Wildcat Nr. 43 - Januar 1988 - S. 48-63 [w43suedk.htm]


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Südkorea - Teil II

Zur Diskussion um den ersten Teil des Südkorea-Artikels

Arbeiterautonomie oder die Klasse im Fahrwasser der Demokratisierung? Die Anfangsthesen des Südkorea-Artikels in der letzten Nummer sind auf einige Kritik gestoßen. Einer der häufigsten Einwände richtet sich gegen die dort vertretene Auffassung, die Abwesenheit der ArbeiterInnen im Juni-Kampf sei gerade Ausdruck ihrer Autonomie gegenüber dem politisch oppositionellen Bürgertum. Dieser Einwand ist auch von südkoreanischen StudentInnen zu hören, die die zunächst geringe Beteiligung der ArbeiterInnen auf mangelndes politisches Bewußtsein zurückführen. Es wird auch darauf hingewiesen, daß die Entwicklung vom studentisch-bürgerlichen Kampf zur Streikwelle der Sommermonate Parallelen zu Frankreich aufweist. Dort hätten die Eisenbahner und andere Klassensektoren die momentane Schwächung des Regimes durch die Studentenunruhen für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen genutzt. Ein dritter Hinweis kritisiert den angeblich zu starken »Optimismus« des Artikels. Die Fabrikkämpfe drohten, sehr rasch in gewerkschaftliche Bahnen gelenkt zu werden. Die Abspaltung des bessergestellten Teils der Arbeiterklasse in den modernen industriellen Sektoren von der Slumbevölkerung und dem Heer der Tagelöhner biete die materielle Basis dafür.

Mit dem letzteren soll sich dieser zweite Teil ausführlich beschäftigen. Es ging uns nicht darum, übertriebenen Optimismus für die Zukunft zu verbreiten, sondern die »unter unseren Augen vor sich gehende Bewegung« einzuschätzen. Dazu müssen in der Tat die gängigen Sichtweisen auf den Kopf und die Analyse damit auf die Füße gestellt werden. Sicherlich, die ArbeiterInnen haben die Demokratisierungsankündigung des Regimes für sich benutzt. Und oberflächlich sieht es erstmal so aus, als reagierte das Regime mit der Ankündigung politischer Reformen auf den Druck der sich verbreitenden Massenkämpfe. In den großen Städten war es vor allem der Anschluß des Kleinbürgertums und der Büroangestellten gewesen, der zur Verbreiterung führte. All das wollen wir gar nicht bestreiten. Aber die Gründe für das Einlenken des Regimes liegen tiefer: Die 1980 erneut installierte Militärdiktatur hatte noch einmal versucht, dem Druck der stärker gewordenen Arbeiterklasse zu entkommen, sie mit barbarischen Methoden an jeder Organisierung zu hindern. Das Scheitern dieses Projekts war mit der Ausweitung der Kämpfe in die neuen schwerindustriellen Sektoren hinein offensichtlich. Erst auf diesem Hintergrund wird der Konflikt um die Regierungsform, d.h. die Frage der breiteren Machtbeteiligung der Bourgeoisie so brisant. Die Arbeiterklasse war also keine politisch von den Kämpfen des Bürgertums abhängige Kraft, sondern umgekehrt - und das kennen wir zur Genüge aus der europäischen Revolutionsgeschichte -, eine neue Bourgeoisie versucht, sich auf dem Rücken des »vierten Standes« selbst an die Macht zu bringen. In der Kritik einer sich in Südkorea abzeichnenden »philippinischen Lösung«, wie sie von einem Teil der Studenten und selbst von reformistischen Arbeiterführern vor den Wahlen geäußert wurde, ist dieser Zusammenhang klar ausgesprochen.

Die zeitliche und politische Trennung zwischen Juni-Kampf und Streikwelle, die Abwesenheit der ArbeiterInnen im Juni zeigt damit, daß sich die Klasse nicht so leicht für die kapitalistische Demokratisierung benutzen läßt; die Frage politischer Aufklärung und abfragbarer Bewußtseinsinhalte ist demgegenüber sekundär. Während der Juni-Ereignisse stellte ein Pfarrer fest: »Eine Textilarbeiterin verdient 90 000 Won, ein Arbeiter etwa 120-130 000 Won für 10 bis 12 Stunden tägliche Arbeit. Die Reform der Verfassung ist für sie eine abstrakte Frage, die sie kaum interessiert.« An einigen Punkten greifen allerdings schon im Juni ArbeiterInnen in die Kämpfe ein. Dies geschieht überall dort, wo sie die Gelegenheit haben, eigenständig und mit ihren Forderungen aufzutreten. In Pusan zirkulieren Flugblätter mit den Forderungen: Abschaffung der Arbeitsausweise und des Lohnstops, Beachtung der Arbeiterrechte. In dieser südlichen Hafenstadt werden die Demonstranten von Taxifahrern unterstützt, auf einer großen Kreuzung geben vier Reihen von je sechs Bussen den Straßenkämpfern Deckung. Andere Berichte über eine Beteiligung von jungen ArbeiterInnen beziehen sich fast immer auf Arbeiterviertel, also Orte, wo sie selbst das Geschehen bestimmen können.

Als politische Studentengruppen während und nach der Streikwelle versuchten, die ArbeiterInnen vor den Fabriktoren zu einem Bündnis von Arbeitern und Studenten aufzufordern, stießen sie oft auf Ablehnung, was sie mit dem mangelnden »politischen Bewußtsein« in der Arbeiterklasse erklären. (Natürlich gab es auch eine Reihe von Fällen, wo es die alten oder neuen Gewerkschaftsführer waren, die auf Studenten einprügelten, um eine weitere Radikalisierung der kaum kontrollierbaren Belegschaften zu verhindern!) Aber auch hier liegt die Stärke der Klasse gerade darin, daß sie sich keinen ihr äußerlichen »Bündnisvorstellungen« unterordnet. »Sie sind sehr klassenbewußt. Sie fühlen sich in keiner Weise mit irgendjemandem verbunden, der kein Arbeiter ist.« Diese Aussage eines Vertreters der außerparlamentarischen Opposition (Mintung Ryun) bringt auf den Punkt, worin die Stärke der Arbeiterautonomie zunächst einmal besteht: in dem Bewußtsein, eine ganz und gar besondere Klasse gegen die gesamte Gesellschaft zu sein. Dies ist noch kein »revolutionäres« Bewußtsein im engeren Sinn, aber es ist der einzige Weg, auf dem sich die Klasse als selbständige politische Macht begreifen und als solche gegen die ganze alte Gesellschaft stellen kann.

