um damit auf die angeblich von den Arabern verursachte Ölkrise zu reagieren.[64]

Kissinger hatte bereits im Herbst 1973 beim National Security Study (Natio­nale Sicherheitsstudien) ein Memorandum über Nahrungsmittel angefordert, und das Repräsentantenhaus untersuchte, wie die USA mit Hilfe von Nah­rungsmittelembargos Macht ausüben könnten. Obwohl beide Studien negativ ausfielen (das NSS-Memorandum forderte weitere Untersuchungen, der Be­richt des Repräsentantenhauses kam zu dem Schluß, daß die OPEC-Staaten ihren Bedarf anderweitig decken könnten), wurde die "food power"-Rhetorik unvermindert weiter betrieben. Im August 1974 bereitete die CIA einen Be­richt vor, der auf die steigende landwirtschaftliche Macht der USA in Jahren mit geringer Weltproduktion hinwies. "Washington würde praktisch die Gewalt über Leben und Tod der Menschen in bedürftigen Ländern erhalten." Der Be­richt warnte aber auch, daß eine Phase der Nahrungsmittelkrise politisch ge­fährlich sei: "Wohin die USA ihr Getreide auch immer schicken, sie werden in jedem Fall zum Prügelknaben derer, die sich übergangen oder benachteiligt fühlen." Außerdem könnten "militärisch mächtige und trotzdem hungrige Na­tionen immer verzweifelter versuchen, mit allen möglichen Mitteln mehr Ge­treide zu bekommen." Massenhafte und gewaltsam durchgesetzte Einwanderung könnte dem Report zufolge ein äußerst akutes Problem werden. Selbst "nu­kleare Erpressung ist nicht auszuschließen."

In groben Linien ließ sich die Antwort der US-Administration auf solche Warnungen an dem Prinzip erkennen, das sie auf und während der Konferen­zen zur Weltbevölkerung und Welternährung verkündeten: weniger Bevölke­rung und weniger Nahrungsmittel. Auf der Bevölkerungskonferenz bemühte sich die US-Delegation intensiv um die Durchsetzung der Linie, nach der die Bevölkerungskontrolle der entscheidende Beitrag zur Lösung des Nahrungs­mittelproblems sei. Später in Rom weigerten sich die Vertreter der USA, ir­gendwelche größeren neuen Projekte für die Lebensmittelproduktion und -hilfe anzugehen. Zu dieser Zeit drohte Präsident Ford in einer Rede vor den Vereinten Nationen, Nahrung als politische Waffe einzusetzen – indem er bes­tritt, dies zu beabsichtigen: "Trotz des Ölembargos ist es nicht unsere Politik gewesen, Nahrungsmittel als politische Waffe einzusetzen." Aber was würden sie in Zukunft tun? Andere Sprecher der USA ließen zweifellos die Möglich­keit eines Kurswechsels durchblicken. "Hungrige Menschen hören nur auf diejenigen, die ein Stück Brot haben," sagte Landwirtschaftsminister Earl Butz im August. In Rom wurde er deutlicher: "Nahrungsmittel sind ein Instrument. Sie sind eine Waffe im Verhandlungsgepäck der USA." Hubert Humphrey, der die Möglichkeiten des taktischen Einsatzes von PL 480 schon früh vorausgese­hen hatte, erklärte: "Nahrungsmittel sind Macht. Sie sind buchstäblich ein zu­sätzliches Maß an Macht."

Einen anderen Standpunkt vertraten die Eliten und liberalen Sympathisanten der Dritten Welt in dieser Debatte. Sie kritisierten diese Überlegungen und sa­hen in ihnen Anzeichen für eine Überreaktion des Westens auf die Versuche der rohstoffproduzierenden Staaten, ein bißchen mehr vom Kuchen abzube­kommen. Für die Linke war es ein weiteres Kapitel in der Geschichte des US-Imperialismus. In beiden Fällen stützte sich die Analyse auf die Triebkräfte der Nationalstaaten und nicht auf Klassen. Liberale wie Linke übersahen da­her völlig den entscheidenden Punkt. In der Zwischenzeit wurden die "food power"-Advokaten von kühleren Köpfen der kapitalistischen Elite auf viel ni­veauvollere, einflußreichere und deutlichere Art zurückgewiesen. Ihre Kritik beruhte nicht auf Moral, Entrüstung oder Ideologie, sondern auf Effektivität und Öffentlichkeitsarbeit. So wie ständig über die Nahrungsmittelwaffe gere­det werde, sagten sie, könne sie nicht auf breiterer Ebene als diplomatische Waffe eingesetzt werden: Drohungen und Bluffs würden manchmal funktio­nieren, aber es gäbe Grenzen – und außerdem mache es einen schlechten Ein­druck. Mit Hilfe von Nahrungsmitteln Gott zu spielen, sei zu offensichtlich und setze sich zu sehr der Gefahr öffentlicher Opposition (sprich der Arbei­terklasse) aus. Die wirkliche Lebensmittelpolitik wirke subtiler, betonten sie: kein großes Gerede, sondern die schlichte Politik von Preis und Angebot im internationalen Handel und (in geringerem Maße) auch bei der Katastrophen­hilfe.[65] Obwohl sich diese Analyse noch auf die Beziehungen zwischen Natio­nalstaaten bezog, indem sie die Agrarpreise und die Handelsaufteilung als "po­litische" Fragen betrachtete, kam sie dem Kernpunkt, den wirksamen Klassen­dynamiken, schon näher. Außerdem verweist sie darauf, daß die Nahrungs­mittelwaffe schon vor den diplomatischen Debatten, nämlich während der Krise Anfang der 70er Jahre, eingesetzt worden war. Die Veränderungen in der Produktion und der Handelspolitik, die nun einen wirkungsvolleren und versteckteren Gebrauch dieser Waffe möglich machten, waren bereits vollzo­gen.

Die Preisform wird durchgesetzt.

Den Beginn dieser Veränderungen könnten wir an der Wende zur "Selbsthilfe" und Einschränkung der Nahrungsmittelhilfen unter der Regierung Johnson festmachen. Die entscheidende Veränderung fand aber unter Nixon und Butz statt. Die von ihnen ergriffenen Maßnahmen liefen darauf hinaus, Nahrungs­mittelreserven zu beseitigen und die US-Exporte stark auszuweiten.[66] Ober­flächlich betrachtet war dies eine "Rückkehr zum freien Markt" und ein Fall von aggressivem US-Expansionismus. Im Kern wurde hiermit eine globale Wende von Nahrungsmittelüberschüssen zur Nahrungsmittelknappheit einge­leitet. Diese Knappheit wurde international durch höhere Lebensmittelpreise und durch die völlige Unerreichbarkeit von Nahrung für Zahlungsunfähige (in der Praxis wurde PL 480 bedeutungslos) durchgesetzt. Nahrungsmittel wurden nur noch auf einer geschäftlichen Basis geliefert – d.h. die Preisform wurde durchgesetzt, was in dieser Phase einen weltweiten Angriff auf die Möglich­keiten der Arbeiterklasse darstellte, an die grundlegenden Konsumgüter heranzukommen.

Diese politische Wende wurde in mehreren Schritten vollzogen. Zunächst entwickelte eine Präsidentenkommission für internationalen Handel folgende Überlegungen: Ein vernünftiger Einsatz der weltweiten Nahrungsmittelreserven sollte von der sehr produktiven und kapitalintensiven Landwirtschaft der USA abhängen, die einen Großteil des Weltgetreidebedarfs decken könnte. Die Dritte Welt sollte sich auf die arbeitsintensive Produktion von Früchten und Gemüse für den Export konzentrieren. Westeuropa und Japan sollten ihre Zollschranken herabsetzen und mehr aus den USA importieren. Das Kapital könnte so seinen Einfluß auf die Nahrungsmittelproduktion zum Nachteil der Arbeiterklasse ausdehnen. Getreide würde hauptsächlich in den Gebieten der USA fast ohne Arbeit angebaut und geerntet werden (was daher leicht kon­trollierbar wäre), während die Produktion arbeitsintensiver Feldfrüchte für die Regionen mit der schwächsten Arbeiterklasse vorgesehen war.

Zweitens sollten die Nahrungsmittelüberschüsse durch stärkere Einschrän­kung der Anbauflächen direkt angegriffen werden und drittens der Export an­gekurbelt werden. 1970, 1971 und selbst 1972, nach dem großen Getreidege­schäft mit Rußland, wurden die Anbauflächen niedrig gehalten. Wegen der gesenkten Erträge stand weniger Getreide für PL 480 zur Verfügung – und das wurde zur Unterstützung des indochinesischen Kriegs eingesetzt. Der ag­gressive Vorstoß zur Exportausweitung und zur Herabsetzung ausländischer Handelsbarrieren zielte vor allem auf Europa, Rußland und China. Er begann, zusammen mit anderen Teilen des kapitalistischen Gegenangriffs, mit der Dollarabwertung vom August 1971, die dem US-Agrobusiness Vorteile auf den ausländischen Märkten verschaffte.[67] Auf diese Abwertung folgten drastische Exportsteigerungen, die Getreidegeschäfte mit Rußland und eine weitere Ab­wertung 1973. Ziel dieser Politik war es, eine allgemeine Verteuerung von Nahrungsmitteln zu erreichen, was in einem vom Landwirtschaftsministerium vorbreiteten Geheimdokument offen ausgesprochen wurde. Äußerlich bezogen sich diese Maßnahmen auf die schwankende Zahlungsbilanz der USA. Aber die Ursache für das Problem lag darin, daß dem Kapital die Kontrolle über die Arbeitskraft aus den Händen glitt und sich daher Produktivität und "Wett­bewerbsposition" verschlechterten.

In den USA selbst war diese Politik mit den ersten Versuchen verbunden, die in den 60er Jahren erreichten Verbesserungen bei der Sozialhilfe wieder rückgängig zu machen, indem die Verteilung von Lebensmittelmarken und von billiger Nahrung gekürzt wurde. In den Jahren 1972 und 1973 sperrte die US-Verwaltung 200 Mio. Dollar, die für Lebensmittelmarken vorgesehen waren. Diese direkten Versuche konnten zwar zurückgeschlagen werden, aber die Verteuerung der Nahrungsmittel hatte dieselbe Wirkung, da sie den Wert der Marken verringerte.[68]

Der ausschlaggebende Faktor für den Erfolg dieser Politik schien das schlechte Wetter in den Jahren 1971 bis 1973 zu sein, von dem weite Teile Afrikas, Asiens und der Sowjetunion betroffen waren, und das die Ernteer­träge verringerte. Die wachsende Lebensmittelknappheit erschien dadurch als etwas "Natürliches". Eine Zeitlang wurde viel über den langfristigen weltwei­ten Klimawechsel diskutiert (was sich mittlerweile wieder gelegt hat): es gäbe einen Abkühlungstrend, durch den die USA nach den Analysen der CIA und anderer Beobachter noch mehr Einfluß auf die Nahrungsmittelproduktion ge­winnen würden.[69] Wir werden zeigen, daß es nicht die bloße Natur, sondern die Politik des Klassenkampfs war, die den Waffen der Nahrungsmittelpreise und -hilfen ihre Schlagkraft verlieh.

Die Getreidegeschäfte mit Rußland

Die Geschichte der sowjetischen Getreidekäufe aus den USA von 1972, die sich auf etwa 30 Millionen Tonnen beliefen, ist mittlerweile gut bekannt. Des öfteren wurde hart kritisiert, daß sich die US-Regierung zum Komplizen der Getreidehandelsfirmen gemacht und die Auswirkungen dieser Verkäufe auf die Preise hingenommen hat.[70]

Die diversen Untersuchungen ließen aber fast immer außer acht, warum sich die sowjetischen Behörden so weit auf den Markt eingelassen hatten, daß sie Goldreserven verkaufen mußten. Westliche Kommentatoren nennen als Gründe für die Probleme der russischen Landwirtschaft neben der offensichtlichen Bedeutung des Wetters die "Unfähigkeiten", die angeblich aus dem "doktri­nären Starrsinn" und dem Fehlen des "freien Wettbewerbs" resultierten. Aber hinter diesen "Unfähigkeiten" verbirgt sich die Unkontrollierbarkeit des Klas­senkampfs auf dem Land und der Konsumforderungen in den Städten. (Da­durch wurde die landwirtschaftliche Produktion begrenzt, und in den Städten war es politisch unmöglich, auf den Ernterückgang in den 70er Jahren mit den Techniken des "Gürtel-enger-Schnallens" der 50er Jahre zu reagieren.) Es ging also um eben die Phänomene, die die Sowjetregierung zu hohen Lebensmit­telsubventionen zwangen, um die Erzeugerpreise hoch und die Verbraucher­preise niedrig zu halten. Der polnische Aufstand gegen die Lebensmittelver­teuerung von 1970 war noch frisch im Gedächtnis. Die Planer des Kremls versuchten daher mit den Getreidekäufen, der Gefahr einer Wiederholung der Brotunruhen von 1959-62 aus dem Weg zu gehen. Diese hatten die So­wjetunion schon 1963 und 1965 zu Käufen aus den USA gezwungen.[71]

Aber die Forderungen der russischen und osteuropäischen Arbeiter, auf die der Staat eingehen mußte, zielten nicht auf mehr Brot, sondern auf mehr Fleisch. Das in großem Umfang eingekaufte Getreide mußte daher für die Fleischproduktion eingesetzt werden, die herabgesetzt worden war. Die politi­sche Entscheidung der russischen Regierung zur Steigerung von Fleischpro­duktion und -konsum war offensichtlich mit einer weiteren Entscheidung ver­bunden: zusammen mit der dafür erforderlichen Verschiebung von Ressourcen sollte eine Umstrukturierung der Landwirtschaft eingeleitet werden. Die Re­gierung lieferte das importierte Getreide nicht an die traditionellen Genossen­schaften oder an die Privatbauern, sondern sie begann vorrangig mit dem Aufbau hunderter großindustrieller Viehzuchtkomplexe, mit hochmechanisier­ten Anlagen für die Lagerung und Zufuhr von Wasser und Futter, und für die Verarbeitung und den Abtransport von Mist.[72] Mit dem ausdrücklichen Ziel, die Arbeitsproduktivität zu steigern und die Produktionskosten zu senken, wurden ähnliche agroindustrielle Komplexe in Bulgarien und Ungarn aufge­baut.[73] Mit diesen Komplexen soll zum einen die Fleischversorgung für die städtischen Arbeiter sichergestellt werden. Sie dienen aber auch dazu, die Ar­beiter auf den Genossenschaften und bei den privaten Viehzüchtern unter Kontrolle halten zu können. Die sowjetische Regierung folgt also dem Beispiel der USA: mit Hilfe der Mechanisierung untergräbt sie den Klassenkampf be­züglich der landwirtschaftlichen Produktion und des Nahrungsmittelver­brauchs.

Die erste Antwort der Arbeiterklasse

Die neue landwirtschaftliche Strategie und die Getreideverkäufe riefen eine Reihe von scharfen Protesten seitens der Arbeiter in den USA hervor, deren Ausgaben für Nahrung zuerst bei Getreideprodukten und dann bei Folgepro­dukten, vor allem Fleisch, ins Unermeßliche stiegen. Verbrauchergruppen führten Boykotte durch und übten Druck auf die US-Regierung aus. Unter anderem deswegen sah sie sich veranlaßt, ab 1973 Kontrollen für den Export von Sojabohnen einzuführen. Viele ausländische Einkäufer, vor allem Japan, wo Sojabohnen aus den USA ein Grundnahrungsmittel der Arbeiter sind, nahmen diesen Schritt sehr ärgerlich auf. Als sich die Russen im Sommer 1975 ein weiteres Mal an den Getreidemarkt der USA wandten und rasch 10 Mio. Tonnen aufkauften, reagierte die Arbeiterklasse sofort. Die Regierung mußte weitere Verkäufe zurückstellen und "zunächst die Angebots- und Nachfrage­situation untersuchen". Verbrauchergruppen warnten davor, daß sich die Si­tuation von 1972/73 wiederholen könnte, und Mitglieder der International Longshoremen`s Union (Hafenarbeitergewerkschaft) in den Häfen am Golf, am Atlantik und an den Großen Seen organisierten einen Boykott. Sie verweiger­ten solange die Verladung von Getreide nach Rußland, bis sie überzeugt wa­ren, daß die Verkäufe keine nennenswerten Preissteigerungen für Lebensmittel auslösen würden. Die Regierung versprach daraufhin, die Getreideverkäufe zu regulieren. Ihr Ziel war es aber nicht, die Verkäufe einzuschränken, sondern sie langfristig zu stabilisieren, um den Preisdruck gleichmäßiger und politisch ungefährlicher zu machen. Umgesetzt wurde dieses Versprechen durch einen Fünfjahresvertrag, in dem sich die Sowjetunion zur jährlichen Mindestab­nahme von 6 Mio. Tonnen Mais und Weizen verpflichtete. Der Getreidehandel, der Druck auf die Preise und das Weltangebot wurde auf diese Weise institu­tionalisiert.[74]

Die Verbrauchergruppen spielten, vor allem wenn sich Hausfrauen an ihnen beteiligten, deswegen eine so wichtige Rolle, weil höhere Lebensmittelpreise nicht nur zur Senkung des Realeinkommens führen, sondern auch mehr Hausarbeit bedeuten. Das Einkaufen wird anstrengender, da der Dollar nun zweimal herumgedreht und die Preise ständig verglichen werden müssen. Die Nahrungszubereitung erfordert mehr Arbeit, wenn in der Arbeiterklasse weni­ger vorfabrizierte Nahrungsmittel verbraucht werden. Außerdem führen hö­here Preise zur Ausweitung von ernsthafter Gartenarbeit und zu mehr Arbeit, die fürs Einkochen und Einfrieren eingesetzt wird. (In dieser Zeit kam es in den USA zu größeren Protesten gegen die Verknappung von Einmachgläsern und -deckeln, die aufgrund der rapiden Verbreitung des Einkochens aufge­treten war.) Und schließlich führt die Verteuerung von Lebensmitteln und an­deren Waren in der Regel zu wachsenden Spannungen und Auseinandersetzun­gen innerhalb der Familie. Es wird mehr Arbeit notwendig, um sie wieder auszubügeln. All dies bedeutet, daß ein wesentlicher Teil der "Nahrungsmittel­krise" im Gegenangriff auf die Frauen bestand. Deren Kämpfe gegen die Hausarbeit in den 60er Jahren hatten ein Schlüsselelement des damaligen Kampfzyklus gebildet. In gleicher Weise waren die Wertverluste bei den Le­bensmittelmarken, die Kürzungen der Suppenküchenprogramme und kostenlo­sen Lebensmittelverteilungen ein Anschlag auf die in derselben Zeit erreichten Erhöhungen der Sozialhilfe (hauptsächlich für Frauen).

