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04.09.2022

Inflation:

»Preise sind Knappheitssignale, die wirken müssen.«

Wir erleben gerade, dass die Energiepreise steigen, während die Erdölpreise sinken und die Gewinne der Erdölmultis explodieren. Dieser recht einfache Zusammenhang wird durch Massen von Ideologie verwischt, und gleichzeitig werden die steigenden Preise zum Anlass genommen, Zinserhöhungen zu fordern - was die Rezession verschärfen wird.

Ein deutliches Beispiel für den ideologischen Angriff, der den Markt als Lösung und die hohen Preise als gerechtfertigt und letztlich etwas Positives propagiert, ist der Artikel von Claudia Kemfert vom DIW:

»Der extreme Anstieg des Strompreises ist aber Ausdruck eines funktionierenden Marktes, der Preis bildet sich durch Angebot und Nachfrage. Und beim Angebot gibt es derzeit Knappheiten. … Schnell gibt es Forderungen … den Strompreis zu deckeln. Doch gerade der Strompreisdeckel ist die Ursache des Problems: In Frankreich werden die Strompreise subventioniert, was dazu führt, dass zu wenig Strom eingespart wird. … Preise sind immer Knappheitssignale, die wirken müssen.«1

Während Kemfert die hohen Preise als Ausdruck einer realen Entwicklung rechtfertigt, behauptet Biden das Gegenteil; einig sind sie sich nur darin, die Superprofite der Energie-Unternehmen wegzureden.

aus: Wildcat 110, Herbst 2022

Lebenshaltungskostenkrisen

US-Präsident Biden erklärt die hohen Energiepreise mit »Putins Preiserhöhungen«. Dabei waren sie bereits 2021, also vor Kriegsbeginn, rasant in die Höhe gegangen. Vor allem deshalb, weil die EU seit langem daran arbeitet, den Gasmarkt zu »liberalisieren«, so dass der Preis vom Markt festgelegt wird und nicht von langfristigen Lieferverträgen, z.B. mit Russland. Chinas stark gestiegener Gasverbrauch und die dadurch motivierte Spekulation trieben den Weltmarktpreis in die Höhe. Übrigens kriegen noch heute die großen Gasimporteure in etwa so viel Gas, wie in der BRD verbraucht wird, entsprechend der langfristigen Verträge mit Russland zu günstigen Preisen. Sie verkaufen es dann aber zu Marktpreisen weiter nach Frankreich, wo die AKWs stillstehen, und an die Gasversorger, die den Aufschlag an die Verbraucher weitergeben dürfen.

Früher haben die großen Importeure noch viel mehr Gas zu günstigen Preisen aus Russland bekommen und teuer in Europa weiter verkauft. Diese Einkommensquelle hat sich mit dem Krieg stark reduziert, manche kommen deswegen in wirtschaftliche Schwierigkeiten und ihre Profite werden vom Staat auf unsere Kosten mit der Gasumlage gerettet. Beispiele hierfür sind RWE, EWE oder VNG, bei Uniper und Gazprom Germania drohte tatsächlich die Pleite, da zu diesen Verlusten noch die direkten Auswirkungen der Sanktionen hinzukamen.

Der Heizölpreis war im August doppelt so hoch wie vor einem Jahr, im Vergleich zur Zeit vor dem Krieg ist er um 50 Prozent gestiegen. Aber seit Mitte Juni sinkt der Rohölpreis wieder, und auf den gestiegenen Dollar gehen nur zehn Prozent der Preiserhöhung zurück. Auch höhere Produktionskosten etwa durch den Krieg oder gerissene Lieferketten sind nicht der Hauptgrund für die steigenden Energiepreise, das zeigt sich an den Profiten der Energieproduzenten. Sie verdienen an der tatsächlichen oder befürchteten Knappheit an Energie, der spekulativen Unsicherheit auf den Energiemärkten und ganz simpel an ihrer Marktmacht. Shell hat im zweiten Quartal 2022 fünfmal so hohe Gewinne gemacht wie im Vorjahr; Exxon fast viermal; Total hat sie mehr als verdoppelt (trotz Abschreibungen auf einen Anteil an einem russischen Gasproduzenten). BP hat seine Gewinne im ersten Quartal verdreifacht, für Chevron gilt dasselbe bezogen auf die erste Hälfte des Jahres.

Auch der Getreidehandel ist von Unsicherheiten, Knappheit und Spekulation betroffen, die großen Agrarkonzerne konnten ihre Profite von Januar bis März 2022 drastisch erhöhen.

Derweil werden wir auf einen Kriegswinter eingestimmt. Laut dem Chef des zweitgrößten Immobilienkonzerns LEG muss »in der derzeitigen Kriegssituation der Bevölkerung in Deutschland klargemacht werden, dass jetzt Verzicht angesagt ist. Und das wird ein Wärmeverzicht sein – das muss man klar politisch aussprechen.« In den eigenen vier Wänden einen zusätzlichen Pullover anzuziehen, werde womöglich nicht ausreichen. »Es wird wohl noch eine warme Wolldecke vonnöten sein.« Er mahnt ein Kündigungsmoratorium an, weil mindestens 20 Prozent der Mieter die Energiepreiserhöhungen nicht tragen können. Das heißt im Effekt, der Sozialstaat soll die Taschen der Energiekonzerne noch mehr füllen.