Untersuchung und Analyse der Kämpfe ist ein Prozeß. Wir haben nicht den Anspruch, mit den Artikeln zu Südkorea oder andern Klassenkämpfen »in der Ferne« fix und fertige Resultate vorlegen zu können. Proletarischer Internationalimus - in der Analyse wie in der Praxis - ist auf authentische ArbeiterInnenkontakte angewiesen, kann sich nicht auf die Aussagen politischer Organisationen oder der bürgerlichen Journaille verlassen. Gerade für Südkorea ist das schon aus sprachlichen Gründen ein enormes Problem. Zumal es viele der politisch radikalsten Kräfte ablehnen, sich in der Sprache des Feindes - in Englisch - auszudrücken. Viele der Informationen, auf die wir für diese Ausarbeitungen zurückgegriffen haben, stammen aus kirchlichen oder bürgerlichen Unterstützungsgruppen und sind damit von den jeweiligen Interpretationen bestimmt. Deren humanistische und reformistische Logik zielt darauf, die verschiedenen Kämpfe und Terrains aufzusplittern und zu isolieren, denn nur so können die Leute zu Objekten einer von irgendwem verwalteten »Menschlichkeit« gemacht werden. So schließen viele Berichte über die Slumkämpfe mit der Forderung nach besonderen sozialstaatlichen Leistungen für sie, statt die Frage nach der tendenziellen Einheit der Klasse zu stellen. Viele Informationen sind durch die Forderung nach Gewerkschaften oder Sozialstaat gefiltert, klammern bewußt Verhaltensweisen in der Klasse aus, die diesen Konzepten widersprechen und lassen nur selten die ArbeiterInnen selbst zu Wort kommen. Theoretische Analysen kritisieren zwar diese Aufspaltungen, bleiben dafür aber in einem soziologisch-akademischen Marxismus stecken, der zwar wichtige Materialien zur inneren Klassenzusammensetzung liefert, aber nicht die lebendigen Formen dieser Zusammensetzung in den Kämpfen thematisiert. Und kritisch müssen wir auch die Berichte der radikalen Studenten lesen, solange deren stark am Leninismus orientierten Konzepte nicht in einer gemeinsamen Diskussion intensiver geklärt sind. Im Folgenden also eine weitere »Annäherung« - in der Hoffnung, daß sie die internationale Diskussion anregt.

 

Südkorea - Teil II

Durch die Niederschlagung des Kwangju-Aufstandes und die anschließende Repressionswelle werden die sozialen Kämpfe massiv zurückgedrängt. Die Weltwirtschaftskrise 80/82 wird auch in Südkorea gegen die Klasse eingesetzt. 30% der japanischen Firmen kündigen ihren Rückzug aus Korea an. Die wenigen bekannt gewordenen Versuche dieser Jahre, sich wieder zu organisieren oder Streiks durchzuführen, werden von der neuen Diktatur brutal zerschlagen. Zehntausende wandern in die Konzentrationslager - sogenannte »Umerziehungslager«, die für die Säuberungskampagne von Chun Doo Hwan eingerichtet werden. Anfang 1982 führen die jungen Arbeiterinnen des amerikanischen Elektronikkonzerns Control Data einen Kampf um höhere Löhne, der mit der Entlassung und Inhaftierung aktiver Arbeiterinnen endet. Er wird außerhalb Koreas nur bekannt, weil er bei einem ausländischen Konzern stattfindet und über kirchliche Kreise Öffentlichkeit in den USA geschaffen wird (iz3w 109).

Überhaupt sind die Kirchen und ihre Industriemission der einzige institutionelle Ort, den die ArbeiterInnen in dieser Phase für offene Organisierungsversuche nutzen können. Der Rückzug auf die Kirchen wird aber in dieser Phase zunehmend kritisiert, da ihre humanistische Unterstützungsarbeit zur Schranke und zum Hemmnis für den Klassenkampf wird. Unter den Bedingungen der Diktatur entwickelt sich eine neue organisatorische Aufbauarbeit im Untergrund, die versucht, die aus dem Aufstand von Kwangju gezogenen politischen Konsequenzen in die Praxis umzusetzen. Begleitet wird dies von einer breiten Diskussion über die koreanische Klassenstruktur, die von neuen universitären Studien, die sich an der westlichen Soziologie orientieren, bis zur intensiven Aufarbeitung der russischen Revolution und anderer Revolutionskonzepte im Untergrund reicht. Diese Jahre gelten daher nicht nur als Phase der blutigen Repression sondern auch als Aufschwung der politischen Theorie und Diskussion.

Und hinter der äußerlichen Ruhe an der Klassenfront entwickelt sich der Lohndruck der Arbeiterklasse weiter. Ende 1983 schreibt die NZZ, Korea brauche dringend 'Sachkapital' und 'Know-How', weil es »zu höheren Technologien übergehen muß, um die schon recht beachtlich gewordenen Löhne bezahlen zu können.« Anfang 84 heißt es, trotz der geringen Inflationsrate könne sich das Regime aus Gründen der innenpolitischen Ruhe kein Einfrieren der Löhne erlauben.

Chronik der Kämpfe nach 1980

Der Funke der Taxifahrer - 1984

Eine der ersten breiteren Bewegungen aus der Arbeiterklasse geht von den Taxifahrern in Taegu, der südlich gelegenen drittgrößten Stadt Südkoreas, aus. Die Arbeitsbedingungen der Taxifahrer in Südkorea sind äußerst schlecht: sie arbeiten für große Firmen in Schichten, die zwischen 18 und 22 Stunden dauern. Offiziell arbeiten sie nur jeden zweiten Tag, aber aufgrund der niedrigen Löhne fahren viele in den freien Tagen noch für andere Firmen. Die Fahrer erhalten einen geringen monatlichen Grundlohn, der nur bei Anwesenheit gezahlt wird und zusätzlich Prozente.