Bei der Senkung des Realeinkommens durch höhere Lebensmittelpreise fin­det in all diesen Fällen ein Werttransfer von der Arbeiterklasse zur nahrungs­mittelproduzierenden und -verarbeitenden Industrie statt. Aber wer erhält diesen Wert tatsächlich? Und welche Auswirkungen auf die Struktur der Landwirtschaft hat dies? Nach dem Getreidegeschäft kam heraus, daß es nicht die große Masse der Getreidefarmer waren, die am meisten profitiert hatten, sondern die fünf größten Handelsunternehmen. Sie hatten das Geschäft heim­lich ausgehandelt, und konnten dadurch billig einkaufen und teuer verkaufen. Auf diese Weise scheffelten sie ungewöhnlich hohe Profite. Als das bekannt wurde, kam es zu Prostesten der Farmer, aber der Schaden war bereits einge­treten. Da die Preise weiterhin hoch blieben, konnten allerdings mehr Farmer auch später noch teuer verkaufen und ihr Einkommen deutlich steigern. Tatsächlich erhöhten sich die Verkaufserlöse in der US-Landwirtschaft zwi­schen 1972 und 1973 von 61,2 Mrd. auf 86,9 Mrd. Dollar und das durch­schnittliche Netto-Realeinkommen pro Farm von 5 106 auf 8 434 Dollar.[75] (Diese anfänglichen Zugewinne wurden durch die "Energiekrise" und die ra­pide Verteuerung der energieabhängigen Grundstoffe, vor allem der Dünge­mittel, schnell wieder zunichte gemacht.) Dadurch stieg der Preisindex für die gesamten Produktionsgrundstoffe an: von 122 (1972) über 146 (1973) auf 172 (1974).[76] Die Energiekrise bewirkte also einen weiteren Werttransfer: von der Landwirtschaft zu den Grundstofflieferanten, vor allem zu der sehr kapitalin­tensiven Düngemittel- und Ölindustrie. Der grundlegende Werttransfer von der gesamten Arbeiterklasse zum Kapital, insbesondere den Sektoren mit der höchsten organischen Zusammensetzung, wurde auf diese Weise durch den oberflächlichen Werttransfer von den städtischen zu den landwirtschaftlichen Arbeitern (den Farmern) verschleiert. Das Abfließen von Wert führte zum Absinken des durchschnittlichen Nettoeinkommens pro Farm von seinem 1973 erreichten Hochpunkt von 8 434 Dollar auf 5 721 Dollar 1974, und weiter auf 5 320 Dollar 1975.[77] Diese Durchschnittswerte sagen noch nichts über die un­terschiedliche Betroffenheit aus: die größten Farmen konnten wie stets ihre Position halten oder Gewinne machen, während der durchschnittliche Rück­gang auf großen Einkommensverlusten der kleinen Farmen beruhte. Darin drückt sich der anhaltende Konzentrationsprozeß aus – die kleinen Farmer verschuldeten sich zunehmend und machten oft Pleite.

Die Bedeutung, die den künstlich heraufgesetzten Energiepreisen in der Strategie des Kapitals zukam, ging weit über deren Auswirkungen auf die Landwirtschaft hinaus. Nichtsdestoweniger waren sie entscheidend, um Nah­rungsmittel zu verknappen (relativ durch die Preise und absolut als Hungers­not) und die Landwirtschaft weltweit umzustrukturieren. Es handelte sich hier um einen doppelten Mechanismus: Erstens wurden die Farmer, vor allem die Kleinbauern, auf der ganzen Welt von der Verteuerung der Energie und der Düngemittel und den darauffolgenden Knappheiten hart getroffen. Zweitens führte allein schon diese Verteuerung zu einem umfangreichen Kapitaltransfer zu den OPEC-Staaten. Damit erhielten diese Länder die notwendigen Mittel, um massive Investitionen in der äußerst kapitalintensiven Landwirtschaft für die Importsubstitution vorzunehmen. Diese beiden Phänomene verdienen nä­here Aufmerksamkeit.

Die Düngemittelknappheit

Der verstärkte Einsatz von Mechanisierung und Agrochemikalien machte die Landwirtschaft der USA nicht nur zur Industrie mit der zweithöchsten Kapi­talintensität (nach Erdöl), sondern auch extrem energieabhängig.[78] Der Dün­gemittelschub der 50er und 60er Jahre hatte weltweit zwei größere Auswir­kungen: Erstens erhöhte er drastisch den Einsatz von Kunstdünger und da­durch die Abhängigkeit der Landwirtschaft vom Energiesektor. Zweitens führten die umfangreichen Erweiterungsinvestitionen, die von den Ölkonzer­nen in den hoffnungsvollen Tagen der Grünen Revolution getätigt worden waren, zu einer Übersättigung des Marktes und einer bis 1971/72 andauernden Investitionszurückhaltung bei den enttäuschten "Sieben Schwestern".[79] Dieser Trend wurde, wie wir gesehen haben, durch den Rückgang der Lebensmittel­hilfe beschleunigt. Aber dieser Rückgang schuf die Grundlage für die Wende von der Übersättigung zum Mangel. Da während der Getreideverkäufe die meisten Lebensmittelausfuhren auf geschäftlicher Basis erfolgten, schossen die Nahrungspreise in die Höhe und blieben hoch. Aufgrund dessen stieg die Nachfrage nach Düngemitteln und damit deren Preis, sodaß die Überproduk­tion verschwand und 1973 erstmals eine Knappheit auftrat. Mitte 1974 pro­phezeite das US-Landwirtschaftsministerium und das von der Industrie finan­zierte Düngemittel-Institut allein für die USA ein Defizit von 0,5 bis 1,5 Millionen Tonnen. Eine ähnliche Situation wurde für Westeuropa, Japan und Rußland behauptet. Alle diese Länder und die USA schränkten den Dün­gemittelexport ein und verschärften damit die Auswirkungen des Öldrucks auf die Importländer der Dritten Welt: die "Düngemittelkrise" war ausgebrochen.

Auf die höheren Peise folgten zwar zwangsläufig Kapazitätsausweitungen, aber aufgrund der für solche Investitionen erforderlichen enormen Finanzmit­tel konnte der Kapitalmarkt nur für wenige Regionen die Geldmittel bereit­stellen. Außerdem führten die ständig steigenden Energiekosten auch zur stän­digen Verteuerung der Düngemittel. Es handelte sich hier nicht bloß um einen Zyklus von Boom und Pleite. Das verbindende Moment dieser Faktoren be­stand darin, daß es der Grünen Revolution nicht gelungen war, die Bauern­unruhen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre einzudämmen. In vielen Län­dern der Dritten Welt führte das in den 70er Jahren zu einer Umkehr in der Land­wirt­schaftspolitik. In Indien tauchte die Düngemittelkrise zum Beispiel sehr schnell auf, da die eigene Produktion nach 1969 vernachlässigt und die land­wirtschaftliche Entwicklung insgesamt mit weniger Mitteln ausgestattet wurde. Diese Wende kam so unverblümt, daß B.S. Minhas, ein Berater Indira Ghandis, der die Regierung gedrängt hatte, die Einführung von Hochertrags­sorten mit einer Landreform zu verbinden, aus Protest zurücktrat. Er zeigte auf, daß die indischen Haushaltsposten für die Landwirtschaft zwischen 1971 und 1974 trotz der Dürre und des Nahrungsmangels Ende 1973 und in 1974 ständig ge­sun­ken waren. In dieser Situationen trafen Zeitungsmeldungen wie "Zuneh­men­de Knappheit bei Düngemitteln bedroht Millionen mit dem Hun­gertod" ins Schwarze. Die politischen Ursachen für diese Verhältnisse wurden aber wie gewöhn­lich kaum erwähnt.

Stattdessen ergriff man die Gelegenheit, um die Arbeiterklasse zu spalten (was das Ziel der gesamten Nahrungsmittelverknappung war). Sogenannte hu­manitäre Gruppen und kapitalistische Planer verkündeten folgenden Ausweg: Um die Nahrungsproduktion für die Hungernden in der Welt mit mehr Dün­gemitteln versorgen zu können, müßte der übermäßige Verbrauch durch das amerikanische Volk drastisch eingeschränkt werden. Sie riefen den Kongreß zur Verabschiedung von Gesetzen auf, mit denen der "Einsatz von Dünger für unwichtige und nicht-nahrungsproduzierende Bereiche" verringert werden sollte. Präsident Ford wurde vom Senat aufgefordert, er solle an die Amerika­ner appellieren, keinen Dünger mehr für Rasen, Gartenblumen, Golfplätze und ähnliches zu verwenden. Kurz gesagt wurde die Verödung Amerikas als einzige Hoffnung für das Aufblühen der hungernden Welt präsentiert. Im Rahmen dieser Diskussion entdeckte man plötzlich, daß die Düngemittel nicht entsprechend der Bedürftigkeit, sondern der effektiven Nachfrage verteilt werden. Ein zusätzliches Pfund Dünger würde die Nahrungsmittelerzeugung in Indien stärker steigern (10 Pfund) als in den USA (2 bis 5 Pfund). Der jähr­liche Düngerverbrauch der USA für nicht-nahrungsproduzierende Bereiche von drei Mio. Tonnen entsprach dem gesamten jährlichen Verbrauch Indiens für die Nahrungsmittelproduktion. Und natürlich wurde die Schuld an diesem ir­rationalen Zustand wieder der gedankenlosen Verschwendung, der Unmoral des amerikanischen Volkes zugeschrieben – und nicht im entferntesten der Krisenstrategie des Kapitals.

Trotz dieser Aufrufe zur Selbstbeschränkung, die den ölarmen Ländern der "Vierten Welt" mehr Dünger verschaffen sollten, blieben 1974 die aus der Entwicklungshilfe finanzierten Düngemittelimporte mit einem Gesamtumfang von 1,7 Mio. Tonnen auf dem Niveau von 1973. Dadurch ging die Wachs­tums­rate des Düngereinsatzes in den Entwicklungsländern auf die Hälfte des lang­fristigen Trends zurück. Selbst die Schaffung eines neuen FAO Internatio­nal Fer­ti­lizer Supply Scheme (Internationaler Düngerversorgungs-Plan) konnte die Situa­tion kaum verbessern. Er erhöhte die aus der Entwicklungshilfe fi­nan­zier­ten Lieferungen lediglich um 380 000 Tonnen.

Angesichts der Knappheit und ihrer erwarteten Fortdauer begann die Ent­wicklungshilfe-Lobby mit der Propagierung von do-it-yourself-Maßnahmen für Düngemittel und andere Bereiche der Nahrungs- und Gesundheitsversor­gung. Ihre Faszination über die arbeitsintensiven Methoden in China lebte mit der neuen Verliebtheit in "organischen" Dünger wieder auf. Die Logik dieser Methoden ist gewiß ebenso meisterhaft, wie ihre Fähigkeit, unbezahlte und nichtentlohnte Arbeit aufzusaugen. Immer mehr Komposthaufen in Vorstadt­gärten, Einsatz des dörflichen "Nachtdrecks" und die Wiederaufarbeitung städ­tischen Schlamms – das wurde als Lösung für die Dritte Welt präsentiert. Dies geschah nicht, weil die Wiederverwendung (recycling) organischer Stoffe öko­logisch sinnvoll ist (was stimmt), sondern weil viele dieser Methoden mit ar­beitsintensiven Tätigkeiten verbunden sind, auf die das Kapital jetzt angewie­sen ist. Außerdem wird in ihnen keine Bedrohung für die existierende Dün­gemittelindustrie und die kapitalistische Kontrolle als solche gesehen. Entwe­der betreffen die organischen Düngemittel den expandierenden Markt gar nicht, oder sie werden selbst zu einem glänzenden Geschäft (wie es bei orga­nischen Lebensmitteln der Fall ist). Da die moderne spezialisierte Landwirt­schaft Viehzucht und Ackerbau räumlich abgetrennt hat, kann die Aufarbei­tung von städtischen Nahrungsabfällen zu Felddünger und dessen Transport selbst zu einem Geschäftszweig werden.

In dieser Zeit, als die Propagandisten die Arbeiter gegeneinander auszuspie­len versuchten, als die Entwicklungshilfeagenturen die nötige Versorgung nicht gewährleisten konnten und der Gartenbau eine neue Popularität bei den kapi­talistischen Planern erlangte, begab sich die Düngemittelindustrie als Reaktion auf die Preissteigerungen daran, die Kapazitäten zu erweitern. Aber die neuen Produktionsanlagen wurden in OPEC-Entwicklungsländer wie Indonesien auf­gebaut, die bereits über Finanzmittel und Ressourcen verfügten, und nicht in Gebieten, die nun einer verschärften Unterentwicklung ausgesetzt wurden. Jetzt, wo es die neuen Kapazitäten erlauben, ist von der Gründung einer Weltdüngemittelbank und einer Weltnahrungsreserve die Rede.[80] Solch eine Bank unter der direkten Kontrolle des Kapitals würde bestenfalls eine neue Armutsunterstützung werden. Aber wahrscheinlich soll sie nur dazu dienen, die Düngemittelpreise in Überproduktionsphasen stabil zu halten. Trotz des erwarteten Anstiegs von Kapazität und Angebot schätzt das US-Landwirt­schaftsministerium, daß die Entwicklungsländer noch 1980 mehr als zwei Mil­lionen Tonnen importieren werden. Das Development Assistance Committee (Entwicklungshilfe-Komitee) der OECD ließ verlautbaren, daß die Möglich­keit von Knappheiten in den 80er Jahren nicht auszuschließen sei. Sicher, als Teil des kapitalistischen Gegenangriffs wird die Düngemittelkrise noch eine Zeitlang andauern.

Der Angriff auf die Arbeiterbewegung in der Landwirtschaft

Trotz des Schadens, der den Kleinfarmern durch die Energie- und Düngemit­telkrise bereits zugefügt worden war, ging einigen Gruppen in der amerikani­schen Spitzenpolitik die Umwandlung der US-Landwirtschaft nicht schnell ge­nug. Das einflußreiche Committee on Economic Development (Komitee für wirtschaftliche Entwicklung) forderte 1974 langfristige Planungen: 75 Prozent der verbliebenen Farmen, die zusammen nur 20 Prozent des gesamten Agrar­produkts auf den Markt brachten, sollten ausgeschaltet werden. Um diese Entwicklung zu erleichtern, schlug das CED vor, die landwirtschaftlichen Unterstützungs-Programme durch ein Sozialhilfe-Programm des Bundes für verarmte Farmer zu ersetzen, und kleine Farmer zum Wechsel in andere Ar­beitsbereiche zu ermutigen.[81]

Dieser Ruf nach Ausschaltung der amerikanischen Kleinfarmer bildete das Gegenstück zu dem westeuropäischen Mansholt-Plan. Die "Grünen Pläne", mit denen die in den römischen Verträgen von 1958 festgelegten Ziele der land­wirtschaftlichen Umstrukturierung umgesetzt werden sollten, waren fehlge­schlagen. Als Antwort darauf versuchte der Mansholt-Plan erneut, das euro­päische "Bauernproblem" zu lösen, das dem Kapital ähnliche Schwierigkeiten bereitete wie das sogenannte Strukturproblem in der US-Landwirtschaft. Die­ses Problem bestand in folgendem: 1) Ein hoher Anteil von Arbeitskräften, die noch in der Landwirtschaft (14,2 Prozent in der EG gegenüber 4,8 Prozent in den USA) und vor allem noch auf kleinen Familienhöfen statt als Lohnarbeiter auf großen und kapitalintensiven Höfen beschäftigt sind. 2) Die politische Macht dieser Bauern bei der Einforderung von Einkommensunterstützung mittels hoher Agrarerzeugerpreise und ihre gleichzeitige Weigerung, mit einer umfassenden kapitalistischen Planung zusammenzuarbeiten. 3) Die geringe Rate der Abwanderung aus den ländlichen Gebieten, die gemessen an dem Be­darf für die Industrie und die Reservearmee als zu gering betrachtet wurde, und die zu der Notwendigkeit beitrug, eine große Zahl ausländischer Arbeiter zu importieren.