So oder so geht alles auf unsere Kosten. Die erste Maßnahme von Finanzminister Lindner gegen die »Inflation« war seine Warnung vor Lohnerhöhungen, denn die würden die Inflation antreiben. Dabei ist die aktuelle Inflation getrieben durch steigende Rohstoffpreise, Spekulation und die Gewinne der Konzerne. Für den Euroraum bescheinigt selbst die EZB, dass seit 2021 die Unternehmensprofite den größten Anteil an der Inflation haben und die Lohnkosten je produzierter Einheit den kleinsten. Zwischen 1979 und 2019 gingen in den USA 62 Prozent der Preissteigerungen auf die Lohnstückkosten zurück und etwas mehr als elf Prozent auf die Unternehmensprofite. Danach hat sich dieses Verhältnis umgekehrt: Zwischen Frühjahr 2020 und Ende 2021 waren 54 Prozent der Preissteigerungen durch Unternehmensprofite verursacht und nur acht Prozent durch die Löhne. Rohstoffpreise, vor allem Energie, machen 38 Prozent aus im Vergleich zu früher knapp 27 Prozent aus. Im zweiten Halbjahr 2021 haben die Unternehmen in den USA mit fast 15 Prozent Gewinnquote nach Steuern so viel Profit gemacht wie seit Anfang der 1950er Jahre nicht mehr.

Zinsen

Politik und Notenbanken geben schon Vollgas für das Konzept, die Inflation per Zinserhöhung zu beenden – also durch eine Wirtschaftskrise, die zu mehr Arbeitslosigkeit führt. Angeblich werden die Grundnahrungsmittel nämlich dann billiger, wenn wir sie uns nicht mehr leisten können. Den Banken würden höhere Zinsen sicher helfen, aber die Wirtschaft könnte auch stärker zusammenkrachen, als sie es geplant haben. Und tatsächlich ist es eine offene Frage, wie lange die Inflation wirklich anhalten wird. Denn rasante Nachfrage und Produktivitätssprünge, die eine Eigendynamik entwickeln könnten, stehen nicht dahinter. Vielleicht verfällt die Welt bald wieder in die gleiche Deflation wie seit der Krise 2008.

Wir reden heute nicht von einer florierenden Weltwirtschaft, sondern von einem Kartenhaus. Der Kapitalismus konnte nur noch durch »Kostensenkung« ausreichend Profite generieren, indem er sich auf Just-in-Time-Lieferketten »verschlankte« und Infrastruktur, Maschinerie und auch ArbeiterInnen auf Verschleiß fuhr. Aber die Zeit, in der die Bosse sich die Arbeitskräfte aussuchen konnten, ist vorbei. Auch das ist mit der Pandemie und den »gerissenen Lieferketten« offensichtlich geworden. Oft sind die erwähnten Profite gar nicht mehr »produzierbar«, sondern die Maschinerie wird nur noch mit Finanzgeschäften und Spekulation am Laufen gehalten – deshalb kann sie nicht einfach abgestellt werden, auch wenn genau diese Spekulation erheblich zur Inflation beiträgt, indem sie etwa die Weizenpreise in die Höhe treibt.

Was ist überhaupt Inflation?

Die »Inflationsrate« wird über eine fiktive Zusammenstellung von Einkäufen und Kosten berechnet. Diese durchschnittliche Rate trifft Menschen je nach Einkommen sehr unterschiedlich. Die untersten zehn Prozent der Haushalte sind bei einer Inflationsrate von 7,1 Prozent fünfmal so stark belastet wie die einkommensstärksten zehn Prozent – das sagt die Bundesbank! Denn mit geringerem Einkommen muss man einen sehr viel größeren Teil davon für lebensnotwendige Dinge wie Nahrung, Miete und Heizen ausgeben. Außerdem ist es kaum möglich, an diesen Kosten etwas zu verändern, um sich an die geänderte Situation anzupassen.

Auch die »Mittelschicht« spürt die Inflation, kann weniger zurücklegen, im Bioladen einkaufen oder kriegt Probleme bei der Kreditabzahlung. Laut dem Sparkassenpräsidenten werden bis zu 60 Prozent der Haushalte in Zukunft ihre gesamten Einkünfte für die Lebenshaltungskosten ausgeben, vor einem Jahr waren das noch 15 Prozent.

Für viele wird aber Verzweiflung ausbrechen, wenn es um grundlegende Dinge wie Essen und die Stromrechnung geht. Bereits 2021 wurde 230 000 Haushalten der Strom abgestellt. Bereits jetzt müssen viele aufhören, Butter, Salat oder Fleisch zu kaufen oder verkneifen sich ganze Mahlzeiten. In ärmeren Gegenden hat Lidl bereits Grundnahrungsmittel mit einer Diebstahlsicherung versehen.