Am 25. Mai 1984 beginnen fünf Taxifahrer früh am Morgen mit einer Demonstration vor dem Rathaus in Taegu. Sie fordern mehr Lohn, Zulassung einer Gewerkschaft, Kranken- und Arbeitslosenversicherung und andere Schichtpläne. Ein paar Stunden später sind es bereits 300 Taxifahrer und gegen 9 Uhr blockieren 900 Taxifahrer mit ihren Wagen den Verkehr in der Innenstadt. Die Unternehmer willigen schließlich in die Forderungen ein; im Anschluß daran werden 60 Fahrer als Rädelsführer verhaftet. Aber in sieben anderen Großstädten und in Seoul greifen die Taxifahrer das Signal auf. Bis in den Juni hinein kommt es zu Streiks und Blockadeaktionen von Taxifahrern in allen Landesteilen. Diese rasche Ausbreitung und Zirkulation von Arbeiterkämpfen erlangte über diesen besonderen Bereich hinaus Bedeutung. Anläßlich des Streiks in der Kuro-Industriezone im folgenden Jahr schrieb eine gewerkschaftlich orientierte Unterstützungsgruppe:

»Als sich die Taxifahrer in Taegu im Mai letzten Jahres nach einer langen Phase der Ruhe erhoben, wurde der Kampfwille der ArbeiterInnen durch diesen Funken wieder entzündet. Seitdem vergeht in Südkorea kein Tag ohne Arbeiterkampf und bis heute gründeten sich wieder mehr als 200 freie, demokratische Gewerkschaften, die oft erfolgreich mutigen Widerstand leisteten.«

Arbeitermacht in den Industriegebieten

Eine wichtige Auseinandersetzung entwickelt sich ab 1984 im Kuro-Industriegebiet, das am südwestlichen Rand von Seoul liegt. Etwa 100 000 ArbeiterInnen werden in den Textil- und Elektronikfabriken dieser Zone ausgebeutet. Ein großer Teil von ihnen wohnt in den umliegenden Siedlungen oder Slumvierteln. In verschiedenen Betrieben dieses Gebietes gibt es 1984 Versuche, unabhängige Gewerkschaften aufzubauen, die mit harter Repression und Rausschmiß beantwortet werden. Auf das Kuro-Gebiet konzentriert sich auch die politische Arbeit von kirchlichen und studentischen Gruppen in Seoul.

Daewoo-Apparel ist mit 2800 ArbeiterInnen größter Textilbetrieb im Kuro-Gebiet. Das Anfangsgehalt für die 10-Stunden-Schichten betrug ca. 230 Mark. Der Konflikt in disem Betrieb ist typisch für die Art, wie das Kapital in Korea dem Arbeiterkampf begegnet: am 9. Juni 1984 wird eine unabhängige Gewerkschaft gegründet. Daewoo entläßt daraufhin GewerkschafterInnen oder schmeißt sie aus den Wohnheimen raus, organisiert eine Gegendemonstration und einen Fußballverein als Schlägertrupp. (In Korea organisieren viele Firmen einen Teil der männlichen Arbeiter oder Angestellten in einer Form von Freizeit-Werksschutz - den sogenannten »Love the Company«-Trupps.) Der Staat überprüft die Identität aller 2800 ArbeiterInnen, um politische Aktivisten zu enttarnen.

Am 17. Oktober begeben sich 100 ArbeiterInnen nach der Arbeit bis zum nächsten Morgen in einen Sitzstreik auf der Dachterrasse der Fabrik. Schließlich wird mit der Firma vereinbart: »Wiedereinstellung von 4 Entlassenen, Beendigung der ungerechten Arbeitskontrolle, Erhöhung des Bonus (spezifischer Lohnanteil in Korea) um 100%«. Aber Daewoo weigert sich, den Vertrag zu erfüllen, da er in einer »schlechten Atmosphäre« zustandegekommen sei.

Daraufhin machen Gewerkschafter am 25.10. vormittags für 2 Stunden einen Sitzstreik im Zimmer des Vorsitzenden des staatstragenden Koreanischen Gewerkschaftsbundes (FKTU). Es werden schließlich die Dokumente über Verbesserungen ausgetauscht: 100 Won Lohnerhöhung pro Tag, Wiedereinstellung der vier Entlassenen, Bonuserhöhung, Anerkennung eines Tarifvertrages. Als die Gewerkschafter nachts in die Firma zurückkehren und mit 80 anderen ArbeiterInnen den Sieg feiern wollen, werden sie von betrunkenen Schlägern des Fußballvereins überfallen, mit Glasscherben angegriffen; 100 werden verletzt, einige müssen ins Krankenhaus; 95 werden von den Schlägern in einem Zimmer eingeschlossen und mit dem Tod bedroht; alle Unterlagen und Personalausweise verbrannt, Geld geraubt usw. Am nächsten Tag, dem 26., stoppt der Firmenchef um 8Uhr die Arbeit und läßt alle ArbeiterInnen auf dem Sportplatz antreten; vier Stunden lang hetzt er gegen die Gewerkschaft und die »Roten« und läßt die Arbeiter dagegen »demonstrieren«. Am Nachmittag wird diese Demonstration gegen die Gewerkschaft in jeder Abteilung unter Aufsicht der Meister fortgesetzt.

Im Mai 85 versuchen die ArbeiterInnen der Textilfabrik Daewoo-Apparel erneut, die Zulassung ihrer Gewerkschaft durchzusetzen. Als am 22. Juni 85 drei Frauen wegen politisch-gewerkschaftlicher Betätigung festgenommen werden, antworten 300 ArbeiterInnen mit einem Sit-In, das die ganze Fabrik lahmlegt. Am selben Tag schließen sich 1000 ArbeiterInnen in drei anderen Betrieben im Kuro-Gebiet dem Streik an. Zwei Tage später treten 600 ArbeiterInnen drei weiterer Betriebe in den Streik und am 28. Juni nochmals 120 ArbeiterInnen einer anderen Fabrik - insgesamt beteiligen sich 2000 ArbeiterInnen aus 9 Fabriken mit Solidaritätsstreiks. Das Industriegebiet wird von der Polizei abgeriegelt; trotzdem demonstrieren die ArbeiterInnen der verschiedenen Betriebe innerhalb der Zone. Am sechsten Streiktag stürmen Schlägertrupps Daewoo-Apparel und beenden den Streik gewaltsam, ohne daß irgendwelche materiellen Verbesserungen erzielt worden wären. Insgesamt gibt es sechs Schwerverletzte, etwa 100 Festnahmen und 200 Entlassungen. Trotzdem gilt diese Bewegung im Kuro-Gebiet als Wendepunkt in der Arbeiterbewegung, da es hier zum erstenmal zu solchen solidarisierenden Streikaktionen verschiedener Betriebe gekommen ist und nun industrieweite Bewegungen ins Auge gefaßt werden.

Das Kuro-Gebiet ist damit zum Symbol der Arbeitermacht in den Industriezonen geworden. In den 60er und 70er Jahren war die Industrie planmäßig in solchen Zonen konzentriert worden, um die kapitalistische Entwicklung gezielt voranzutreiben und um eine zentrale Kontrolle über die ArbeiterInnen zu haben. Nun entdecken die ArbeiterInnen, welche konzentrierte Macht sie daraus entwickeln können, daß sie in diesen Gebieten zu Zehntausenden zusammen arbeiten. In der Streikwelle von 1987 werden diese Zonen zu den zentralen Orten des Arbeiteraufstands.