Der Plan erschien als Bericht des EWG-Vizepräsidenten Sicco Mansholt und wurde 1968 erstmals veröffentlicht. Er enthielt ein umfassendes Zehn-Jahres-Programm zur direkten Verringerung der landwirtschaftlichen Bevölkerung auf die Hälfte – von 11 auf etwa 5 Millionen in der EWG. Dies sollte vor allem durch die Ausschaltung der Bauern mit wenig Land und die Produktionsstei­gerung in den verbleibenden Betrieben erreicht werden. In Frankreich, mit seiner größeren landwirtschaftlichen Bevölkerung (15,5 Prozent), wurde der Mansholt-Plan durch den ebenfalls 1968 veröffentlichten Vedel-Plan ergänzt, der eine noch drastischere Verringerung forderte.[82] Beide Pläne schlugen eine Reihe von Maßnahmen vor, mit denen die Bauern zum Verlassen ihres Landes bewegt und ihr Wechsel in nicht-landwirtschaftliche Bereiche oder in den Ru­hestand erleichtert werden sollte. Als das Mansholt-Memorandum schließlich im März 1971 dem EWG-Rat der Landwirtschaftsminister vorgelegt wurde, gingen in Brüssel 100 000 wütende Bauern aus Protest auf die Straße, wobei es mindestens einen Toten und 40 Verletzte gab. Trotzden wurde der Plan von der EWG verabschiedet. Man bot den Bauern lediglich höhere Preise als Aus­gleich an.

In den Jahren seit 1971 haben die Regierungen und Unternehmer in allen EWG-Ländern mit größerer Bauernschaft (hauptsächlich Frankreich, Italien und Westdeutschland) auf verschiedene Weise versucht, den Plan umzusetzen. Als Reaktion darauf nahmen die Kämpfe von Bauern zu und verbreiteten sich. Außerdem gelang es den Bauern zunehmend, Verbindungen zu Industriearbei­tern aufzubauen, die manchmal die Form vertikaler Integration der Klasse durch die Industrie annahmen. In solchen Bewegungen wurde der Lohncha­rakter des nicht-lohnabhängigen Einkommens der Bauern ausdrücklich aufge­zeigt. In anderen Fällen wurden quer durch sämtliche Sektoren Verbindungen zwischen Bauern und Arbeitern geschaffen, wie zum Beispiel 1973/74 in der Kampagne von Larzac in der französischen Lozerre, bei der es darum ging, das Land der Bauern zu schützen. In der Regel bekämpften die jeweiligen In­dustriegewerkschaften und Bauernverbände diese Bewegungen genauso wie diejenigen, in denen die Spaltung zwischen einheimischen und ausländischen Arbeitern zusammenbrach. Es waren größtenteils Basisbewegungen, die all­mählich eine der ältesten und stärksten Klassenspaltungen des europäischen Kapitals überwanden – die zwischen Arbeitern und Bauern, zwischen Ent­lohnten und Nichtentlohnten.[83]

Die Pläne zur Ausschaltung der europäischen Bauern und der amerikanischen Kleinfarmer wurden zunehmend durch neue Angriffe auf die eingewanderten Lohnarbeiter in der Landwirtschaft, vor allem im amerikanischen Südwesten, ergänzt. Diese Angriffe gehörten zu dem allgemeinen Sturm gegen die Ar­beitsimmigranten in Westeuropa und Nordamerika. In zweierlei Hinsicht bil­deten sie einen wichtigen Teil des kapitalistischen Gegenangriffs: In dieser Krise wie in früheren (z.B. den 30er Jahren) versucht das Kapital, den Zorn der Arbeiterklasse umzulenken, indem es die einheimischen gegen die auslän­dischen Arbeiter aufbringt. Noch wichtiger war folgende zweiten Tatsache: Die Arbeit mußte aus den alten Akkumulationszentren (England, New York City usw.) in die neuen (Mittlerer Osten usw.) verlagert werden, weil das alte System, in dem die ausländischen Arbeiter zur Schwächung der Lohnkämpfe von einheimischen Arbeitern eingesetzt werden konnten, zusammengebrochen war. In Europa führte dies zur Vertreibung ausländischer, überwiegend indu­strieller Arbeiter und ihrer Umsiedlung in OPEC-Länder wie Iran oder Ve­nezuela. In den USA wurde eine abgestufte Kampagne gegen "illegale Auslän­der", vor allem karibische und mexikanische Landarbeiter, durchgeführt.

In der Landwirtschaft des amerikanischen Südwestens nahm der Angriff auf die Farmarbeiter während der Krise zwei miteinander verbundene Formen an. Zum einen wurde die Organisierung der Landarbeiter, vor allem die UFW, er­neut angegriffen, um ihre Erfolge der späten 60er Jahre rückgängig zu ma­chen. Zum anderen tauchte später eine offene Repressionskampagne gegen il­legale Ausländer auf.

Die Gegenoffensive gegen die UFW beruhte in den frühen 70er Jahren vor allem darauf, wieder einmal die Teamsters gegen die Macht der Landarbeiter einzusetzen.[84] Es begann 1970 im kalifornischen Salinas Valley, wo die Planta­genbesitzer in aller Eile mit den Teamsters "sweetheart"-Verträge abschlossen, um eine ausgeweitete Kampagne der UFW zu verhindern. Dies führte unmit­telbar zu einem großangelegten Streik der UFW, bei dem es zu einer größeren und gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen dieser, mittlerweile von der AFL-CIO unterstützten, Organisation und der Allianz aus Plantagenbesitzern und Teamsters kam.

Die Plantagenbesitzer wiederholten 1972 ihren Angriff mit Unterstützung des Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon und 1973 mit der Kampagne zum Vorschlag 22 in Kalifornien und einem Vorstoß der Teamsters gegen die Traubenpflückerverträge der UFW. Als die UFW mit Arbeitsniederlegungen auf die Übernahme der Tarifverträge durch die Teamsters reagierte, begann der militanteste Landarbeiterkampf seit den 30er Jahren. Es kam zu einer fünfmonatigen Schlacht, bei der zwei UFW-Arbeiter getötet und hunderte verletzt wurden – hauptsächlich von Polizisten, Teamster-"Wachen" und Sport­lern der örtlichen Highschools, die von den Teamsters angeheuert worden wa­ren und von denen sich einige mit Baseballschlägern bewaffnet hatten. Die UFW verfolgte die Strategie, die Gerichte zu blockieren – über 3500 Mitglie­der und Unterstützer waren verhaftet worden. Es gelang der UFW wieder, landesweite Sympathien zu gewinnen, aber zum Ende des Sommers verlor sie fast alle ihre kalifornischen Tarifverträge. Es gelang den Plantagenbesitzern, die UFW-Verträge durch weniger lästige Teamster-Verträge zu ersetzen, mit denen sich die Arbeiter besser kontrollieren ließen.

Abgesehen von der Unterstützung, die sie jahrelang aufgebaut hatte, war die UFW jetzt auf den Nullpunkt zurückgeworfen. Diese Unterstützung erwies sich als entscheidend, als Chavez den Teamsters den Krieg erklärte und lan­desweite Salat- und Weintraubenboykotte ankurbelte. Er erhielt nicht nur die offizielle Unterstützung der AFL-CIO. Einer späteren Umfrage zufolge stan­den hinter der UFW etwa 17 Millionen Menschen in den USA, die keine Wein­trauben mehr kauften, und 14 Millionen, die Salat boykottierten. Vor diesem Hintergrund betrieb die UFW eine Unterstützungskampagne für ein neues Arbeitsgesetz in Kalifornien, das einen Regierungsschutz für Gewerk­schaftswahlen sichern sollte. Die Unterstützung seitens des Gouverneurs Jerry Brown und anderer nationaler liberaler Politiker gab dieser Kampagne Auf­trieb. 1975 wurde das Gesetz verabschiedet, das nicht nur die Überwachung der Wahlen, sondern sogar einige Maßnahmen zur Arbeitslosenhilfe für Land­arbeiter einführte. Bei den folgenden Wahlen, die 1975 nach dem neuen Ge­setz durchgeführt wurden, gewann die UFW einen großen Teil ihrer alten Ta­rifverträge zurück. Einem Bericht zufolge hatte sich die Zahl der offiziellen UFW-Mitglieder Ende 1975 mehr als vervierfacht. Der Erfolg des gemeinsa­men Angriffs von Plantagenbesitzern und Teamsters war drastisch geschmälert, wenn nicht zunichte gemacht worden. Etwas später erhielt dieser Sieg mit der Unterzeichnung eines Fünfjahresabkommens zwischen Teamsters und der UFW offenbar einen offiziellen Anstrich. Danach erhielt die UFW das ver­briefte Recht zur Organisierung von Landarbeitern in 13 westlichen Bundes­staaten.

Was den zweiten Aspekt des Angriffs auf die Landarbeiter, die zunehmende Offensive gegen illegale Ausländer, betrifft, so hat sich die UFW – wie die gesamte AFL-CIO – als Mittäter erwiesen. An einem Punkt ging die Gewerk­schaft sogar so weit, eigene bewaffnete Grenzpatrouillen aufzustellen und Po­lizeifunktionen zu übernehmen, indem sie Illegale einkreisten und dem Immi­gration and Naturalization Service (INS, Einwanderungs- und Einbürgerungs­behörde) auslieferten. Gerechtfertigt wurde dies mit den gleichen Argumenten wie bei der Opposition gegen die Braceros: die Illegalen seien Streikbrecher und ihr Immigranten-Status mache sie schwach und schwer organisierbar. Die alternative, in Westeuropa äußerst wirksam eingesetzte, Strategie, eingewan­derte und einheimische Arbeiter gemeinsam und über die Grenzen hinweg zu organisieren, wurde allem Anschein nach nie ernsthaft in Erwägung gezogen. In den folgenden Jahren mußte Chavez jedoch notgedrungen darüber nach­denken, denn die UFW wurde zunehmend von militanten Chicano-Gruppen angegriffen, die in der UFW-Strategie eine Spaltung und Schwächung der ge­samten Chicano-Bewegung erkannten. Dadurch wurde die UFW dazu gezwun­gen, ihre Position zu ändern: sie rief zur "Legalisierung" der Illegalen auf und organisierte sie. Diese Wende könnte tiefgreifende Folgen haben. Wenn es der Landarbeiterbewegung gelingen sollte, nicht nur die rassischen und ethnischen Spaltungen unter den einheimischen Arbeitern, sondern auch die nationale Spaltung zu überwinden, würde dies die Zirkulation der Kämpfe auf beiden Seiten der Grenze beschleunigen.

Aber als die UFW nicht mehr als Agent der kapitalistischen Spaltung funk­tionierte, wurde im Gegenzug mit Angriffen im Südwesten wie im gesamten übrigen Land in den Jahren 1975 bis 1977 eine bundesweite Kampagne gegen Illegale eingeleitet.[85] Der INS hatte seine Bemühungen verstärkt, Illegale auf­zugreifen und zu deportieren. Es wurden Schritte unternommen, um die Geldmittel der INS zu erhöhen, um höhere Strafen gegen Illegale durchzuset­zen und um es den Firmen schwerer zu machen, Illegale zu beschäftigen. Min­destens zwei verschiedene Gesetzesentwürfe, die solche Maßnahmen enthalten, werden zur Zeit im Kongreß beraten. Der eine wird von Peter Rodino im Re­präsentantenhaus vorangetrieben, der andere von Edward Kennedy im Senat. Und die Carter-Regierung ist bereits dabei, die Bemühungen zur Grenz­schließung und zum Vorgehen gegen Illegale zu unterstützen. Der neue Ar­beitsminister, Ray Marshall aus dem Grenzstaat Texas, fördert diese Maßnah­men und wird voraussichtlich Teile der Regierung für sich gewinnen. Ange­sichts der entscheidenden Rolle, die den Illegalen bei der Schwächung von Landarbeiter- und anderen Chicano-Kämpfen zukommt, erscheint es aller­dings unwahrscheinlich, daß die Grenze tatsächlich geschlossen wird. Aber die ganze Kampagne erzeugt bereits jetzt eine Welle des Terrors gegen die Chi­cano-communities. Schon im letzten Jahr kam es im Gebiet von Los Angeles wiederholt zu Übergriffen auf Ausländer, einschließlich Schlägereien, Rau­büberfällen und Kindesentführungen. All dies wurde von der öffentlichen Anti-Ausländer-Kampagne stillschweigend begrüßt und dadurch gefördert, daß INS, FBI und Stadtpolizei nichts gegen diese Angriffe unternahmen. Soll­ten die neuen Programme zur Ausländerkontrolle im Kongreß durchgedrückt werden, so wird die Bedrohung durch behördliche Razzien weiter zunehmen. Die legalen Arbeiter werden dann versuchen, sich deutlicher von den illegalen abzugrenzen, wodurch das erklärte Ziel der UFW untergraben würde. Es bleibt abzuwarten, ob die Gewerkschaft, die schließlich erst auf Druck hin ihre Po­sition änderte, dieser Gefahr offensiv gegenübertreten wird. Ebenso ungewiß sind damit die Ergebnisse anderer Versuche, Mexikaner und amerikanische Chicanos gemeinsam zu organisieren. Die Entwicklung von Landarbeiter- und Bauernorganisationen im Nordwesten Mexikos während der letzten Jahre hat gezeigt, daß es für grenzüberschreitende Organisierung eine Basis gibt. Diese Entwicklung hat zu raschen Lohnerhöhungen (33 Prozent 1974 und 35 Prozent 1975) und zu den dramatischen Landbesetzungen und -enteignungen im No­vember 1976 geführt.

In der gesamten westlichen Welt sind Angriffe auf die Arbeiter in der Landwirtschaft zu einem Moment des kapitalistischen Gegenangriffs gewor­den. Wie wir gezeigt haben, handelte es sich bei diesen Angriffen um Maß­nahmen sowohl gegen kleine Farmer und Bauern als auch gegen Landarbeiter. Teilweise wurden sie durch die Energie- und Düngemittelkrise bewerkstelligt, teilweise durch besondere Regierungsaktionen. Im Falle der ausländischen Ar­beiter waren diese Angriffe Teil eines allgemeinen Vorgehens gegen Ar­beitsimmigranten in solchen Gebieten, in denen es dem Kapital nicht gelungen war, sie zur Schwächung der dortigen Arbeiterkämpfe einzusetzen – wie in Westeuropa und im Nordosten der USA.

Die Kehrseite dieser Angriffe und der Energiekrise waren die Milliarden Dollar, die in die kapitalintensive Landwirtschaft und Industrie der OPEC-Staaten investiert wurden. Im Iran und im Irak wurden zum Beispiel riesige Geldsummen in den Ausbau großer Agrobusiness-Komplexe investiert. Im Ge­gensatz zur Situation in Westeuropa werden hier Arbeiter massenhaft sowohl in städtische Gebiete (Südkoreaner und Pakistanis im Iran) als auch in ländliche Regionen (irakische Pläne für den Import von einer Million ägyptischer Bau­ern) importiert. Da diese Investitionen zum größten Teil an den Bauern und den städtischen Arbeitern vorbei getätigt wurden, stiegen Land- und Arbeits­losigkeit und die Unruhe an. Eine neuere Untersuchung über die OPEC-Ent­wicklungspläne hob hervor, daß trotz der enormen, diesen Ländern anvertrau­ten Kapitalbeträge selbst im Iran und Irak die Akkumulationsmöglichkeiten dadurch beschnitten wurden, daß die wachsende Unruhe höhere Sozialausga­ben erforderlich machte. Der Iran zahlte zum Beispiel in den Jahren 1974/75 bereits 1,2 Mrd. für Lebensmittelsubventionen, da die Regierung durch die Agitation auf dem Land dazu gezwungen war, die Erzeugerpreise hoch zu halten. Und mit der Abwanderung der Bauern in die Städte entdeckt die Re­gierung die Notwendigkeit von Sozialausgaben, um damit "soziale Spannungen aufzulösen". Angesichts dieser Phänomene werden nun besorgte Fragen ge­stellt, wie die nach der Durchführbarkeit der zukünftigen, auf die OPEC-Staaten ausgerichteten Akkumulation.[86]

Laßt sie hungern

Das Kapital war gewillt, in den 70er Jahren Hunger herbeizuführen und als politische Waffe einzusetzen. Eine Vorahnung davon hatte bereits Johnsons grausame Verweigerung von Nahrungshilfe an Indien während der Dürre 1965/66 gegeben, mit der die Regierung dieses Landes zu Zugeständnissen bewegt werden sollte. In diesem Fall konnten allerdings Johnson und andere zumindestens darauf verweisen, es sei im Interesse der Grünen Revolution und der Entwicklungsdekade geschehen, die angeblich den Hunger für alle Zeiten beseitigen sollten. In den 70er Jahren wurde der Hunger viel unverhüllter zu einer politischen Waffe und es begann klar zu werden, wie nützlich dieses Phänomen für das Kapital regional und international sein konnte. Regional diente absoluter Hunger, wie Nahrungsknappheit und hohe Preise im allgemei­nen, als Instrument, um die Macht der Bauern und städtischen Arbeiter zu schwächen, ihre Lohnkämpfe zu zerschlagen und beide Gruppen gefügiger für die kapitalistische Kontrolle und Umstrukturierung zu machen. International wurde der Hunger in einem Teil der Welt zur strengen Lektion an die Arbei­ter in allen Ländern über das Ausmaß der kapitalistischen Macht: Wenn ange­sichts der heutigen hohen landwirtschaftlichen Produktivität und der entwik­kelten Transportmittel eine Gruppe von Menschen dem Hunger ausgeliefert werden kann, dann sind die Arbeiter überall von derselben Möglichkeit be­droht. Allerdings mußten solche dreisten Vorführungen der Macht verschleiert werden, da eine zu unverhüllte Auseinandersetzung die Arbeiter oft vereint und stärkt. Statt einer offenen Stellungnahme versuchten daher die Ideologen des Kapitals, die Schuld am Hunger sowohl der Arbeiterklasse und ihrer un­beschränkten Reproduktion anzulasten, als auch der "unkontrollierbaren Na­tur". Sie überließen es den Dürren und Hungersnöten, diese Momente des Ge­genangriffs und der Disziplinierung in Gang zu bringen und zu verdecken.