Die vom Paritätischen berechnete Armutsquote hatte bereits im Jahr 2021 mit 16,6 Prozent einen neuen Rekord erreicht. Als arm wird bezeichnet, wer weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung hat. Knapp 18 Prozent der RentnerInnen und knapp 21 Prozent der Kinder und Jugendlichen waren demnach in Deutschland arm.

Die Tafeln haben noch nie einen Andrang erlebt wie im Moment und müssen Viele zurückweisen, die Anderen bekommen weniger Produkte. Laut Bundesverband stieg bei allen Tafeln die Zahl der Kunden, bei 20 Prozent hat sie sich mindestens verdoppelt. Ukrainische Geflüchtete sind ein Teil davon, es kommen aber auch viele RentnerInnen, StudentInnen, Arbeitslose und Menschen mit niedrigen Löhnen. Diese Zunahme bringt viele Tafeln an die Grenzen, denn zusätzlich gehen die Lebensmittelspenden zurück. Sozialkaufhäuser erleben, dass mehr Menschen kommen als früher, aber viel zurückhaltender bei der Entscheidung sind, ob sie sich gebrauchte Möbel und Haushaltsgegenstände leisten können.

Lohnkampf!

Viele fordern, dass der Staat die Preise festsetzt und Übergewinnsteuern einzieht. Das ist nicht falsch, aber wir müssen sie gegen einen Staat durchsetzen, der Uniper rettet, indem er die Kosten auf alle Gaskunden umlegt. Bei solchen Kampagnen sind wir vereinzelte KonsumentInnen, bestenfalls mit anderen zusammen auf der Straße, haben es schwer Macht zu entwickeln und müssen erst noch die AfD vertreiben. Politisch falsch sind Forderungen nach höheren Zuschüssen für Lebensmittel, Wohnung und Mobilität, denn sie laufen darauf hinaus, die Unternehmer aus den Taschen des Sozialstaats zu füttern.

Also am besten zusammen mit den KollegInnen, am besten für höhere Löhne! Was in den letzten 15 Jahren in der BRD und anderen Ländern an Verbesserungen im Niedriglohnsektor durchgesetzt wurde, hat die Inflation bereits zunichte gemacht. Kämpfe für höhere Löhne sind deshalb egalitär. Über den Inflationsausgleich hinaus müssen Festbeträge gefordert werden. Da kommen zweistellige Zahlen raus, solche Lohnforderungen sind hier für fast alle ungewohnt – aber wer schon seine neue Abschlagszahlung gekriegt hat weiß, dass sie nun angesagt sind, auch wenn sie zur Schnappatmung bei Finanzministern, Arbeitgebern und manchmal auch bei Gewerkschaftsfunktionären führen.

Die Zahlungen für Leute, die keinen Lohn kriegen (Renten, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Bafög etc.) müssen genauso erhöht werden; viele werden sowieso anhand der Lohnentwicklung berechnet, andere wie HartzIV müssen durch politischen Druck mitgezogen werden. Wir sollten das bald anpacken, damit die Medien darüber berichten und uns mit Rezepten für günstige Mahlzeiten und anderen Spartipps verschonen! Wir müssen die Auseinandersetzungen in die Betriebe und auf die Straße tragen!

Gegen die Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und Energie

In der BRD haben wir die seltsame Situation, dass Medien und PolitikerInnen seit Monaten Proteste ankündigen angesichts der zweistelligen Preiserhöhungen für einige Grundnahrungsmittel und der Verdopplung oder Verdreifachung der Heizkosten im kommenden Winter. Der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes sagt, die »Querdenker«-Proteste der vergangenen Jahre waren ein »Kindergeburtstag im Vergleich zum kommenden Herbst und Winter«. Und sein Kumpel Ministerpräsident von der PdL warnt seine Parteigenossen davor, zu Straßenprotesten oder gar Montagsdemos aufzurufen. Kommende Proteste werden präventiv als »rechts« denunziert. Aber in vielen Städten bilden sich linke Bündnisse, die Kundgebungen vor Supermärkten organisieren. Sogar die taz drängt auf »Einmischung statt Resignation«: »Womöglich kommt der Anstoß für Proteste auch aus unbekannter Ecke; von ganz neuen Akteuren, die in der Links-rechts-Frage nicht eindeutig positioniert sind. Während sich Rechte nicht lange mit Analysen aufhalten werden, stehen Linke vor der strategischen Frage: Wären sie bereit, sich die Hände schmutzig zu machen, um die Deutungshoheit und Abgrenzung nach rechts zu erkämpfen, so wie es bei den Gelbwesten in Frankreich gelang? Für Linke ist es an der Zeit, die Herausforderungen anzunehmen, auch wenn die Ausgangsbedingungen nicht gut sind.« (taz, 23.7.22)

So lange kaum jemand anderes als die AfD sich traut, die Russland-Sanktionen zu kritisieren, sind die Ausgangsbedingungen für Linke tatsächlich nicht gut. Allerdings scheint auch da gerade etwas in Bewegung zu kommen...

 
 
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