Streik der Automobilarbeiter 1985

In anderer Hinsicht ist ein Streik in den Automobilfabriken von Dae-woo von Bedeutung. Der schwerindustrielle Sektor, in dem hauptsächlich Männer arbeiten, galt lange Zeit als befriedetes Gebiet. Zum einen sind die Löhne hier höher als in den Textil- oder Elektronikbetrieben, zum anderen betreiben die Großkonzerne eine extreme Politik der Selektion und Spaltung. Erst nach langwierigen Einstellungsprüfungen und Kontrollen werden die Arbeiter eingestellt und in den Betrieben wird ein ständiges Klima der gegenseitigen Bespitzelung geschaffen. Für gewerkschaftliche Aktivisten oder Studenten, die bewußt in solche Fabriken hineingingen, war die politische Arbeit dort sehr schwierig.

Im April 1985 gelingt es, bei Daewoo-Auto (General Motors) in der Nähe von Inchon (Pupyong) einen Streik der 2000 Arbeiter für eine Lohnerhöhungen gegen die unternehmenstreue Gewerkschaft zu organisieren. Die Konzernleitung versucht den Streik zunächst dadurch zu unterdrücken, daß sie radikale Studenten unter den Organisatoren »entdeckt« und entläßt. Daraufhin beginnen die Arbeiter mit einem Sit-In-Streik und nach neun Tagen werden höhere Löhne zugestanden. Aufgrund des materiellen Erfolges kommt es daraufhin auch in anderen Großbetrieben zu Bewegungen, allerdings sind die bei Daewoo mühsahm aufgebauten organisatorischen Strukturen zunächst völlig zerstört.

Organisationsversuche

Die Regierung versucht, die sich unausweichlich ausbreitende Streikbewegung mit der Jagd auf Studenten in den Betrieben einzudämmen. Im Sommer 85 werden der Öffentlichkeit die Fälle von 180 Studenten präsentiert, die in 85 Firmen mit falschen Papieren gearbeitet hätten. Nach der Besetzung der Konkuk-Universität in Seoul im November 1986, bei deren Räumung 1300 Studenten festgenommen werden, startet die Regierung einen Generalangriff auf Arbeiterzirkel und freie Gewerkschaften.

Neben einer Vielzahl von Untergrundzirkeln, die in den Fabriken und Arbeitervierteln aktiv sind, aber außer gelegentlichen Flugblättern kaum in Erscheinug treten, wagen sich einige Gruppen vorsichtig an die Öffentlichkeit. Im März 1984 wird der »Koreanische Rat für Arbeiterwohlfahrt« von prominenten gewerkschaftlichen Aktivisten der 70er Jahre gebildet. Er versucht einzelne Konflikte öffentlich zu machen und zu unterstützen, hält sich aber politisch sehr zurück. Von Studenten und Untergrundaktivisten, die im Rat mitarbeiten, wird diese Haltung kritisiert. Den alten »gewerkschaftlichen Helden« der 70er wird vorgeworfen, sie seien bequeme und unpolitische Funktionäre geworden. Die Arbeiter-Studenten gründen im August 1985 in Seoul einen eigenen Zusammenschluß: »So No Ryon« - Arbeitervereinigung im Norden (des Han-Flusses). Es folgt die Bildung von »Nam No Ryon« für den Südteil der Stadt und »In No Ryon« für das Gebiet der in der Nähe von Seoul gelegenen Hafenstadt Inchon. Diese Gruppen werden bekannter, weil sie trotz ihres Untergrundcharakters regelmäßige Zeitungen herausgeben. Sie unterscheiden sich nicht nur nach ihrer regionalen Präsenz sondern auch in politischen Fragen. Dabei geht es zum Teil um dieselben ideologischen Auseinandersetzungen, die unter den studentischen Gruppen ausgetragen werden. So No Ryon orientiert sich an dem Ziel, eine revolutionäre Arbeiteravantgarde herauszubilden, und warnt vor einer reformistischen Politik der gewerkschaftlichen Organisierung, wie sie in Westeuropa oder anderen kapitalistischen Ländern sichtbar sei. Nam No Ryuon hält dagegen die gewerkschaftliche Organisierung für den nächsten taktischen Zwischenschritt, wie sie sich überhaupt - im Unterschied zu SNR - am Konzept einer demokratischen Übergangsphase orientiert. Für beide Gruppen ist es wichtig, zur betriebsübergreifenden Organisierung in Form von Untergrundzirkeln und -netzen zu kommen. Die Konzentration der Fabriken und ArbeiterInnen in den Industriezonen bildet einen Ansatzpunkt für diese politische Praxis, die beim Streik im Kuro-Gebiet und bei koordinierten Lohnkämpfen in den folgenden Jahren wirksam wird.

Im November 1986 und im Mai 1987 werden viele Mitglieder dieser Gruppen verhaftet und bei den ersten Prozessen im Frühjahr 1987 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Sie sitzen noch heute in den Gefängnissen, da sie als »Kommunisten« von den diversen Demokratisierungs-Amnestien nichts zu erwarten haben.

Slumkämpfe gegen Sanierung und Armut

Die Bewegungen, die von den Taxifahrern oder den Textilarbeiterinnen ausgingen, sind nicht zu trennen von den Kämpfen der Slumbevölkerung, die ab 1983 zunehmen. Denn diese ArbeiterInnen kommen zu einem großen Teil aus den Slums und ihre Löhne bilden einen Bestandteil des gesamten Familieneinkommens. Da die älteren Menschen in den Fabriken keine Jobs bekommen, sind sie auf Arbeiten im sogenannten »informellen Sektor«, z.B. als Straßenhändler, oder auf Tagelöhnerjobs als Bauarbeiter angewiesen. Der Kampf gegen die Sanierungsprojekte ist immer auch ein Kampf um diese Einkommensmöglichkeiten, die durch die Vertreibung an die Stadtränder eingeschränkt oder zerstört werden.