Die größten Hungersnöte der 70er Jahren in den verschiedenen Regionen waren folgende: Ostafrika: Somalia (ab 1969), Kenia (1970/71) und Äthiopien (ab 1972); Westafrika: Sahelzone, darunter Tschad, Niger, Obervolta, Mali, Mauretanien und Senegal (1972 bis 1975); Asien: Afghanistan (1971/72) und Bangladesh (1974/75). Der bei weitem schwerwiegendste Fall von aufgezwun­genem Hunger und Unterernährung war in der westlichen Hemisphäre das Chile nach dem Sturz Allendes von 1973.

Das Bemerkenswerteste an diesen Hungersnöten war die Technik der Triage.[87] Sie wurde im wesentlichen dadurch ausgeübt, daß man solange nicht eingriff, bis es zu spät war, um zehn- oder gar hunderttausende von Toten zu verhindern. Diese Weigerung wurde von Provinz- und Nationalregierungen ebenso betrieben, wie von Entwicklungshilfegebern wie den USA und Frankreich. Die Hilfsbemühungen waren aber nicht deswegen so langsam und unwirksam, weil es bürokratische Hindernisse gab oder am Willen fehlte, son­dern weil es für das Kapital notwendig war, die Kontrolle über die Arbeiter­klasse zurückzugewinnen. Einerseits machen die Hungersnöte selbst und die Kampagnen zur Einschränkung des Konsums in den entwickelten Ländern deutlich, daß es um einen internationalen demonstrativen Effekt geht: ein Teil der Arbeiter soll durch den Hungertod eines anderen Teils eingeschüchtert werden. Andererseits bleibt die Frage, warum es die Menschen in diesen be­stimmten Ländern traf.

Ein Grund liegt darin, daß Flutkatastrophen oder Dürrezeiten gelegen ka­men. Aber Dürren oder Überschwemmungen ereignen sich hin und wieder auch in den USA und in Westeuropa. Sie führen dort normalerweise zu allge­meinem Durcheinander (dislocation), zur Verteuerung von Lebensmitteln und steigender Unterernährung – nicht aber zu massenhaftem Hunger. Das Macht­gleichgewicht zwischen Arbeiterklasse und Kapital in Europa und in den USA ließ und läßt es nicht zu, daß zum Beispiel die Dürren von 1976 in Europa und von 1977 im Westen der USA zu Hungersnöten führten, wie es bei ver­gleichbaren Dürren in anderen Ländern der Fall gewesen war. Die entschei­dende Rolle dieses Machtgleichgewichts für die Auswirkungen von Dürren und Überschwemmungen wird an den afrikanischen oder asiatischen Hungers­nöten deutlich. Noch offener zeigte sich dies an der vollständig von Menschen herbeigeführten Katastrophe in Chile. Dort trat die Waffengewalt der Mili­tärjunta an die Stelle von Überschwemmung und Dürre, um eine starke Ar­beiterklasse niederzuschlagen, die Lohnerhöhungen weit über dem Produktivi­tätsanstieg durchgesetzt hatte und damit zum wirklich destabilisierenden Fak­tor des Allende-Regimes geworden war. In Afrika und Asien trugen unange­messene und verspätete Hilfsbemühungen zur Unterdrückung von Bauern und städtischen Arbeitern bei, die sich in ihren Kämpfen zunehmend der Kontrolle des regionalen und internationalen Kapitals entziehen konnten.

Der unmittelbare Grund der afghanischen Hungersnot war eine zweijährige Trockenzeit, die Weideland und Viehherden vernichtete. Die Umwandlung dieser Situation in eine Hungersnot hatte aber andere Gründe. Betroffen war ein Gebiet, aus dem die afghanische Regierung zwar Weizen und Schafsfelle gewinnt, das sie jedoch nie vollständig in den Griff bekommen konnte – we­der die Bauern noch die umherziehenden Hirten.[88] Daher reagierte die Zen­tralregierung auf die sich anbahnende Hungersnot nur langsam, sowohl bezüg­lich eigener Hilfsmaßnahmen als auch bei der Anforderung von internationaler Hilfe. Die Verantwortlichen warteten ab, bis selbst das Saatgut aufgegessen und fast die Hälfte der Schafe, Ziegen und Rinder des Landes geschlachtet oder gestorben waren. Als schließlich in Zusammenarbeit mit der U.S. Agency for International Development und anderen Spendern einige Hilfsmaßnahmen eingeleitet wurden, ließ die Regierung es zu, daß städtische Beamte die Lie­ferungen stahlen und auf dem Schwarzmarkt verkauften. (Allerdings wurde diese Praxis in mindestens einer Provinz durch den Angriff einer wütenden und hungrigen Volksmenge auf das Gouverneursbüro verhindert. Diese Aktion bewirkte die kostenlose Verteilung von Weizen.) Der Regierung diente diese Hungersnot wahrscheinlich auch zur Einschüchterung der Studenten und städ­tischen Arbeiter, von denen in Kabul immer mehr Unruhen ausgingen. Zur gleichen Zeit bestand die Nahrungshilfe-Politik der USA, die von den Frie­denskorps (Peace Corps) und Nixons Sonderbotschafter John Conally voran­getrieben wurde, aus den food-for-work-Projekten. Bei diesen wurden hun­gernde Menschen dazu gezwungen, für ihr Existenzminimum im Straßenbau oder bei der Entwässerung von Sümpfen zu arbeiten. Aber selbst bei diesen Projekten war die Bezahlung so niedrig, daß die Afghanen dabei starben, auch wenn sie ihre Lektion lernten. In einer Provinz mit 19 food-for-work-Projek­ten standen im zweiten Jahr noch etwa 300 Tonnen Weizen für bereits ein Jahr zuvor abgeschlossene Arbeiten aus. Trotz der "Hilfebemühungen" spra­chen inoffizielle Regierungsschätzungen von insgesamt fast 80 000 Hungerto­ten.

Auch in Afrika wurde vor und nach dem afghanischen Debakel in einem Land nach dem anderen die Dürre in Hungersnöte umgesetzt. Wie in Afghani­stan waren es die für die Regierungen schwer kontrollierbaren Bevölkerungs­teile, die dezimiert werden sollten: von den Wüstennomaden, die sich eine wilde Autonomie bewahrt hatten, bis zu den Guerillagruppen und ihrem offe­nen Widerstand im nördlichen Tschad. Mit dem wiederholten Ausbleiben der Regenfälle in den 70er Jahren wurden die afrikanischen Dürren immer schlimmer. Davon am härtesten betroffen waren die Nomaden, die ihre Her­den am Rand der Sahara (der Sahelzone) weiden ließen, und die in den Rand­gebieten lebenden Subsistenzbauern. Am wenigsten traf es die kommerziellen Farmer für Exportfrüchte, die das beste Land und die sichersten Wasserquellen monopolisiert hatten. Hierin liegt einer der historischen Gründe für die Hun­gersnot. Allerdings wurden auch die kommerziellen Farmer am Ende oft in Mitleidenschaft gezogen. Wie mittlerweile zu Genüge aufgezeigt worden ist, beruhte die Verwundbarkeit der Millionen afrikanischer Nomaden und Subsi­stenzbauern unmittelbar auf den Folgen der kolonialistischen Politik ursprüng­licher Akkumulation: Zwangsarbeit, hohe Steuern und vor allem die Enteig­nung des besten Bodens sowie dessen Nutzung für den Anbau von Export­früchten, der den kolonialistischen Interessen diente. Von den Apologeten des Kapitals wurden diese historischen Ursprünge geschickterweise übersehen und die wenigen vorhandenen Untersuchungen der Hungersnot tendieren dazu, den Nomaden Übervölkerung und Überweidung vorzuwerfen.[89]

Ebensowenig wird darauf hingewiesen, daß die Dürre keineswegs unerwartet eintrat, sondern seit fast sechs Jahren ständig zugenommen hatte, bis die Leute in der Sahelzone schließlich im Herbst 1972 massenhaft, zu Millionen, zusam­menbrachen. Darüberhinaus gab es genügend Informationen auf der interna­tionalen Ebene. Sowohl die US-Regierung als auch die FAO hatten in minde­stens vier dieser Jahre jeweils über hundert Beamte in diesen Gebieten im Einsatz. Diese beobachteten die Ausbreitung der Dürre und den Zusammen­bruch der Menschen und der Wirtschaft. Sie schickten einen Bericht nach dem anderen, in denen die stetige Entwicklung zur Katastrophe hin festgehalten wurde. Beide Organisationen taten nichts, um diesen Niedergang aufzuhalten. Und sie trafen auch keinerlei Vorbereitungen, um mit der kommenden Hun­gersnot fertigzuwerden. Durch ihre Untätigkeit haben sie deren Eintreten tatsächlich sichergestellt.

Ebensowenig beeilten sich die Regierungen der betroffenen Länder, die Auswirkungen der Dürre einzudämmen. Stattdessen ignorierten sie die wach­senden Probleme größtenteils oder verschlimmerten sie noch, indem sie die Bauern weiterhin zwangen, Steuern abzuführen. Die Beamten ließen es ab­sichtlich zu, daß die Viehherden der Nomaden verreckten und die Leute zu hungern begannen. Schließlich strömten die Nomaden, deren Lebensweise und Unabhängigkeit völlig zerstört worden war, aus der Wüste in die Dörfer. Ein Dorf nach dem anderen widersetzte sich dem zunehmenden Druck der Regie­rung, indem es die Steuern verweigerte und die Produktion von Exportfrüch­ten aufgab. Erst an diesem Punkt begannen die afrikanischen Regierungen, etwas zu unternehmen. Aber es handelte sich dabei meistens nicht um Hilfe, sondern um weitere Unterdrückung, die von den zur Niederschlagung der Hungerrevolten geschickten Truppen ausging. Erst die Kämpfe der Bauern, Nomaden und städtischen Bevölkerung gegen die Regierungen haben die Be­amten zu Maßnahmen gezwungen, mit denen die weitere Verschlimmerung der Katastrophe verhindert wurde.

Obwohl es viele Beispiele von bäuerlicher Militanz gab, zeigte sich im Tschad der Zusammenhang zwischen Hungersnot und Klassenkampf in der Sa­helzone am deutlichsten. Seit 1968 kämpfte dort eine Guerillabewegung gegen die Regierung des Tschad und die französische Fremdenlegion. Berichte aus dem Land machen eindeutig klar, wie hier Dürre und Hungersnot gegen die Rebellen eingesetzt wurden: Als sich die Dürre ausbreitete, verweigerte die Regierung den rebellischen Regionen nicht nur die Hilfe. Sie gab der Armee den Auftrag, in diesen Gebieten nach Wasserstellen zu suchen und sie mit Sand zuzuschütten! Zunächst war die Regierung unentschieden, ob sie mit Nahrungshilfen versuchen sollte, der Guerilla die Unterstützung der dort an­sässigen Bevölkerung zu entziehen, oder ob sie die Guerilla aushungern sollte. Sie entschied sich für die zweite Strategie. Das führte dazu, daß der Tschad als letztes Land der Sahelzone ausländische Hilfe anforderte.[90]

Als das internationale und regionale Kapital schließlich begann, die Verwü­stung der Sahelzone zu begrenzen, kamen die eigentlichen Hilfslieferungen in den Jahren 1973 und 1974 nur langsam in Gang, hatten nur einen beschränk­ten Umfang, und bei ihrer Verteilung wurden die Nomaden und andere rebel­lische Gruppen benachteiligt. Das langsame Anlaufen der Hilfen lag zum einen an den politischen Motiven, die zu der insgesamt geringen Handlungsbereit­schaft der Bürokratien führten. Darüberhinaus waren die Transportmöglich­keiten und die Menge verfügbaren Getreides mit denselben Geschäftsmanipu­lationen verringert worden, die im Westen die Preise hinaufgetrieben hatten (wie 1972 das Getreidegeschäft mit Rußland). Und wenn Getreide gekauft und in Länder wie den Tschad geschickt wurde, erwies es sich oft als Vogelfutter oder rohes Sorghum-Viehfutter, das für den menschlichen Verzehr ungeeignet ist. Vor allem unter den Nomaden, die eine sehr eiweißreiche Nahrung aus Fleisch und Milchprodukten gewohnt sind, verursachte dies häufig schwä­chende Durchfälle. Da die Verteilung dieser Nahrungsmittel (welche es auch immer waren) größtenteils den afrikanischen Regierungen überlassen blieb, kam es – wie internationale Beobachter berichteten - zu einer starken Be­nachteiligung der Nomaden. Ein US-Beamter erklärte: "die Nomaden werden ausgelöscht". Die US-Regierung weigerte sich jedoch, Informationen über dieses Problem zu veröffentlichen, und versuchte, den Bericht einiger ihrer Beobachter zurückzuhalten. Offensichtlich hatte sie kein Interesse, den Hun­gertod der Nomaden zu verhindern.

Die gleiche Geschichte wiederholte sich östlich der Sahelzone in Äthiopien. Die Selassie-Regierung benutzte die Hungersnot gegen die Bauern der Wallo-Provinz, während sie gleichzeitig Gewehre und Napalm gegen die Eriträer einsetzte. Haile Selassie brachte die Sache selbst auf den Punkt: "Wir haben gesagt, daß Wohlstand durch harte Arbeit verdient werden muß. Wir haben gesagt, wer nicht arbeitet, verhungert ..." Und verhungert sind sie – minde­stenes 100 000 Menschen allein in den ersten beiden Jahren der äthiopischen Hungersnot.[91]

Ein weiterer Fall muß erwähnt werden – der indische Subkontinent in der Zeit zwischen 1970 und 1975. Nachdem die Erfolge der Grünen Revolution die Getreideproduktion erhöht hatten, sackte die Erzeugung in Indien in den Jahren 1972/73 dramatisch ab. 1973 kam es zu Knappheiten und Lebensmit­telaufständen. 1974 stieg die Erzeugung, sank aber 1975 wieder ab. An diesem Punkt rief Ministerpräsidentin Indira Ghandi den Notstand aus und beschleu­nigte unter ihm die Angriffe auf die Arbeiterklasse. Die Industriearbeiter wa­ren mit Streikverboten und Lohnstops konfrontiert, die Bauern mit der Sen­kung der Erzeugerpreise, während sich Energie, Dünger und andere Grund­stoffe verteuerten. Gegen die schwächsten Sektoren der indischen Arbeiter­klasse setzte die Regierung ein Zwangssterilisations-Programm ein.

Noch dramatischer war die Verwüstung von Bangladesch. Auf die Wirbel­stürme von 1970 folgten der Bürgerkrieg von 1971, die Dürre von 1972, die Überschwemmungen von 1973 und 1974 und schließlich die Hungersnot 1974 und Anfang 1975. Die Reaktion auf die drohende Hungersnot in Bangladesch ist ein weiterer schlagender Beweis dafür, wie die Triage in den 70er Jahren funktioniert. Als die Regierung des Landes Anfang 1974 keine Kredite be­kommen konnte, um den Kauf von Getreide zu den neuen, viel höheren Prei­sen zu finanzieren, und die US-Regierung um Hilfe bat, blockte Washington ab. Wie Emma Rothschild hervorhob, sprach man zu dieser Zeit im Finanzmi­nisterium (und zweifellos auch bei anderen Regierungsstellen) viel über die Vorteile der Triage.[92] Während dieser Debatte verschlechterten sich die Ver­hältnisse in Bangladesch, und als sich die USA schließlich zum Handeln ent­schlossen, war es zu spät, um die Ausbreitung von Nahrungsmangel und Hun­ger zu verhindern. Es fand also ein inoffizieller, aber äußerst wirksamer Fall von Triage statt. Außerdem wurden die seither ins Land gebrachten Nah­rungslieferungen nicht einfach zur Ernährung der Menschen eingesetzt, son­dern dienten der Durchsetzung von massenhafter Zwangsarbeit in großen food-for-work-Programmen. Über diese unverschämten Programme, mit denen hungernde Menschen zur Arbeit gezwungen wurden, schrieb das Wall Street Journal in einem Leitartikel begeistert:

»Die Regierung hat zwei Millionen Männer und Jungen <und Frauen und Mädchen> zur Arbeit beim Bau von Kanälen und Dämmen herangezogen, mit denen die Monsunfluten kontrolliert und die Bewässerung entwickelt werden sollen. Jedem Arbeiter werden sechs Pfund Weizen pro bewegter Tonne Erde gezahlt.

Vieles an diesen Programmen ist für das moderne Denken schockie­rend. Es handelt sich um harte Knochenarbeit in einem Zeitalter, in dem es Maschinen gibt, die solche Arbeiten mit leichten wuchtigen Bewegungen erledigen können. Die Bezahlung ist niedrig. Das System ähnelt der Ak­kordarbeit, die von den amerikanischen Gewerkschaften verabscheut wird, da sie das Konkurrenzdenken fördert. ... Auch wenn wir dies zugestehen, so bleibt die Tatsache, daß Bangladesch eine Wahrheit aufs neue bestätigt, die so alt wie die Menschheit selber ist: um zu essen, mußt du arbeiten. ... Reichere Nationen könnten daraus sogar für sich selber lernen.«[93]

Wiederaufbau

Bisher haben wir umrissen, auf welche Weise der Hunger als repressive Maß­nahme gegen die Arbeiterklasse eingesetzt wurde – in den unterentwickelten Regionen und als internationaler Demonstrationseffekt. Wir haben aber noch nichts über die Pläne und Projekte des Kapitals für die zweite Phase der Krise, die Umstrukturierung dieser Gebiete, gesagt. Im Folgenden stellen wir einige Anzeichen dieses Prozesses dar.

Als die Hungerhilfen in den Jahren 1973/74 ihre Spitze erreicht hatten, folgten in der Sahelzone nicht nur die Regenfälle von 1974 und 1975, sondern auch langfristige Planungen zur Umstrukturierung der Region. Die U.S. Agency for International Development, die Weltbank und die FAO führten verschiedene Studien durch. Alle kamen zu dem Ergebnis, daß die Krise stän­dig "wiederkehren" würde, wenn nicht gewaltige Entwicklungen zu breiten Veränderungen im sozialen und ökonomischen System der Region eingeleitet würden.[94] Das Ausmaß der für notwendig gehaltenen Veränderungen kann an den angegebenen Produktionszielen abgelesen werden, mit denen zukünftige Katastrophen verhindert werden sollten. Ausgehend von dem vorhandenen Be­völkerungswachstum und niedrigen Konsumniveau wurde eine jährliche Stei­gerung des Ertrags um zehn Prozent für nötig befunden – ein selbst in guten Jahren unvorstellbares Niveau. Die wichtigsten strukturellen Veränderungen, in denen die Berichte übereinstimmten, waren: Modernisierung der Trocken­landbewirtschaftung zur Ertragssteigerung mit neuen Technologien, Auswei­tung der Bewässerungsmaßnahmen und die Umwandlung der nomadischen Tier­haltungsmethoden in seßhaftere Formen. Der letzte Punkt ist für die Poli­tik des Hungers besonders wichtig. Bezüglich der Methoden zur Kontrolle der Nomaden gab es in den Berichten verschiedene Varianten, aber alle waren sich darin einig, daß die extensive Produktionsweise der Nomaden durch intensive Fleischproduktion ergänzt werden müßte. Es überrascht nicht, daß sich einige Studien Sorgen machen, wie derart drastische Maßnahmen in der Region ein­geführt und der Bevölkerung aufgedrückt werden können. So wie in Chile wurden auch die Sahel-Planer zu der Erkenntnis gezwungen, daß es eine Sache ist, eine Gruppe von Arbeitern durch überwältigende Macht oder Untätigkeit (* d.h. die Verweigerung von Lebensmittelhilfen) niederzuwerfen und ihre Löhne oder Einkommen auf das Existenzminimum zu drücken. Etwas ganz anderes ist es, mit der letzten, angesichts solcher Niederlagen noch vorhan­denen, Waffe der Arbeiterklasse fertigzuwerden: der Verweigerung produkti­ver Arbeit.

Um weitere Pläne zur Umstrukturierung der Region zu entwickeln und um die zu deren Durchführung erforderlichen Finanzmittel (öffentliche wie pri­vate) und Bürokratien zu mobilisieren, schlossen sich im März 1976 westliche Kapitalplaner mit Vertretern der afrikanischen Länder zum Club des Amis du Sahel (Klub der Sahelfreunde) zusammen. Der Club formulierte eine Prioritä­tenliste (an erster Stelle die Umwandlung der Landwirtschaft) und startete eine Reihe von Projekten, mit denen frühere Untersuchungen zusammengefaßt und ergänzende Studien über die einzuführenden Programme und Strategien be­gonnen werden sollten.

Im Osten der Sahelzone können wir eine Ahnung davon gewinnen, welche Art von Entwicklung der Club des Amis im Sinn hat. Im Sudan, einem der Länder, die an den Sahel grenzen und mit dem sich die verschiedenen Berichte oft beschäftigt haben, wird ein größeres landwirtschaftliches Entwicklungsvor­haben in Gang gebracht. Die Arab Authority for Agricultural Investment and Development (Arabische Behörde für landwirtschaftliche Investition und Ent­wicklung) plant, in den nächsten fünf Jahren schätzungsweise 2,2 Mrd. Dollar in etwa 60 Projekte zu investieren. Dem Leiter der technischen Unterstüt­zungsprogramme des Arabischen Fonds zufolge ist es dabei "das Hauptziel, die arabischen Länder mit Nahrungsmitteln und landwirtschaftlichen Produkten zu versorgen, die momentan von außerhalb der arabischen Welt importiert werden müssen ... Wir wollen auch einen Markt für die Exporte anderer arabischer Länder, wie Düngemittel, Pestizide und Maschinerie, schaffen. Außerdem wird die Behörde Möglichkeiten anbieten, arabisches Geld in kommerzielle Agrobusiness-Unternehmen in der arabischen Welt einzubringen." Dem Mi­deast Markets Report der Chase Manhattan Bank zufolge, erwartet man auch, daß der Fonds Gemeinschaftsunternehmen (joint ventures) mit westlichen Firmen fördern wird. Aber worin wird die materielle Grundlage für den er­warteten Erfolg solcher Investitionen gesehen? Einfach in der Einschätzung, daß der Sudan über viele der erforderlichen Produktionsfaktoren verfügt: "Es gibt dort jede Menge Land, Sonne, Menschen und Wasser." Aber die jüngste Geschichte des Landes legt nahe, daß "Menschen" kein gleichwertiger, sondern der entscheidende "Produktionsfaktor" sind. Die Pläne der Arab Authority zie­len darauf, die sudanesischen Menschen, vor allem die schwarze Bevölkerung des Südens, an die Arbeit zu bringen, mit der Nahrungsmittel und Profite für das Agrobusiness produziert werden. Mehr hat es mit der Umstrukturierung und "Entwicklung" nicht auf sich.[95] (Es bestehen ähnliche Pläne für Afghani­stan.[96])

Für den Fall, daß nun die Schlußfolgerung gezogen wird, der Sozialismus könne vielleicht eine brauchbare Alternative zu diesem Eindringen kapitalisti­scher Investitionen darstellen, sollten wir einen Blick auf Somalia werfen, ein anderes ostafrikanisches Land, das von Dürre und Hungersnot getroffen wurde. Die sozialistische Militärregierung ging hier weitgehend genauso vor wie die anderen Regimes der Region: der regierende Militärrat nutzte die von der Dürre und dem Hunger in Somalia ausgelöste Vertreibung der Menschen aus ihren Wohngebieten (dislocations), um den Zeitplan für die Umsiedlung der Nomaden zu beschleunigen. Etwa 80 Prozent der 4,5 Millionen Menschen des Landes sind Nomaden. Die Unterschiede scheinen hauptsächlich in den besonderen Institutionen zu liegen, in die die Nomaden hineingezwungen wur­den, und darin, daß die Regierung die Unterstützung und die Einleitung des Umstrukturierungsprozesses wirksamer durchführte. Den Nomaden in den Flüchtlingslagern wurde der "wissenschaftliche Sozialismus" fast direkt zusam­men mit der Nahrung und medizinischen Versorgung eingetrichtert. Wie im Sahel ist es das Ziel, die Nomaden dauerhaft seßhaft zu machen und in besser kontrollierten Verhältnissen ans Arbeiten zu bringen. Der Unterschied zwi­schen Somalia und zum Beispiel dem Tschad liegt nur in der Form: im ersten Fall sind es Kommunen im sozialistischen Stil mit strikter militärischer Diszi­plin statt des Agrobusiness im Stil der Arab Authority oder der Viehfarmen nach dem Muster der U.S. Agency for International Development.[97]

Fassen wir zusammen: durch hohe Lebensmittelpreise im "entwickelten" We­sten und durch Hunger in Afrika, Asien und Lateinamerika hat das Kapital Unterentwicklung in Form des verringerten Zugangs zu Nahrungsmitteln ge­gen die Arbeiterklasse eingesetzt. Auf der anderen Seite wurden in der So­wjetunion und in Osteuropa mit der Entwicklung in Form von steigendem Nahrungsangebot und wachsenden Investitionen die landwirtschaftlichen Stra­tegien der 60er Jahre in der Phase 1971-75, wenn auch unter veränderten Pro­duktionsbedingungen, fortgesetzt. Obwohl bis vor kurzem dieser Unterschied vorhanden war, mehren sich nun die Anzeichen dafür, daß der "westliche" Gegenangriff mit den Energie- und Nahrungsmittelpreis­manipulationen nun auch in Osteuropa und der Sowjetunion auftaucht, neben bestimmten fortbe­stehenden Aspekten der Entwicklungspolitik in den letzten 10 bis 15 Jahren. Außerdem reagiert die Arbeiterklasse dieser Länder genauso wie in anderen Teilen der Welt sehr aktiv und oftmals militant.

Kapitalisten der Welt, vereinigt euch

Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daß in den frühen 70er Jahren eine Ge­genoffensive der Unterentwicklung gegen die Erfolge der Arbeiterklasse in der Sowjetunion und Osteuropa eingeleitet wurde. Ich will nur drei diskutieren. Das erste Beweisstück ist der Sowjetische Fünfjahresplan für 1976-1980, in dem die Russen die niedrigsten Wachstumsraten der Nachkriegszeit angesetzt haben.[98] Ist das schlicht Realismus oder handelt es sich um das russische Ge­genstück zur westlichen geplanten Rezession? Obwohl die landwirtschaftliche Erzeugung in den letzten Jahren katastrophal war, sollen die Wachstumsraten für die Düngemittelproduktion, die Bewässerung und die Produktion land­wirtschaftlicher Geräte gesenkt werden. Die wichtigsten Investitionen sind für solche Industriezweige wie die Petrochemie und nicht für die Landwirtschaft vorgesehen.

Auf der Konsumseite ist das geplante Wachstum des Nahrungsangebotes nicht höher als im Zeitraum 1971 bis 1975 (3,2 Prozent). Angesichts der ver­ringerten Investitionen in die Landwirtschaft ist selbst diese Zahl möglicher­weise kaum mehr als ein Versuch von Öffentlichkeitsarbeit. Die Versprechun­gen der frühen 70er Jahre, die Produktion von Konsumgütern rasch auszu­weiten, werden mit ähnlichen Argumenten wie im Westen fallengelassen: Preisstabilität, Ersticken des "Inflationsdrucks". Aber um dies zu erreichen, bedarf es natürlich eines Angriffs auf die Löhne. Darüber wird jedoch im Plan nichts ausgesagt. Ohne diesen Angriff würden die weiter steigenden Löhne bei gleichzeitig gesenkter Konsumgüterproduktion den Druck auf die Preise verstärken. Und Preiserhöhungen der Regierung sind im Sowjetblock in zahlreichen Fällen zurückgeschlagen worden. Dies könnte in den 80er Jahren zu einem "Zusammenprall" führen, vor allem dann, wenn die Lohnerhöhungen weiterhin den Produktivitätszuwachs übertreffen. Dieses Phänomen beruht nicht einfach, wie wir gesehen haben, auf schlechter Technologie, sondern auf dem Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Arbeit auf den Farmen und in den Fabriken Osteuropas und der Sowjetunion. Der sich daraus ergebende "Arbeitskräftemangel", der durch die anhaltende Landflucht verschärft wurde, war teilweise dafür verantwortlich, daß bulgarische, nordkoreanische und so­gar finnische Arbeiter in die Sowjetunion importiert wurden. Daran zeigte sich eine weitere Parallele zu den in Westeuropa und den USA angewandten Strate­gien.

Das zweite Beweisstück für die politische Wende im Osten stammt aus einer Untersuchung der Handelsbeziehungen. Erstens hat die UdSSR den Anstieg der Öl- und Energiepreise, der woanders eine so wichtige Rolle in der Kapi­talstrategie spielte, in Osteuropa rasch wiederholt.[99] Obwohl die Russen ihr Öl innerhalb des Ostblocks zu Preisen weit unterhalb des Weltmarktniveaus ver­kauft hatten, wurden die Preise 1975 scharf angehoben. Dadurch fand in gleicher Weise ein Werttransfer aus Osteuropa in die UdSSR statt wie zuvor aus Westeuropa zur OPEC. Die Preise wurden 1976 nochmals deutlich erhöht und für 1977 werden weitere Anhebungen erwartet. Gleichzeitig wurden häu­figere Anpassungen der internen Preise im sowjetischen Block eingeführt, wo­durch deren Änderungen schneller denen auf dem Weltmarkt folgen können. Die Ausbreitung dieser Krisenmechanismen vom Westen in den Osten wird damit beschleunigt. Diese Politik wirkt sich allmählich auf Osteuropa genauso aus wie die früheren Preissteigerungen der OPEC auf den Westen: eine Ten­denz zur wirtschaftlichen Krise und Unterentwicklung.