Im Sommer 1983 finden vor dem Rathaus in Seoul gleichzeitig Demonstrationen von etwa tausend Straßenhändlern und den Bewohnern des Slumviertels Mok-Dong statt. Die Strassenhändler protestieren gegen ihre ständige Vertreibung aus der Innenstadt, wo sie die besten Absatzmöglichkeiten haben; die Bewohner von Mok-Dong gegen die geplante Sanierung ihres Viertels. Die Kämpfe gegen die Sanierung dieses Slums, die von August 1984 bis März 1985 andauern, bilden den Auftakt für eine ganze Reihe von Slumkämpfen. Dieser neue Kampfzyklus beruht auf einer verstärkten Sanierungswelle, die mit der Vorbereitung der Asien-Spiele von 1986 und der Olympiade von 1988 begründet wird.

Er drückt aber auch eine neue Subjektivität aus - die Slumbevölkerung organisiert sich besser und versucht zunehmend, über die einzelnen Viertel hinaus zusammenzuarbeiten. Zunächst bestanden die Slums vor allem aus Leuten, die vom Land kamen. Bis zum Ende der 70er Jahre waren die Hoffnungen dieser Slumbevölkerung daher weiter aufs Landleben ausgerichtet. Sie kamen mit der Erwartung in die Stadt, in kurzer Zeit etwas Geld zu verdienen, um dann aufs Land zurückkehren und sich ein Stück Land kaufen zu können. Mitte der 70er Jahre geben laut Untersuchungen noch 30% der Slumbewohner an, daß sie zurück aufs Land wollen. Aber stattdessen geraten sie in den damaligen Boom der Arbeitsmigration aus Südkorea. Bei dieser Migrationswelle - vor allem in den arabischen Raum - bilden die Slums eine wichtige Arbeitskraftreserve. Von den Arbeitsmigranten stammen 30-40% aus der Slumbevölkerung. An den extrem niedrigen Löhnen und den prekären Einkommensmöglichkeiten bricht der Mythos von der Rückkehr aufs Land schließlich zusammen. Die Kämpfe der 80er Jahre enthalten diese neue Orientierung: Die jüngere Generation hat den Traum vom Landleben aufgegeben und geht daher nun entschlossener daran, ihre Überlebensmöglichkeiten in den städtischen Zentren einzufordern.

Das Viertel Mok-Dong ist selbst schon ein Resultat früherer Vertreibungen. Die heutigen Bewohner von Mok-Dong waren im Oktober 1964 von der Stadtverwaltung aus anderen Stadtteilen von Seoul vertrieben und auf Wagen der Müllabfuhr hierhergebracht worden. Jeder Familie waren etwa 30 qm Boden auf Zeit überlassen worden. Aus Holzplatten bauten sie sich ihre ersten Hütten, mit der Verbilligung des Baumaterials im Boom der 70er Jahre gingen sie zu stabileren Bauweisen über. Zum Zeitpunkt der Sanierung gibt es etwa 2600 Besitzer von kleinen Häuschen im Viertel, in denen aber insgesamt 5200 Familien, etwa 32 000 Menschen, wohnen.

Im April 1983 beschließt die Stadt Seoul, aus den Slumgebieten Mok-Dong und Shin-Cheong-Dong neue Stadtteile zu bilden. Die 'ungenehmigt' gebauten Häuser sollen dazu abgerissen werden. Die Stadt will die Neubebauung selbst durchführen und die Wohnungen dann mit beträchtlichem Gewinn verkaufen. Den Besitzern der ungenehmigt gebauten Häuser soll eine Entschädigung von umgerechnet 1200DM gezahlt und außerdem ein Vorkaufsrecht für Wohungen in den neu zu bauenden Häusern zugesprochen werden. Dabei ist klar, daß sich keiner von den damaligen Bewohnern Mok-Dongs eine solche Wohnung leisten kann. Trotzdem wird mit diesen materiellen Angeboten die Mok-Dong-Bevölkerung gespalten, da sie nur für die »Hausbesitzer« gelten und diese ihre Vorkaufsrechte versilbern können. Um an die Vorkaufsrechte für die neuen Häuser heranzukommen, kaufen Spekulanten die ungenehmigten Haüser noch vor der Sanierung auf. Die kleinen Hausbesitzer können daher zusätzlich zu der Entschädigung 17 bis 20 000 DM beim vorzeitigen Verkauf erzielen. Die Spekulanten reißen sich auf diese Weise etwa ein Drittel der Häuser von Mok-Dong unter den Nagel.

Ursprünglich war geplant, die Bevölkerung von Mok-Dong bis zum 20. Mai 1984 aus dem Viertel zu vertreiben, was wegen der Proteste auf August verschoben wird. Am 23. Juli 1984 spricht eine Delegation der Bewohner mit dem stellvertretenden Bürgermeister von Seoul, aber die Stadt ist nicht bereit, ihre Pläne fallen zu lassen. Die Delegation fordert kostenlose Wohnmöglichkeiten in den neuen Häusern für die früheren Bewohner und richtet sich damit nicht mehr prinzipiell gegen die Sanierung, wie es die Studenten später wieder tun. Sie verlangen Überlebensmöglichkeiten im Rahmen der Sanierung und kritisieren, daß die Stadt aus den jahrelangen Bemühungen und Kämpfen der Slumbevölkerung um eine bessere Infrastruktur usw. Profit schlägt und mit der Sanierung riesige Gewinne macht. Mit der Forderung nach Entschädigungen für die Bewohner ohne Hausbesitz richten sie sich gegen die Spaltung der Slumbevölkerung.

Um den Unmut im Viertel kanalisieren zu können, richtet die Stadt eine Organisation der Bewohner ein. Als Antwort darauf gründen die Bewohner am 24.August 1984 ihr eigenes Mok-Dong-Komitee gegen die Sanierung, das am 27. in einem Stadion in der Nähe des Viertels eine Kundgebung abhält. Im Anschluß daran bildet sich ein Demonstrationszug von tausend Bewohnern. Immer mehr Menschen schließen sich dieser Demonstration an, und sie beginnen mit einem Sitzstreik vor dem städtischen Sanierungsbüro. Sie verlangen, daß der Bürgermeister von Seoul zu ihnen kommen soll. Es erscheint aber nur der Verwaltungsdirektor des Viertels und erzählt, wie sehr sie doch die Interessen der Bewohner zu berücksichtigen versuchten. 10 000 Leute gehen daraufhin zu der in der Nähe vorbeiführenden Zufahrtsstraße zum Flughafen Kim-Po und blockieren sie für drei Stunden. Außerdem blockieren sie eine Ringstraße und verursachen dadurch einen großen Verkehrsstau. Die Polizei geht mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demonstranten vor. Eine alte Frau wird von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen und bewußtlos von der Polizei weggeschleppt. Viele Frauen werden von den Polizisten verprügelt und etwa hundert Leute festgenommen. Am Abend zwischen 19 und 24 Uhr setzen etwa tausend Leute die Demonstration mit der Forderung nach Freilassung der Festgenommenen fort. Mit diesem ersten schweren Zusammenstoß werden die lang anhaltenden Kämpfe um Mok-Dong eingeleitet.

Bewegungen auf dem Land

Seit den 70er Jahren geht die bäuerliche Bevölkerung nicht nur relativ sondern auch absolut zurück. Durch eine gezielte Politik der niedrigen Erzeugerpreise und landwirtschaftlicher Importe werden viele Bauern zur Aufgabe gezwungen. Zur Situation der Bauern drucken wir ein Interview vom letzten Sommer ab.


Gespräch mit einem Aktivisten der nationalen Bauernbewegung

August 1987, in einem winzigen Dorf irgendwo tief im Süden Südkoreas

Worin zeigen sich die Probleme der südkoreanischen Bauern?

Im Pachtproblem und im Schuldenproblem; beides hat mit der Agrarpreispolitik der Regierung zu tun:

Mit der Bodenreform noch durch die Amerikaner nach der Befreiung von Japan war auch das Pachtsystem beseitigt worden. Inzwischen sind 64% aller Bauern wieder Pächter. Von den rund 2 Mio. ha landwirtschaftlicher Fläche in Südkorea sind 650 000 ha gepachtet, also fast genau ein Drittel, wie vor der Bodenreform. Die Gesamtpachtsumme betrug 1986 500 Mrd. W [etwa 1,3 Mrd. DM]; davon gingen 300 Mrd. W an Grundeigentümer, die in der Stadt wohnten, also überhaupt nicht mehr selbst Land bebauen. Jeder Betrieb zahlt im Durchschnitt 410 000 W Pacht im Jahr!

Wie stark sich die Zustände wieder denen vor der Bodenreform angenähert haben, zeigt sich auch daran, daß die Pacht rund 50% der Ernte ausmacht; das entspricht genau dem traditionellen Anteil schon seit der Yi-Dynastie [feudalistische Herrschaftsperiode von 1392 bis 1910].

Und dann die Verschuldung. Während das allgemeine Einkommen zwischen 1979 und 1985 um etwa das 2,5-fache angestiegen ist, hat sich die Schuldensumme verelffacht. Bei einer Gesamtschuldsumme von 7000 Mrd. W heißt das pro Betrieb 3,7 Mio. W [knapp 10 000 DM]. Nach offiziellen Angaben (alle genannten Zahlen sind aus der offiziellen Landwirtschaftsstatistik) sind 30% der verschuldeten Betriebe nicht in der Lage, die Schulden zurückzuzahlen. Es hat in den letzten Jahren viele Selbstmorde gegeben. Darunter war auch ein Bauer, der von der Regierung als vorbildlicher Bauer ausgezeichnet worden war.

Die Landflucht geht weiter?

Am stärksten ist der Rückgang der bäuerlichen Bevölkerung in den bergigsten Gegenden (Korea ist ja insgesamt ein bergiges Land). In den ungünstigsten lagen ist heute sehr viel Brachland, Häuser stehen leer; die Schulen sind geschlossen, weil es in den Dörfern nur noch weniger als zwanzig, manchmal nur fünf Kinder gibt, wo es früher über fünfzig waren. Die Alten bleiben zurück. Die von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung ist in zehn jahren von 50% auf 21% zurückgegangen. In den Städten leben die Bauern meistens von ungarantierten Jobs.

Wie wirkt die Preispolitik der Regierung konkret?

Dreh- und Angelpunkt ist noch immer der Reispreis. Im Durchschnitt stammen 40% der Einkünfte der Bauern aus dem Verkauf von Reis. Tatsächlich liegt der durchschnittliche Reispreis beträchtlich unter den Produktionskosten. Im Jahre 1986 ergab sich für die Bauern insgesamt ein Verlust aus dem Reisanbau von 6700 Mrd. W, das sind 3,3 Mio. W pro Betrieb. Natürlich versuchen die Bauern auf andere Pflanzen auszuweichen (was wegen der speziellen Reisanbaumethoden äußerst schwierig ist) oder auf Vieh. Aber das verschiebt nur das Problem in einen anderen Bereich. Das Überangebot dort läßt sofort die Preise sinken.

Kauft die Regierung selbst den Reis auf oder setzt sie den Preis zentral fest? Oder bildet sich der niedrige Preis einfach infolge der Billigimporte auf dem Markt heraus?

Die Regierung kauft über die Hälfte der Reisernte zu einem von ihr festgesetzten Preis auf. Dieser Preis wird so festgesetzt, daß er - nach den Berechnungen der Regierung - mehr als die Produktionskosten deckt. Aber erstens werden die Produktionskosten viel zu niedrig angesetzt, und zweitens zahlen die privaten Aufkäufer für den Rest noch weniger, weil der Markt überfüllt ist.

Viele Bauern geben auf. Aber wie überleben diejenigen, die noch bleiben, wenn sie ständig Verlust machen?

Die Wege des Überlebens sind: 1) ganz niedrige Lebenshaltung, 2) weitere Verschuldung, 3) Kinder, die in der Stadt Arbeit finden, schicken Geld, 4)die Bauern selbst nehmen eine Nebenbeschäftigung an oder betreiben gar die landwirtschaft nur noch als Nebenbeschäftigung, da sie dort noch ihre Wohnung haben.

Es gibt seit einigen Jahren eine Förderung der Industrieansiedlung auf dem Land, um die überschüssige Arbeitskraft aufzusaugen. Es gibt direkte Subventionen und niedrigste Grundstückspreise - und dann sind ja die Löhne auf dem Land nochmal um vieles niedrigerer. [1]

Reagieren die Bauern nur mit Landflucht oder gibt es auch Widerstand?

Direkten Einfluß auf die Preispolitik von seiten der Bauern gibt es nicht. Es gibt keine offiziell anerkannten Bauernorganisationen. Dennoch leisten die Bauern Widerstand - und nicht ohne Wirkung.

Zum Beispiel der Rinderkampf: Seit 1983 wurden ca. eine Million Rinder aus den USA importiert. Der Bruder des Präsidenten Chun war der Rinderimporteur. Der hat 60 Mrd. W Gewinn dabei gemacht. Der Importpreis war 400 000 W pro Rind, die Bauern mußten 800 000 W zahlen. Nachdem das Geschäft herauskam, gab es einen gewaltigen Preisverfall. 1985 kam es zu militanten Demos von Rinderbauern, die mit ihren Rindern und auch mit Traktoren, Wagen usw. auf die Straße gingen, insgesamt 22 000 Teilnehmer.