Eines der am härtesten betroffenen Länder Osteuropas ist die Tschechoslo­wakei. Mit Hilfe der steigenden Energiepreise scheint man dort zu beginnen, die Verbesserungen im Lebensstandard zurückzuschrauben, die nach der Erhe­bung von 1968 gewährt worden waren. Es wurden einige Einschränkungen beim Elektrizitätsverbrauch durchgesetzt, und tschechische Wirtschaftler und Regierungsbeamte warnten vor der Möglichkeit weiterer Sparmaßnahmen.[100] Einer der auffälligsten Gründe für die Akkumulationsprobleme war hier, wie in der Sowjetunion, die unzureichende "Arbeitsdisziplin". Ein neuerer Bericht über dieses Problem erklärt:

»Die Arbeitsmoral bereitet größere Sorgen. Es vergeht kaum ein Tag ohne Berichte in Presse oder Rundfunk über die Zeitverluste durch Absentis­mus, einem indirekten Maßstab für die Arbeitsdisziplin. In dieser Hin­sicht scheint der menschliche Einfallsreichtum unbegrenzt zu sein. Radio Prag beklagt das Durcheinander in der Produktion, das daraus entsteht, daß Hunderttausende jedes Jahr ihren Geburtstag, Namenstag oder an­dere Jubiläen während der Arbeitszeit feiern. Außer ihnen selbst bleiben auch ihre zahlreichen Gäste der Arbeit fern.«

Dem tschechischen Arbeitsminister zufolge führt dieser Kampf gegen die Ar­beit zum jährlichen "Verlust" von schätzungsweise 100 Millionen Arbeitsstun­den – das würde der Zeit eines einjährigen Urlaubs von 55 000 Arbeitern entsprechen.[101] Wie heute die Russen und in den 60er Jahren die Westeuropäer antwortet die tschechische Regierung darauf mit dem Import billiger Arbeits­kräfte – aus Jugoslawien, Bulgarien, Zypern und auch aus Vietnam.[102]

Der Druck auf die Regierungen Osteuropas und der Sowjetunion wird außerdem durch Entwicklungen in ihren Handels- und Finanzbeziehungen zum Westen verschärft. Um mit den Klassenkämpfen fertig zu werden, sind die Regierungen auf Investitionen in neue produktivitätssteigernde Technolo­gien angewiesen, die sie zunehmend aus dem Westen importieren. Da sie mit den gleichen Problemen wie viele westliche Länder konfrontiert waren (stei­gende Energiekosten ohne eine dementsprechende Ausweitung der Exporte), mußten sie sich bei westlichen privaten Geschäftsbanken und auf den europä­ischen Finanzmärkten stark verschulden. Ihre Verschuldung stieg von 8,5 Mrd. Dollar 1973 auf 25 Mrd. Dollar im Jahre 1976 an. Es wird davon ausgegangen, daß sich diese Situation weiter verschlechtert, da sowohl die Importzwänge als auch die Schwierigkeiten bei der Exportsteigerung bestehen bleiben. Durch das so entstehende osteuropäische Schuldenproblem gewinnen die Gläubigerinsti­tutionen die Macht, von diesen Ländern eine Austeritätspolitik und Unter­drückung der Arbeiterklasse zu verlangen, wie sie bereits von der US-Bun­desregierung und den wichtigsten Banken über New York und vom Internatio­nalen Währungsfonds über Westeuropa ausgeübt wird.[103]

Ein drittes und höchst dramatisches Beweisstück für die Ausbreitung des ka­pitalistischen Gegenangriffs (und für dessen Grenzen) in den Ostblock stammt aus Polen: Im Juni 1976 versuchten die Behörden erneut, die Lebensmittel­preise deutlich anzuheben und damit das Realeinkommen der Arbeiterklasse zu kürzen. Es sei daran erinnert, daß der letzte Versuch im Dezember 1970 zu­rückgeschlagen wurde und die polnische Regierung, die Unterstützung von der UdSSR erhielt, zu umfangreichen und steigenden Lebensmittelsubventionen für Konsumenten und Produzenten gezwungen worden war. Zwischen 1971 und 1975 unterhöhlte die Regierung mit Hilfe der Inflation die tatsächlichen Auswirkungen dieser Subventionen. Zum Beispiel fiel das bäuerliche Einkom­men zwischen 1973 und 1975 um 28 Prozent. Aber die anhaltenden Lohnstei­gerungen (im gesamten sozialistischen Sektor stiegen die Reallöhne zwischen 1971 und 1975 um 40 Prozent) und die zurückbleibende Produktivität in In­dustrie und Landwirtschaft ließen die staatliche Subventionslast weiter anstei­gen. Die Regierung war 1975 schließlich gezwungen, sich auf eigene Getreide­geschäfte mit den USA einzulassen.[104] Außerdem protestierten die Arbeiter weiterhin gegen Lebensmittelknappheit. Besonders bemerkenswert waren die Aktionen von Hausfrauen 1975 gegen den Fleischmangel. Eines der Hauptthe­men dieses Kampfs besteht darin, daß Polen zur Finanzierung der Akkumula­tion und trotz des Mangels Fleisch exportiert – unter anderem jährlich etwa 27 000 Tonnen polnischen Schinken und Schulterstücke in die USA.

Am 24. Juni 1976 verkündete die Regierung, sie werde das Nahrungsmittel­problem durch die Anregung der landwirtschaftlichen Produktion mit höheren Erzeugerpreisen lösen. Diese sollten im Gegenzug durch noch stärker gestie­gene Verbraucherpreise bezahlt werden. Es war ein klassischer Versuch, die Industriearbeiter gegen die Bauern auszuspielen. Die Art und Weise, in der die Preissteigerungen durch Zuschüsse abgemildert werden sollten, zeigte außer­dem, wer der wirkliche Feind war. Es wurde angekündigt, daß Arbeiter, "die ständig ihren Arbeitsplatz wechseln", "Faulenzer" und andere mit "mangelnder Arbeitsdisziplin" keine Unterstützungen erhalten würden.

Die schnelle Reaktion der Arbeiterklasse war das Spiegelbild der Ereignisse von 1970. Überall im Land verließen aufgebrachte Arbeiter ihre Arbeitsplätze. In Radom kam es zu Unruhen, bei denen die Büros der Kommunistischen Partei ausgebrannt und Lebensmittelgeschäfte geplündert wurden. In Ursus rissen Arbeiter Eisenbahnschienen aus dem Boden und brachten eine Lokomo­tive zum Entgleisen. Innerhalb von 24 Stunden machte die Regierung einen Rückzieher und stoppte die Preiserhöhungen.

Der zweite erstaunliche Sieg der polnischen Arbeiter innerhalb von sechs Jahren hat die Regierung in eine schwere Krise getrieben. Bisher konnten die ganze Beschwörungen der steigenden Kosten für Energie und andere Importe das eisige Verhältnis zwischen Regierung und Volk nicht durchbrechen. Es ist unklar, welche Druckmittel die Regierung in Zukunft aus dem westlichen Einfluß gewinnen kann – vor allem aus den Warnungen vor einem Zerfall der polnischen Kreditwürdigkeit. Die Grenzen ihres momentanen Handlungsspiel­raums werden daraus ersichtlich, daß sie durch internationale Proteste zur Verringerung der Gefängnisstrafen für die Anführer der Aufstände gezwungen wurde. Aufgrund der Niederlage in den städtischen Gebieten wandte sich die Regierung den ländlichen Regionen zu (in denen die erhöhten Erzeugerpreise bestehen blieben). Die Regierung trieb die Mechanisierung voran, um die Pro­duktivität zu steigern, und versucht, eine östliche Variante des Mansholt-Plans durchzuführen. Ältere Farmer sollen dazu gebracht werden, ihr Land an die Staatsbetriebe zu verkaufen.

Während die polnische Regierung darauf wartete, daß diese Maßnahmen Früchte tragen, mußte sie jedoch weiterhin steigende Lebensmittelimporte bezahlen, um die Bedürfnisse der Arbeiter zu befriedigen. Nach einer Sitzung des Zentralkomitees, das die Auswirkungen des Juni-Aufstandes diskutierte, machte Gierek im Dezember 1976 eine aufschlußreiche Ankündigung. Sie weist darauf hin, daß sich Polen dem sowjetischen Kurs anschließen wird, eine geplante Rezession einzuleiten. Er erklärte, die im Fünfjahresplan 1976-1980 vorgesehenen Investitionen würden auf Grund der anhaltenden Nah­rungsmittelimporte (die sich 1976/77 auf schätzungsweise 1,5 Mrd. Dollar für Getreide und Fleisch beliefen) verringert werden. Obwohl die Lebensmittel­produktion vermutlich trotzdem ansteigen wird, erwägt die Regierung als Er­satz für Preissteigerungen die Einführung der Rationierung – was beim Zucker bereits erfolgt ist. Sollte diese Praxis unter sich verschlechternden wirtschaft­lichen Bedingungen ausgeweitet werden, würde sie aber wahrscheinlich nicht zu weniger sondern zu verstärkten Arbeiterprotesten führen. Zweifellos wird es zu weiteren Kraftproben zwischen dem polnischen Staat und der polnischen Arbeiterklasse kommen.[105]

Im übrigen Osteuropa und in der Sowjetunion haben die polnischen Ereig­nisse unterschiedliche Auswirkungen. In Ungarn gab es weniger Spannungen und die Regierung konnte geringere Preiserhöhungen durchsetzen. In der Tschechoslowakei war die Lage angespannter. Die Regierung veröffentlichte schnell "beruhigende Erklärungen über die Stabilität der tschechischen Preise". In der Sowjetunion selbst war die polnische Situation für die Machthaber in doppelter Weise beunruhigend - wegen des Einflusses, den schon der Aufstand von 1970 gehabt hatte, und weil es bereits zu mindestens einem Streik wegen des Lebensmittelproblems in jüngster Zeit gekommen sein soll (in Lettland). Um weiteren Unruhen vorzubeugen, kündigte die Sowjetregierung Anfang 1977 an, die Konsumgüterproduktion zu steigern und in den nächsten vier Jahren die Löhne in bestimmten Sektoren um 18 Prozent zu erhöhen. Gleich­zeitig wurden die Preise für Grundnahrungsmittel weiter konstant gehalten, obwohl die Regierung 1975 allein für die Subventionierung der Milch- und Fleischpreise etwa 25 Mrd. Dollar ausgab, wie der Vorsitzende der staatlichen Preiskommission erklärte.[106]

Zusammenfassend wird deutlich, daß die Zeiten vorbei sind, in denen die Krise im Westen mit der Fortsetzung von Entwicklungsstrategien im Osten vereinbar war. Von jetzt an wird sich wahrscheinlich die weltweite Zirkulation sowohl des kapitalistischen Angriffs wie des Widerstandes der Arbeiterklasse beschleunigen. Dadurch werden sich Auseinandersetzungen in einem beliebi­gen Gebiet stärker und schneller auf andere Regionen der Welt auswirken.

VI. Schlußfolgerungen

Obwohl unsere Skizze der Klassenpolitik bezüglich Nahrung in keiner Weise vollständig ist, können wir dennoch einige wichtige Lehren aus den darge­stellten Erfahrungen ziehen. Die grundlegendste Schlußfolgerung besteht viel­leicht darin, daß die "Nahrungsmittelkrise" der 70er Jahre nicht einfach ein Problem oder eine Schwäche des Kapitalismus ist. Hohe Preise und Hunger sind weder das bloße Nebenprodukt des Profitstrebens kapitalistischer Firmen noch das unvermeidliche Ergebnis eines Handels- und Investitionsimperialis­mus der nationalen Kapitale. Obwohl die "Nahrungsmittelkrise" auch diese Elemente enthält, bildet sie im wesentlichen eine Dimension des unmittelbaren internationalen Angriffs des Kapitals auf die Arbeiterklasse. Und auch dieser Angriff entstammt nicht einfach der fortgesetzt aggressiven Entwicklung des Kapitals, sondern stellt die verzweifelte Antwort auf eine tiefgehende Krise dar. Wie wir gesehen haben, ist diese Krise keine Anhäufung regionaler Pro­bleme. Sie wurde dem Kapital weltweit von einer Arbeiterklasse aufgezwun­gen, die durch den gemeinsamen Gehalt und die Verbundenheit ihrer Kämpfe überall ihren internationalen Charakter behauptet hat. Die Forderung nach gesellschaftlichem Reichtum und der Kampf gegen die Arbeit, worin zerowork 1 die Grundlage der Klassenstrategie ausgemacht hatte, finden wir auch im Hinblick auf die Nahrungsmittel. In den 50er Jahren kämpfte der land­wirtschaftliche Klassenteil gegen die Versuche des Kapitals, die ländliche Gesell­schaft zugunsten der Industrialisierung umzustrukturieren und auzubeu­ten. In den 60er Jahren wies die Klasse, im Westen und im Osten, auf dem Land und in der Stadt, die Produktivitätsabkommen zurück. Sie widersetzte sich sowohl dem dreisten Versuch des Kapitals, sie bei gleichem Einkommen zu mehr Arbeit zu zwingen, als auch den subtileren Versuchen, die Einkom­menszuwächse an die Produktivität zu koppeln. Dies stellte eine Kampfansage an die gesamte Zukunft des Kapitals dar.

Die verschiedenen Klassensektoren hatten entsprechend ihrer Stellung in der Lohn- und Einkommenshierarchie in sehr unterschiedlichem Maße die Kraft gehabt, ihren Konsum von Nahrungsmitteln zu verbessern. Aber in den 60er Jahren waren es die Kämpfe der traditionell schwächeren Sektoren, vor allem die der Nichtentlohnten, die ungeheuer stark anwuchsen. In der Tat können wir in ihren Kämpfen den wichtigsten Faktor erkennen, der eine politische Neuzusammensetzung der Klasse erzwang und das Kapital in eine schwere Krise stürzte. Im Westen riefen die Kämpfe der Frauen, der Schwarzen, der Landarbeiter und anderer die "Krise der Demokratie" hervor. In Asien und Afrika wurde die Grüne Revolution durch die Kämpfe der Bauern, vor allem in Indochina, besiegt. In Osteuropa und der Sowjetunion waren es ebenfalls die Bauern, die die Arbeit auf den Kolchosen und anderen Farmen sabotierten und die Anstrengungen der Planer zunichte machten, sie für die Befriedigung der Nahrungsbedürfnisse der städtischen Arbeiter zu benutzen. All diese Kämpfe erschütterten die Quellen des Profits und der Akkumulation, indem sie die Manövrierfähigkeit des Kapitals an einzelnen Orten und weltweit stark einengten.

Die "Nahrungsmittelkrise" ist also ein Moment des weltweiten Machtkampfs zwischen den Klassen. Er entstand nicht aus der Schwächung, sondern aus dem Anwachsen der Stärke und Militanz der Arbeiterklasse. Dieser Überblick hat gezeigt, daß der Druck der Arbeiterklasse das Kapital dazu gezwungen hat, mit neuen produktivitätssteigernden Technologien (Hochertragssorten, Mecha­nisierung usw.) die Pro-Kopf-Produktion zu erhöhen und ein höheres Kon­sumniveau möglich zu machen. Ich habe hier nicht versucht, die Geschichte weiter zurückzuverfolgen. Aber es sollte ausreichen, um unsere anfangs auf­gestellte Behauptung zu begründen: daß die heute besser ernährten Arbeiter aufgrund ihrer Kämpfe in diese Lage gekommen sind.

Die Klasse war zwar stark genug, um eine Erhöhung des Nahrungsver­brauchs und des "Lebensstandards" zu erreichen und die kapitalistische Ent­wicklung zu untergraben. Aber trotzdem war sie nicht stark genug, um einen massiven Gegenangriff zu verhindern. An den Erfolgen des Kapitals während dieses Gegenangriffs erkennen wir, auf welchen Gebieten die Schwäche der Arbeiterklasse liegt. Die größte Schwäche liegt natürlich in jenen Sektoren (zum Beispiel Gebiete wie die Sahelzone oder Bangladesch), in denen die Bauern es nicht verhindern konnten, daß man sie hungern ließ. Aber die Nie­derlagen der 70er Jahre zeigen noch mehr: sie enthüllen, daß Spaltung das entscheidendste Instrument des Kapitals geblieben ist. Sogar den im Kampfzy­klus der 60er Jahre führenden Klassensektoren (wie denen in Italien, England oder New York) konnte das Kapital die Austerität aufzwingen – wenn auch nicht so schwerwiegend wie in Asien und Afrika. Das Kapital hat sich auf neue Formen der Spaltung gestützt, und es dauerte eine Zeit, bis sie unter­sucht und verstanden wurden. Die sogenannte Haushaltskrise der Stadt New York und die plötzliche Verteuerung der Nahrungsmittel wurden nicht sofort als Repressionsinstrumente erkannt. Ebenso verhielt es sich mit dem Zusam­menbruch des internationalen Währungssystems, der durch die Abwertung des Dollar und die plötzliche Welle von Zahlungsbilanzschwierigkeiten aufgrund der Energiepreiserhöhungen ausgelöst wurde. Er wurde nicht sofort als ein Aspekt der kapitalistischen Suche nach einer neuen Kontrolle über das inter­nationale System verstanden. Radikale Gesellschaftskritiker, vor allem die lin­ken, haben die Situation nur noch undurchsichtiger gemacht, indem sie die Krise als ein weiteres schmerzvolles Ergebnis der mysteriösen "Bewegungsge­setze" des Kapitalismus abhandelten.

Auch wenn die meisten Radikalen und Linken die Bedeutung der Gescheh­nisse nicht begriffen haben – die Arbeiterklasse hat es getan, und die Leute haben begonnen zurückzuschlagen. Vom ersten russischen Getreidegeschäft waren die Arbeiter in den USA noch unvorbereitet getroffen worden. Aber allen weiteren derartigen Plänen haben sie ernsthafte Hindernisse in den Weg gelegt. Gleichzeitig verhinderten sie umfangreiche Kürzungen bei den Le­bensmittelmarken. In den USA und in Westeuropa wurde dem Angriff auf die Landarbeiter und Bauern durch die Niederlage der Teamsters und den Wider­stand gegen den Mansholt-Plan die Spitze abgebrochen. Die internationale Ka­pitalflucht in Regionen wie den Mittleren Osten hat zu wachsenden Problemen geführt, da in den neuen Investitionsgebieten Arbeiterkämpfe ausgebrochen sind. Auch im sozialistischen Block wurde die Krise vertieft: die polnischen Arbeiter antworteten militant auf die Austerität, die sowjetischen Arbeiter setzen ihr unkooperatives Verhalten fort und unter den Arbeiter in China und Vietnam wächst die Unruhe.

Am erfolgreichsten waren die Strategien des Kapitals, die einen internatio­nalen Charakter haben und bei denen der Angriff auf die Arbeiter eines Lan­des scheinbar von außen kommt. Am stärksten fiel dies an der "Energiekrise" und der neuen internationalen Manipulation der Wechselkurse und Kredite auf. Aber auch in diesen Fällen fangen die Arbeiter an, die Mechanismen zu durchschauen und sich zur Wehr zu setzen. In den USA bereitet sich die Car­ter-Regierung auf eine starke Opposition gegen ihr Energie-Programm vor, seitens einer Bevölkerung, die den Propagandamärchen von den Arabischen Scheichs und den Grenzen des Wachstums keinen Glauben mehr schenkt.[107] Und in Polen, Ägypten und Italien antworteten die Arbeiter militant auf die Bedingungen, die vom Internationalen Währungsfonds zur Linderung der "Geldknappheit" aufgestellt wurden.