Ihre Forderungen waren: 1) Stopp aller Agrarimporte und 2) volle Kompensation für die Rindfleischpreise. Tatsächlich sah sich die Regierung zu Zugeständnissen genötigt: Die Einfuhrbestimmungen wurden verschärft, der Rinderpreis seit 1985 wieder um 10 000 W erhöht. Aber die Forderung nach voller Kompensation ist noch nicht vom Tisch.

Gibt es weitere Beispiele für Widerstand?

Gerade jetzt im Juli gab es in der Provinz Cholla-Namdo Demonstrationen gegen die Pläne der Regierung, Knoblauch und Zwiebeln zu importieren. Der Polizeiched wurde mit Zwiebeln beschmissen und mußte ins Krankenhaus.

Auch Milch und Milchprodukte und auch Milchkühe sollen nach den Plänen der Regierung importiert werden. Daher gab es jetzt zum ersten mal eine Demonstration der Milchbauern; es waren mehrere Tausend, die nach Seoul gefahren sind, und dort demonstriert haben. Auch in der Provinz gab es überall Demonstrationen. In Masan waren es z.B. 500 demonstrierende Bauern. Daraufhin hat die Regierung eingelenkt.

Auch der Plan zum Bau einer Käsefabrik durch den Lotte-Konzern ist fallengelassen worden, nachdem die käseerzeugenden Bauern demonstriert haben.

Wie schätzen sie das Bewußtsein der Bauern ein?

Bis in die 70er Jahre gab es unter den bauern kein richtiges Bewußtsein über die Industrialisierungspolitik des Park-Regimes. Die Propaganda war damals sehr geschickt, unter dem Motto: Wir müssen zunächst alle den Gürtel enger schnallen, dann werden wir in einigen Jahren reich sein (jeder ein Auto und so). Bei Mißerfolgen suchten die Bauern meist die Schuld bei sich selbst: "Wir sind eben technisch schlecht ausgestattet und wissen zu wenig."

Das hat sich in den 80er Jahren grundlegend geändert. Die Bauern haben genau erkannt, daß die Agrarpolitik nicht für, sondern gegen sie gemacht wird. Siehe das Problem der Verschuldung. Daher sind die Bauern jetzt gegen das Regime eingestellt. Selbst bei einer Invasion von Nordkorea, mit der immer gedroht wird, hätten die Bauern nichts zu verlieren, weil sie praktisch nichts haben.

In welchem Verhältnis steht der Kampf der Bauern zu dem der Studenten, der Arbeiter usw.?

Im letzten Jahr war der Kampf der Studenten, der Arbeiter und der Bauern noch ein Kampf auf der ideologischen Ebene unter den Aktivisten. Diese Auseinandersetzung hat zu der Überzeugung geführt, daß der Klassenkampf im Zentrum stehen müsse. Das ist neu gegenüber den 70er Jahren. Früher ging es immer nur um den Reispreis usw. Jetzt erkennt man das Wesen der Diktatur und des amerikanischen Imperialismus. Der Kampf der Bauern ist jetzt eindeutig ein antikapitalistischer Kampf geworden.

Wir sind der Überzeugung, daß sich die Fortschrittlichsten in diesem Kampf nicht von den Bauernmassen isolieren dürfen. Das heißt, wir müssen im alltäglichen Kampf immer alle zusammenstehen. Dadurch kann gleichzeitig die politische Bedeutung dieses alltäglichen Kampfes deutlich gemacht werden und den Bauern wird ihre Rolle, die ihrer Klasse, bewußt. Die Hauptströmung sagt jetzt: Bauern im Bündnis mit der Arbeiterklasse.

Anmerkung:
[1] Die Industrieansiedlung in den ländlichen Regionen dürfte auch als Antwort auf die neuen Kampfbewegungen in den Industriegebieten zu verstehen sein, die ursprünglich als Kontrolle der ArbeiterInnen gedacht waren und nun zu Zentren des Widerstandes geworden sind. Das Arbeitsministerium unterstrich das ländliche Investitionsprogramm kürzlich mit Zahlen, nach denen der Anteil der in nicht-landwirtschaftlichen Bereichen Beschäftigten auf dem Lande zwischen 1960 und 1980 von 19% auf 28% angestiegen ist.


 

Ein anderes Beispiel für Kämpfe gegen die Zerstörung der Existenzgrundlage durch Industrialisierung: In Sosan, an der Westküste, protestieren im September 1985 700 Fischer gegen die Zerstörung ihrer Seetang-Farmen durch die Hyundai-Baufirma. Sie gehen zum Firmensitz und verlangen Entschädigungen. Sie drohen, den gesamten Weg nach Seoul zu marschieren. Als sie ihren Marsch antreten, werden sie von der Polizei mit Tränengas aufgehalten. Sie stürmen daraufhin den dortigen Firmensitz, besetzen ihn die Nacht über und verlassen ihn am nächsten Tag freiwillig. Die Regierung versucht zu vermitteln und drängt Hyundai, die verlangten Entschädigungen zu zahlen. Über solche Proteste, die sich gegen die Zerstörung des Seetang-Anbaus (wichtiges Nahrungsmittel) oder der Fischerei durch Industrialisierung und Umweltverschmutzung richten, wird in letzter Zeit öfter berichtet.

Klassenstruktur und -dynamik in Südkorea

Industrialisierung und informeller Sektor

Die Vertreibung der bäuerlichen Familien vom Land und die Abwanderung in die städtischen Ballungsgebiete ist kein gradliniger Prozeß von kapitalistischer Unterordnung. Nur ein Teil der Landflucht führt in die industriellen Ausbeutung. Die Menschen wandern in die Städte, um Einkommens- und Überlebensmöglichkeiten zu finden, nicht weil die Fabrik als solche eine verlockende Perspektive wäre. Die Versuche der Einkommensbeschaffung knüpfen an der bäuerlichen Produkionsweise an: Arbeit als formal selbständige Straßenhändler, Betrieb von Imbißbuden, kleinen Restaurants, Pensionen oder handwerklichen Kleinbetrieben. Oder sie verrichten sogenannte »einfache körperliche Arbeiten« als Tagelöhner im Baugewerbe. Der täglichen Disziplin in der Fabrik wollen sie sich nicht unterwerfen, schicken aber ihre Kinder dorthin, da ein Verdienst zum Unterhalt der Familie nicht ausreicht. Das rasche Anwachsen des industriellen Sektors wird daher von einer vergleichbaren Ausweitung des städtischen informellen (oder traditionellen) Sektors begleitet, wie die folgende Tabelle verdeutlicht.