Worauf müssen wir unsere größte Aufmerksamkeit richten, wenn wir die beste Strategie zur "Lösung der Nahrungsmittelkrise" finden wollen? Wir müs­sen die Mechanismen des Kapitalangriffs und vor allem die gegen ihn gerich­teten Kämpfe untersuchen. Wir müssen die Schwächen und Stärken dieser Kämpfe herausfinden und auf ihren Stärken aufbauen. Wir müssen kapieren, daß der Kampf um Nahrung Teil eines umfassenden Kampfs ist, und daß eine Nahrungsmittelbewegung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie ihre Auf­gabe darin sieht, die Zirkulation der verschiedenen Kämpfe zu beschleunigen. Außerdem müssen wir von den gegenwärtigen Kampfformen lernen, um uns nicht auf überholte Vorstellungen von den Kampfzielen zurückzuziehen. Wir müssen erkennen, daß sich der heutige Aufstand der Arbeiterklasse nicht ge­gen den Staat als Winterpalast, sondern gegen den Staat als gesellschaftliche Fabrik richtet. Denn das Wesen des gegenwärtigen internationalen Kampfs stellt die "sozialistische Alternative", jedweder Spielart, ernsthaft in Frage. Und bevor wir weiterhin nach einem "wahren Sozialismus" rufen, der mit nichts in der heutigen Welt zu vergleichen sei, sollten wir uns vergewissern, ob wir die neuen Forderungen und Bedürfnisse der Arbeiterklasse richtig verste­hen. Nur durch die Untersuchung der konkreten Kämpfe (ganz zu schweigen von der Beteiligung an ihnen) können wir die angemessenen Organisationsfor­men für die Erreichung unserer Ziele bestimmen.

Mai 1977


Fußnoten:

[1] Zwei nützliche neue Bücher, die vieles zusammenfassen, was aus dieser Perspektive geschrieben wurde, sind: Frances Moore Lappe & Joseph Collins, Food First, Houghton Mifflin, 1977 (deutsch: Vom Mythos des Hungers, Frankfurt 1978); Susan George, How the Other Half Dies, Allanheld Osmun, 1977 (deutsch: Susan George, Wie die anderen sterben. Die wahren Ursachen des Welthungers. Berlin 1984, 2. Aufl.)

[2] Die sorgfältigste und brauchbarste Arbeit über Nahrungsmittel aus der antiimperialistischen Schule in den USA ist die des North American Congress on Latin America (NACLA). Siehe vor allem: "U.S. Grain Arsenal", NACLA's Latin America and Empire Report, Oktober 1975; (auf deutsch: Weizen als Waffe, Rowohlt 1976) und: "Del Monte: Bitter Fruits", ebd., September 1976. Die wenig hilfreiche Sowjetische Sichtweise kann nachgelesen werden in: P.Markov, "The World Food Problem", International Affairs (Moskau), September 1975.

[3] In Lappe & Collins, a.a.O., sind zum Beispiel 45 von 48 Kapiteln mit niederschmetternden Ge­schichten über das kapitalistische Vorgehen angefüllt.

[4] Die Analyse, die in diesem Artikel vorgestellt wird, wird in einem Buch über Nahrungsmittel und Klassenkampf, das der Autor für Ramparts Press vorbereitet, ausführlicher dargestellt.

[5] Da sich die Marxologen mit der Form der Wertbeziehung zwischen Kapital und Arbeit (Aus­tausch Wert/Lohn) beschäftigen, vergessen sie leicht, daß die Substanz des Wertes in Arbeit (abstrakte Arbeit) besteht und daß es das grundlegende Ziel des Kapitals ist, Arbeit zu erzwin­gen. Zweifellos spiegelt diese Vergeßlichkeit bei vielen ihre politische Vorliebe für die Arbeit wie­der. Ihre ganzen Debatten um das Kapital reduzieren sich damit auf eine Formfrage.

[6] Selma James, Sex, Race and Class, Falling Wall Press, 1975; und "Wageless of the World", in Wendy Edmona and Suzie Fleming, eds., All Work and No Pay, Falling Wall Press, 1975.

[7] Der grundlegende Text über Hausarbeit als Arbeit fürs Kapital ist Mariarosa Dalla Costa & Selma James, The Power of Women and the Subversion of the Community, Falling Wall Press, 1972. Das Konzept der Kreisläufe läßt sich auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft anwenden und zeigt, wie sie ein Teil der Reproduktion des Kapitals ist. Siehe dazu: Harry Cleaver, "Mala­ria, the Politics of Public Health and the International Crisis", Review of Radical Political Eco­nomics, Frühjahr 1977, Anhang.

[8] Dieser Stückarbeitcharakter der bäuerlichen Produktion ist ebenso bei der Hausarbeit und der Schularbeit anzutreffen, wo es keine festen Arbeitszeiten gibt und die "Bezahlung" von der Qua­lität der Durchführung abhängt.

[9] Im Original heißt es: "The wageless are accumulated right along with the waged in the expanded reproduction of capital." In dem Maße, wie das Kapital akkumuliert, nimmt nicht nur die Zahl der Lohnarbeiter, sondern auch der Nichtentlohnten zu.

[10] Karl Marx, Das Kapital, Band III, Teil IV.

[11] Siehe Zerowork 1.

[12] Für eine weitere Diskussion darüber, wie das Kapital sich aufgrund des Klassenkampfs interna­tional bewegt, siehe Harry Cleaver, "The Internationalization of Capital and the Mode of Pro­duction in Agriculture", Economic and Political Weekly, 27.3.1976.

[13] Eine jüngere Analyse der Absichten und Projekte der Nahrungsmittelplanung der US-Regierung und des Council on Foreign Relations findet sich in Laurence Shoup & William Minter, Imperial Brain Trust, Montly Review Press, 1977. (deutsch: Kulissenschieber e.V., Der Council on Foreign Relations & die Außenpolitik der USA, Berlin/Bremen 1981.)

[14] Zum "Versagen" der UNRRA siehe John Perry, "Why UNRRA Failed", Harper's, Januar 1946; I.F.Stone, "UNRRA's Battle", The Nation, 30.3.1946; "UNRRA or Nothing", New Republic, 22.10.1945; "Lehman Resigns in Disgust", New Republic, 25.3.1946; Vic Schneierson, "UNRRA: A Cause Betrayed", China Weekly Review, 3.5.1947. Zur bengalischen Hungersnot siehe B.M.Bhatia, Famines in India, Asia Publishing, 1967, Kap.XI.

[15] Siehe "Cabinet Rejects World Food Plan", New York Times, 9.8.1946; "World Food Board En­dorsed by FAO", ebd., 14.9.1946; "World Food Plan Called a U.S. Peril", ebd., 14.10.1946; und "U.S. Softens View on Relief Set-Up", ebd., 15.11.1946.

[16] Nicht lange bevor der Marshall-Plan angekündigt wurde, gründeten die USA das Food Famine Committee und schickten Herbert Hoover nach Europa, um die Situation zu untersuchen. Hoover war einer der Pioniere des US-Kapitals im Gebrauch von Nahrungsmittelhilfe zur Intervention in Klassenkämpfe in Übersee. Siehe Walter Cohen, "Herbert Hoover: Some Food for Thought", Pa­cific Research and World Empire Telegram, November-Dezember 1971.

[17] Siehe Mario Tronti, "Workers and Capital", Telos #14. (deutsch: Mario Tronti, Arbeiter und Kapital, Frankfurt 1974; Marx, Arbeitskraft, Arbeiterklasse – Erste Thesen, Sisina-Berlin 1988)

[18] M.R.Benedict, Farm Policies of the United States, 1790-1950. Octagon, 1967, S. 463.

[19] Economic Report of the President 1977, S. 292; G.L.Johnson, ed., The Overproduction Trap in U.S. Agriculture, John Hopkins University Press, 1972, S. 169.

[20] Siehe "TVA's Educational Campaign on the Application of Fertilizer Called A Winner For Everyone", Oil, Paint and Drug Reporter, 6.1.1958.

[21] H.G.Halcrow, Food Policy for America, McGraw Hill, 1977, S. 4.

[22] Chicano: Ursprünglich abfällige Bezeichnung für die mexikanisch-amerikanische Minderheit in den USA. In den Kämpfen der 60er Jahre wurde dieser Begriff aber unter der Parole "Chicano Power" politisch positiv gewendet. Ein Aktivist der Bewegung sagte: Wir wählten den Begriff "Chicano, weil dies schon immer in unserer Geschichte, hier und selbst in Mexiko, eine ab­wertende Bezeichnung für die Arbeiterklasse war. Es war der Name für die unterste Klasse der Landarbeiter." (in Peter M. Michels)

[23] R.Acuna, Occupied America, Canfield, 1972, S. 172. (* Das Bracero-Programm beruhte auf ei­nem Vertrag zwischen Mexiko und den USA von 1942. Darin verpflichtete sich Mexiko, ent­sprechend dem Bedarf der USA Erntearbeiter zu rekrutieren. Das Programm wurde 1964 nicht weiter verlängert.)

[24] Es gibt keine verläßlichen Daten über die Zahl der Illegalen, siehe jedoch Vernon Briggs Jr., "Mexican Workers in the United States Labor Market: A Contemporary Dilemma", International Labor Review, November 1975.

[25] wetback: Abfällige Bezeichnung für die illegalen mexikanischen Arbeitsmigranten in den USA. Wetback heißt wörtlich "naßer Rücken", weil die Migranten zur Überwindung der Grenze durch den Rio Grande schwimmen müssen. Bei der "Operation wetback" wurden Ende der fünfziger Jahre innerhalb von drei Jahren nicht weniger als 2,9 Millionen Chicanos nach Mexiko abgescho­ben.

[26] Das McCarran-Walter-Gesetz von 1952 beschränkte die Einwanderung weiterhin nach einem Quotensystem und verankerte die rassistische Auffassung von der Überlegenheit bestimmter Na­tionalitäten über andere.

[27] Acuna, a.a.O., Kap. 8.

[28] Aztlan: "der weiße Ort", die mythische, im Norden von Mexiko gelegene gedachte Urheimat der Azteken. Aztlan wurde zum politischen Mythos der Chicano-Bewegung, die darin ihr Ziel einer politisch-sozialen Einheit formulierte.

[29] Zur Geschichte der Entwicklung der Nachkriegsstrategie zum Umgang mit den Bauern aus den vorangegangenen Erfahrungen in China und im Süden der USA siehe Harry Cleaver, "The Ori­gins of the Green Revolution", unveröffentlichte Ph.D. thesis, Stanford University, 1975. Die gesamte Literatur der frühen 50er Jahre drehte sich in Begriffen ökonomischer Entwicklungsmo­delle um die Frage des Abzugs landwirtschaftlicher Arbeit mit geringer Produktivität. Vielleicht das bekannteste Modell der Industrialisierung über landwirtschaftliche Mehrarbeit und Mehrpro­dukt ist W.A.Lewis, "Development with Unlimited Supplies of Labor", Manchester School, XXII (1954).

[30] Gegen die japanische Invasion auf den Philippinen während des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich ein breiter Widerstand. Eine der wichtigsten Organisationen war dabei die 1942 gegründete und von den Kommunisten beeinflußte Hukbo ng Bayan Laban sa Hapon, kurz Hukbalahap oder Huks (Antijapanische Volkswiderstandsarmee). Sie beherrschte zeitweilig mit ihren Kämpfern Zentral-Luzon und war nach der "Befreiung" von Japan weiterhin aktiv.

[31] Siehe Cleaver, "Origins", a.a.O., und die Verweise dort.

[32] John King, "Rice Politics", Foreign Affairs, April 1953.

[33] Zu dieser Zeit bestand kein Zweifel am politischen Potential des PL 480. Mit den mittlerweile berühmten Worten Hubert Humphreys, eines der Hauptverantwortlichen für dieses Gesetz: "Ich habe gehört..., daß Menschen wegen Nahrungsmitteln von uns abhängig werden könnten. Ich weiß, daß das nicht für eine gute Nachricht gehalten wird. Für mich war es eine gute Nachricht, denn bevor Menschen irgendetwas tun können, müssen sie essen. Und wenn Sie nach einem Weg Ausschau halten, wie Sie die Menschen dazu bringen, sich in Form von Zusammenarbeit auf Sie zu verlassen und von Ihnen abhängig zu sein, scheint mir Nahrungsmittelabhängigkeit ein groß­artiges Mittel zu sein..." Hearings: Policies and Operations Under PL 480, 85th Congress, First Session, Senate Committee on Agriculture and Forestry, 1957, S. 128. Über PL 480 siehe auch I.Yost, "The Food for Peace Arsenal", NACLA Newsletter, Mai-Juni 1971. (* Das Staatsgesetz PL 480, Agricultural Trade Development and Assistance Act, Gesetz für Agrarhandel und -ent­wicklung, wurde 1954 verabschiedet.)

[34] Kennedy stellte in seiner ersten Rede als Präsidentschaftskandidat 1960 der alten Politik sei­nen Aufbruch zu "neuen Grenzen" (new frontier) gegenüber, der an den nationalen Mythos des immer weiteren Vordringens der amerikanischen Siedler in den Westen anknüpfte. Innenpolitisch bezogen sich diese "neuen Grenzen" auf die Zurückdrängung der Armut und Lösung der land­wirtschaftlichen Probleme. Außenpolitisch gehörte hierzu die militärstrategische Wende zur fle­xible response, die nach dem Verlust der nuklearen Überlegenheit der USA einen abgestufteren Einsatz von konventionellen und nuklaren Waffen vorsah.

[35] Siehe P.R.Gregory & R.C.Stuart, Soviet Economic Structure and Performance, Harper & Row, 1974, Kap. y.

[36] Für eine kurze Geschichte der Nachkriegsbeziehungen Sowjetunion/Osteuropa siehe H.Schwartz, Eastern Europe in the Soviet Shadow, John Day, 1973.

[37] Siehe Gregory & Stuart, a.a.O.

[38] Siehe G.Saunders, ed., Samizdat, Pathfinder Press, 1974, S. 23-24.

[39] Die folgende Diskussion der Chruschtschow-Ära basiert hauptsächlich auf Gregory & Stuart, a.a.O.; Alex Nove, "Soviet Agriculture Marks Time", Foreign Affairs, Juli 1962 und "Soviet Agriculture Under Brezhnev", Slavic Review, Januar 1970 (der die vorangegangene Periode ebenfalls behandelt).

[40] Zu den Nahrungsmittelaufständen und -protesten siehe M.Holubenko, "The Soviet Working Class: Discontent and Opposition", Critique, Frühjahr 1975.

[41] Siehe Paolo Carpignano, "U.S. Class Composition in the Sixties", Zerowork 1. In diesem Band: Die Klassenzusammensetzung in den USA der sechziger Jahre.

[42] Ralph Nader war ein junger Rechtsanwalt, der die Geschäftspraktiken in der Wirtschaft un­tersucht hatte und zum berühmten Führer der Verbraucherschutzbewegung wurde, die für ge­setzliche Reformen (z.B. zur korrekten Beschriftung von Waren, Einschränkung der Zigaretten­reklame) eintrat.

[43] Die Bewegung der Schwarzen und die Wohlfahrtskämpfe werden in Zerowork 1 genauer disku­tiert; ebenso die Aktionen der italienischen Autoriduzione-Bewegung.

[44] Die Gewerkschaft der Vereinigten Farmarbeiter (UFW) entstand aus dem Streik der Trauben­pflücker von Delano 1965 – HUELGA. Dieser Streik war das Signal zur Entstehung einer neuen Chicano-Bewegung. Im Sommer 1966 übernahm der Chicano Cesar Chavez die Leitung der neu­gebildeten Gewerkschaftsgruppe United Farm Workers Organizing Committee, an der sich auch die AFL-CIO beteiligte.

[45] Siehe W.H.Friedland & A.Barton, "Tomato Technology", Transaction, September-Oktober 1976; und W.D.Rasmussen, "Advances in American Agriculture: The Mechanical Tomato Har­vester as a Case Study", Technology and Culture, Oktober 1968.

[46] Teamsters: International Brotherhood of Teamsters, Chauffeurs, Warehousemen and Helpers of America. (Internationale Brüderschaft der Fuhrleute, Fahrer, Lagerarbeiter und Gehilfen Ameri­kas) 1976 größte Gewerkschaft der USA mit 2,3 Mio. Mitgliedern. Ursprünglich eine reine Trans­portarbeitergewerkschaft, organisieren sie zum Beispiel durch Abwerbung ganzer Ortsverbände von anderen Gewerkschaften auch ArbeiterInnen aus völlig anderen Sektoren – oft gegen deren Willen. 1957 aus der AFL-CIO ausgeschlossen.

[47] Siehe Richard Meister & Anne Loftis, A Long Time Coming: The Struggle to Unionize America's Farm Workers, Macmillan, 1977, Kap. 9.

[48] Siehe NACLA, "Del Monte", a.a.O., und "Harvest of Anger", ebd., Juli-August 1976.

[49] La Raza heißt "die Rasse", wird aber von den politischen Aktivisten im Sinne des "geeinten Volkes" verwandt. "Das Gebiet von La Raza" meint hier das Gebiet, in dem Chicanos leben.

[50] Halcrow, a.a.O., S. 172; und Committee on Economic Development, A New U.S. Farm Policy for Changing World Food Needs, Oktober 1974, S. 34-35.

[51] Einen Überblick über diese Änderungen gibt Steve Weissman, "The Many Successes of the Al­liance for Progress", in The Trojan Horse, Ramparts Press, 1975. (deutsch: Steve Weissman (Hg.). Das trojanische Pferd. Die "Auslandshilfe" der USA, Berlin 1975).

[52] Siehe "Fertilizer Industry Proposes Kitty of $2 Million to Finance World Plant Food Promo­tion", Oil, Paint and Drug Reporter, 8.8.1960; und William & Paul Paddock, Famine 1965, Little Brown, 1967, S. 80. Auch TVA sorgte für ausgedehnte Werbung in Übersee; siehe "TVA's Inter­national Fertilizer Programs", National Fertilizer Development Center, Muscle Shoals, Alabama, Circular z.7, April 1970.

[53] Siehe Harry Cleaver, "The Contradictions of the Green Revolution", Monthly Review, Juni 1972; und die Berechnung in einem geheimen Bericht der Asian Development Bank in Seven Days, 25.4.1977.

[54] Siehe "Too Much Fertilizer", Business Week, 31.5.1969, und "Oil Companies Bail Out of Ferti­lizer Surplus", ebd., 13.12.1969.

[55] Der Begriff Naxaliten entstand aus dem Versuch von Abspaltungen der Kommunistischen Par­tei Indiens, zusammen mit den Bauern einen bewaffneten Befreiungskampf nach dem Vorbild der chinesischen Revolution aufzubauen. Er geht zurück auf den Aufstand in Naxalbari, im Distrikt Darjeeling, vom März 1967. Die Kommunisten starteten dort eine Landnahmeaktion, die zum Si­gnal für eine agrarrevolutionäre Erhebung im nationalen Rahmen wurde.

[56] Siehe Gregory & Stuart, a.a.O., und Nove, a.a.O.

[57] Siehe "Whoever Steals, Lives Better", New York Times, 13.4.1976.

[58] Siehe D.E.Powell, "The Rural Exodus", Problems of Communism, November-Dezember 1974; und "Officials Cite Need for Improved Working Conditions in Agriculture", Radio Liberty Rese­arch, RL 410/76, 8.9.1976. Beide Artikel zeigen, daß die Bewegung in die Städte in den letzten Jahren von jungen Frauen angeführt wurde, die solchen Jobs wie "Milchmagd" entflohen, die zusätzlich zur Hausarbeit einen Arbeitstag von 13 bis 16 Stunden bedeuteten.

[59] Siehe zum Beispiel Helen Pick, "Czechoslovakia Face a Long Haul to Prosperity", Manchester Guardian Weekly, 6.6.1976; "Yugoslavia, Output Off, Cracking Down On Loafers", New York Times, 11.9.1975; und P.Ben "Poor Poland: Making Ends Meet", New Republic, 30.1.1971.

[60] Siehe Schwartz, a.a.O.

[61] Siehe Adam Bromke, "Beyond the Gomulka Era", Foreign Affairs, April 1971; "The Polish Eruption: A Nation in Flames", Time, 28.12.1970; "Poland: Repairing a Shaken Regime", ebd., 25.1.1971; "Poland: Wooing the Workers", ebd., 1.3.1971; M.Lucbert, "Poland Under Gierek: New Aspirations and Reshuffled Priorities", Manchester Guardian Weekly, 12.7.1975; und A.Bromke & J.W.Strong, eds., Gierek's Poland, Praeger, 1973.

[62] U.S. Department of Agriculture, The World Food Situation and Prospects to 1985, Foreign Agricultural Economic Report Nr. 98.

[63] Die Weltbevölkerungskonferenz fand auf Veranlassung der UNO im August 1974 in Bukarest statt, die UNO-Welternährungskonferenz im November 1974 in Rom.

[64] Muster der US-Rhetorik sind zu finden in: "U.S. Food Power: Ultimate Weapon in World Poli­tics?", Business Week, 15.12.1975; "Food: Potent U.S. Weapon", U.S. News & World Report, 16.2.1976; "CIA Reports Says Worsening World Grain Shortage Could Give U.S. Great Power", New York Times, 17.3.1975; NACLA, Frühjahr 1974; und Leslie Gelb & Anthony Lake, "Less Food, More Politics", ebd., Winter 1974.

[65] Für ein Beispiel dieses Ansatzes siehe Emma Rothschild, "Food Politics", Foreign Affairs, Ja­nuar 1976.

[66] Über die Geschichte dieser Verschiebungen findet sich Vieles in Lappe & Collins, a.a.O., und in NACLA, "U.S. Grain Arsenal", a.a.O. Jetzt besteht das Problem nicht mehr darin, zu verstehen, was passiert, sondern es in Klassenbegriffen zu verstehen.

[67] Für eine umfassendere Analyse der Rolle der Abwertung und anderer monetärer Maßnahmen in der Krise siehe den Artikel von Christian Marazzi in diesem Band.

[68] Siehe "Ten Percent Is Impounded in Food Stamp Aid", New York Times, 12.1.1972; "2,1 Million to Get Full Restoration of Food Stamp Aid", ebd., 17.1.1972; "Food Stamp Fund Freed by Judge", ebd., 14.10.1974; etc.

[69] Siehe J.Collins, "CIA: Changing Weather Can Aid U.S. Foreign Policy", The Elements, Trans­national Inst., 1975; "Worrisome CIA Report: Even U.S. Farms May Be Hit By Cooling Trend", U.S. News & World Report, 31.5.1976.

[70] Siehe wieder Lappe & Collins, a.a.O. und NACLA, "U.S. Grain Arsenal", a.a.O. Mehr Einzel­heiten und Hintergründe finden sich in James Trager, Amber Waves of Grain, Arthur Fields, 1973.

[71] Einer der wenigen Kommentare, der auf die Kämpfe hinter den Getreidegeschäften hinwies, wenn auch die Analyse unzutreffend war, ist A.Yanov, "Behind the Soviet Union's Grain Purchases", ("op-ed" articel) New York Times, 31.12.1975.

[72] "Soviet Decrees More Emphasis on Specialized Modern Farms", New York Times, 2.6.1976; und Central Intelligence Agency, USSR Agricultural Atlas, 1974, S. 26.

[73] Radio Free Europe Research: Bulgaria/28/4, November 1976; Bulgaria/26/30, September 1976; Bulgaria/2/21, Januar 1977; Hungarian Situation Report/42/17, November 1976.

[74] Economic Report of the President 1976, S. 91ff.

[75] Ebd., S. 268.

[76] Ebd., S. 271.

[77] Ebd., S. 268.

[78] Dieser Abschnitt bezieht sich unter anderem auf folgende Quellen: "Boom in Agrichemicals", Business Week, 8.6.1974; Erik Eckholm, Fertilizer Scarcity and the Food Outlook, Overseas De­velopment Council Communique Nr.26, Juni 1975; H.Hughes & S.Pearson, "Principal Issues Fa­cing the World Fertilizer Economy", Agricultural Development Council Seminar Report, März 1975; "Rising World Fertilizer Scarcity Threatens Famine For Millions", New York Times, 1.9.1974; "New Delhi is Blamed for Worsening Food Crisis", ebd., 13.9.1974.

[79] Mit den "Sieben Schwestern" sind die großen Ölmultis gemeint. "Seit 1928 bzw. 1934 gibt es eine Spaltung des Welterdölmarktes in den Weltmarkt außerhalb der USA, der durch die Big Se­ven beherrscht wird, und den US-Binnenmarkt, der von einer Anzahl unabhängiger Großkon­zerne und kleineren Unternehmen kontrolliert wird. 1928 hatten sich zunächst der Rockefeller-Konzern ESSO, die Shell und die BP (damals unter dem Namen AIOC) in dem Kartell von Ach­nacarry zusammengeschlossen, dem später noch die Firmen Gulf, Texaco, Socal und Mobil beitraten." Autonomie, Neue Folge, Heft 11. Dort werden auch die Techniken, mit denen die Energiekrise in Gang gesetzt wurde, genauer beschrieben.

[80] Aktuelle Diskussionen über die Einrichtung einer Weltnahrungsmittelreserve drehen sich um Fragen des Umfangs und der An- und Verkaufspreise und darum, wer die Reserve halten soll. Vorrangiges Ziel ist zweifellos die Stabilisierung der Getreidepreise, wahrscheinlich auf einem ho­hen Niveau. Der Nachfolger von Butz, Bob Bergland, gibt deutlich zu verstehen, daß er ebenfalls versuchen wird, hohe Preise aufrechtzuerhalten, obwohl zwei Jahre mit günstigem Wetter erneut zu deutlichen Überschüssen in den USA und im Ausland geführt haben. Siehe "A New Wheat Glut", Newsweek, 14.3.1977.

[81] Committee on Economic Development, a.a.O.

[82] "Le Plan Mansholt", Documents Communaute Europeene, supplement au No.129, April 1969 de Communaute Europeene; "European Economic Community" (Bericht über Aufstände und den Plan), Agriculture Abroad, Canada Department of Agriculture, Juni 1971; S.L.Mansholt, "Far­mers Riots and Their Background", Intereconomics, Nr.6, 1971; G.Vedel, "Perspectives A Long Terme de L'Agriculture Francaise, 1968-1985", La Documentation Francaise.

[83] Siehe Le Livre Des Paysan Pauvres, Maspero, 1976.

[84] Zur Geschichte des Konflikts zwischen der UFW und Teamsters siehe Meister & Loftis, a.a.O.; außerdem B.Barber, "UFW and the Class Struggle", Southwest Economy and Society, Frühjahr 1976.

[85] Es gibt unzählige Artikel, die sich mit dem Problem der "illegalen Ausländer" beschäftigen. Ty­pische Beispiele sind: "Million Illegal Aliens in Metropolitan Area", New York Times, 29.12.1974; "A Plan to Slow the Flood of Illegal Aliens", Business Week, 11.8.1975; "With Jobs Scarce U.S. Steps Up Efforts to Seize Illegal Aliens", Wall Street Journal, 12.8.1975; "Administration Seeks to Widen Effort to Deport Illegal Aliens", New York Times, 5.5.1976; "Border Crisis: Illegal Ali­ens Out of Control?" U.S. News & World Report, 25.4.1977. Als Beispiel für eine harte "Schließt die Grenzen, sperrt die Illegalen ein"-Position siehe Vernon Briggs, "Illegal Aliens: The Need for a More Restrictive Border Policy", Social Science Quarterly, Dezember 1975. Einen Geschmack der etwas milderen Ansicht von Arbeitsminister Ray Marshall gibt sein "The International Mi­gration of Workers in the United States and Europe", Center for the Study of Human Resources, University of Texas at Austin, Juni 1976.

[86] Diese Beobachtungen werden in dem entscheidenden Artikel von T.H.Morgan gemacht: "Why Oil Prices Go Up: The Future: OPEC Wants Them To", Foreign Policy, Winter 1976-77. Eine vergleichbare Arbeit von V.H.Oppenheim erzählt die innere Geschichte der US-Komplizenschaft bei den Ölpreissteigerungen und bestätigt die Analyse, die Mario Montano in "Notes On the In­ternational Crisis" in Zerowork 1 vorgestellt hat.

[87] Der hier verwandte Begriff "Triage" (Ausschuß) stammt aus der Militärmedizin und bezeichnet das Aussortieren von Verletzten auf dem Schlachtfeld nach den Kriterien der Wiederherstellbar­keit ihrer Kampftauglichkeit.

[88] Über die afghanische Hungersnot siehe die Artikelserie der New York Times, 16.6., 21.6., 11.7., 14.11. und 19.11.1972.

[89] Neben den unzähligen Presseberichten gibt es eine große Zahl von Untersuchungen über die Vorkommnisse in der Sahelzone. Im wesentlichen liberal, aber dennoch brauchbar sind: H.Sheets & R.Morris, "Disaster in the Desert", Carnegie Endowment, 1974; und M.Glantz, The Politics of Natural Disaster, Praeger, 1976. Politisch weit bedeutsamer sind zwei französische Studien: Co­mite d'Information Sahel, Qui Se Nourrit de la Famine en Afrique? Petite Maspero, 1975; und J.Copans, ed., Secheresses et Famines Du Sahel, Maspero, 1975.

[90] Siehe vor allem J.-L.Ormieres, "Les Consequences Politiques de La Famine", in Copans, a.a.O.

[91] Das Zitat wurde zuerst von Oriana Fallaci in der Chicago Tribune, 24.6.1973, veröffentlicht und erschien dann wieder in L.Wiseberg, "An International Perspective on the African Famines", in Glantz, a.a.O. Mehr über den auch nach dem Sturz Selassies andauernden Gebrauch der Hun­gersnot zur Kontrolle der Kämpfe findet sich zum Beispiel in "Ethiopia's Legacy is Poverty and Instability", New York Times, 31.8.1975; und "Drought Deaths Debated", Washington Post, 24.9.1975.

[92] Siehe Rothschild, a.a.O.

[93] "Food for Work" (editorial), Wall Street Journal, 8.9.1976. Beschreibungen einiger Food-for-Work-Programme finden sich in U.S. Agency for International Development, War on Hunger, Juli 1975; und AID's Front Lines, 21.10.1976.

[94] Für eine brauchbare Zusammenfassung aller Sahel-Entwicklungsberichte siehe Organisation of Economic Cooperation and Development, Development Cooperation 1976 Review, November 1976, Part VIII.

[95] Über den Sudan siehe "Sudan: Regional Development", Mideast Markets, Chase Manhattan, 24.5.1976; "Arab Oil Money Backs Sudan's Development As Prime Food Source", Wall Street Journal, 25.11.1975; und "Sudan: When God Laughed", The Economist, 12.7.1975.

[96] Wie in Äthiopien änderte sich auch in Afghanistan die Politik gegenüber den Nomaden kaum, als das Militär die parlamentarische Regierung ablöste, die für die Hungersnot 1971-72 verant­wortlich gewesen war. Unter den ersten Maßnahmen, die das neue Regime ankündigte, waren "Schritte, die Nomaden seßhaft zu machen ... und so werden die Spuren des Nomaden- und Stammeslebens ausgelöscht werden." Die Entwicklung der Landwirtschaft wird offensichtlich der sudanesischen Richtung folgen, mit US-Unterstützung eine erhöhte arabische Beteiligung zu er­reichen. Siehe L.Dupree, "The New Look in American Aid to Afghanistan", American Universities Field Staff Reports, South Asia Series, Vol. XVIII, No. 6, Juni 1974.

[97] Siehe "Famine Speeds Somalia's Drive To Resettle Nomads in Communes", New York Times, 22.3.1975; und "Somalia's Scientific Socialism: A Bit Soviet But Still African", Washington Post, 18.7.1975.

[98] Central Intelligence Agency, "Soviet Economic Plans for 1976-1980: A First Look", Research Aid ER 76-10471, August 1976; "The Soviet Economy: Back On A More Modest Growth Track", Radio Liberty Research Bulletin, No.37 (2877), 10.9.1976; D.W.Green et al., "An Evaluation of the 10th Five-Year Plan", U.S. Congress, Joint Economic Committee, Soviet Economy in a New Perspective, 14.10.1976.

[99] P.Marer, "Has Eastern Europe Become a Liability to the Soviet Union – The Economic Aspects", in C.Gati, ed., The International Politics of Eastern Europe, Praeger, 1976; und "OPEC Oil Price Change and COMECON Oil Prices", Radio Free Europe Research RAD Back­ground Report/244 (Eastern Europe), 29.11.1976.

[100] P.Machlan, "Czechoslovakia's Economic Difficulties", Radio Free Europe RAD Background Report, 5.11.1976.

[101] Ibid., S. 9 und ibid., 7.10.1976.

[102] Siehe "Labor Shortages Plague Prague", New York Times, 20.10.1974; und "Czechoslovakia Is Importing Vietnamese Workers", ibid., 25.4.1976.

[103] Über das Schuldenproblem siehe zum Beispiel: International Economic Report of the President 1977, S. 65f; "Banks Open New Windows to the East", Business Week, 19.7.1976; "Poland: Huge Debt Stalls Western Ventures", ibid., 17.1.1977; und "The New Sophistication in East-West Banking", ibid., 7.3.1977.

[104] Lucbert, a.a.O.

[105] Siehe zum Beispiel "Poles Plan Cutback in Economic Growth", New York Times, 2.12.1976.

[106] A.Zarins, "Soviet Latvian Press Ignores the Dockers Strike", Radio Liberty Research, 29.11.1976; und "Soviets Overhauling Consumer Durables Production", Business Eastern Europe, 4.2.1977.

[107] In der Autonomie, Neue Folge Nr.4/5, S. 62ff. findet sich in Auszügen ein Artikel des "Mid­night Notes Collective" aus den USA, das die Kämpfe gegen die "Energiekrise" darstellt.


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