Erwerbstätige im modernen und traditionellen Sektor
auf dem Land und in der Stadt (in Tausend bzw. Prozent)
  Traditioneller Sektor (%)
Jahr Gesamt moderner
Sektor (%)
Landwirtsch. Nicht-Landw. städtischer trad. Sektor
19607 0287,165,911,515,5
19658 20610,158,611,419,9
19709 74515,350,411,023,3
197511 83016,745,99,827,7
198114 04824,734,29,032,1

Dieser breite informelle Sektor - zu einem großen Teil identisch mit der Slumbevölkerung - ist Ausdruck der Verweigerung gegenüber der Fabrikdisziplin, übernimmt aber gleichzeitig Funktionen für den kapitalistischen Akkumulationsprozeß. Er garantiert die Reproduktion einer billigen jugendlichen Arbeitskraft, übernimmt Funktionen der Kranken- und Altersversorgung, bildet eine Reservearmee von Arbeitskraft, die in Bezug auf die Fabrikarbeit lohndrückend wirkt. Zunehmend wird er auch direkter an den kapitalistischen Zyklus angekoppelt: kleine Handwerksbetriebe werden zu Zulieferern, deren Arbeitskosten noch unter denen der Fabriken liegen; die älteren Frauen oder invaliden Männer in den Slums erledigen Heimarbeit für die Textil- und Bekleidungsindustrie. Trotzdem bleibt der informelle Sektor ein Rückzugsgebiet und ein Rückhalt für die jungen IndustriearbeiterInnen in den Fabriken, sofern sie in einem familiären Zusammenhang leben. Der Staat versucht daher, einen ständigen Druck auf den informellen Sektor aufrechtzuerhalten: einerseits muß er in bestimmten Grenzen geduldet oder sogar gefördert werden, andererseits kontrollierbar bleiben, wozu die wiederholten Sanierungs- und Vertreibungsprojekte dienen.

In den 70er Jahren nimmt die Landflucht weiter zu, angetrieben durch die Politik der billigen Agrarimporte und durch Bodenenteignungen für Industrieansiedlungen. Seit Mitte der 70er wächst der Anteil der alleine vom Land Kommenden. Für die zurückbleibenden bäuerlichen Familien verschärft sich damit die Arbeitssituation, da die jugendlichen Arbeitskräfte fehlen. In den städtischen Fabriken werden sie außerhalb der Arbeit einer umfassenden Sozialpolitik der Firma unterworfen: sie leben in den werkseigenen Wohnheimen, nach der Arbeit wird ihnen eine schulische Weiterbildung durch werkseigene Lehrer 'angeboten' und selbst die Freizeit organisiert die Firma. Dieses extreme Modell soll die ArbeiterInnen vom städtischen Slumproletariat (oder auch den politisierenden Abendschulen) getrennt halten.

Aber Ende der 70er Jahre stößt das Modell der ständig erneuten Rekrutierung junger Arbeitskraft vom Land an seine Grenzen. In Zukunft werden es zunehmend die schon in den städtischen Slums groß gewordenen Jugendlichen sein, die in die Fabriken gehen. Anfang der 80er Jahre übersteigt die Beschäftigung im städtischen informellen Sektor erstmals die in der Landwirtschaft. Hier liegt die auf absehbare Zeit wichtigste Arbeitskraftreserve der kapitalistischen Akkumulation.

Daß der informelle Sektor diese Funktion tatsächlich erfüllt, scheint ein Grund für das bisherige Gelingen des kapitalistischen Industrialisierungsprojekts in Südkorea (und einigen anderen südostasiatischen Ländern) zu sein. In anderen Ländern der Peripherie sind es gerade die Überlebens- und Rückzugsmöglichkeiten innerhalb des informellen Sektors, an denen eine schnelle Mobilisierung von Arbeitskraft für das internationale Kapital seine Schranken findet. Ein Grund für den bisherigen Erfolg des südkoreainischen Modells liegt darin, daß die mit dem 'Ost-West-Konflikt' legitimierte Entwicklungsdiktatur zugleich eine 'Bildungsdiktatur' ist. Obwohl der Besuch der weiterführenden Schulen nach der Grundschule formal freiwillig ist, wird auch einem Teil der Armutsbevölkerung 'Bildung' als einzige Überlebensperspektive aufgezwungen: zwischen 1970 und 1983 steigt die Zahl der MittelschülerInnen von 1,6 auf 3,9 Millionen, die Zahl der Studenten verfünfacht sich. Die breite Schulbildung wirkt als Instrument, um die jüngeren in den 'modernen' Sektor hineinzuführen. Diese Modell bringt aber seine eigenen Widersprüchlichkeiten mit sich. Als Ende der 70er Jahre einige Firmen vor dem Problem standen, nicht genügend junge und ungebildete Arbeiterinnen in ihre Fabriken zu bekommen, da wurde dies in erster Linie auf die Ausweitung des Bildungswesens zurückgeführt. (Während sich die Zahl der Mittelschüler in den 70ern verdoppelte, vervierfachte sich die der Schülerinnen!) Und aus dem Bildungsboom geht die stärkste politisch radikalisierte Initelligenzia in Südostasien hervor.

Die Arbeiterklasse in und aus den Slums

Wir haben oben schon erwähnt, daß die neuen Kämpfe der Slumbevölkerung in den 80er Jahren dadurch bestimmt sind, daß die in den städtischen Ballungsgebieten Aufgewachsenen sich nicht mehr an der Hoffnung orientieren, eines Tages aufs Land zurückzukehren. Die Ansprüche, Erwartungen und Forderungen, die von dieser neuen Generation an ein Leben in der Stadt gestellt werden, machen vor den Fabriktoren nicht halt. Die jungen ArbeiterInnen stammen aus den Familien der Slumbevölkerung, deren Einkommensquelle eine Kombination von selbständigem Kleingewerbe, Tages- oder Heimarbeit und Fabrikjob ist.

Für einige Viertel von Seoul oder anderen Industriestädten gibt es genauere Untersuchungen zur Lebenssituation der FabrikarbeiterInnen, die die enge Verbindung zwischen Slumbevölkerung und Fabrikarbeit aufzeigen. Besondere Bekanntheit hat das Kuro-Gebiet durch zahlreiche Streikbewegungen bekommen. 1965 wurde dies noch kaum besiedelte Gebiet zum Planungsgebiet für Industrieansiedlungen erklärt und seit 1967 wurden dort mehrere Industriegebiete ausgewiesen. In der Folge entwickelten sich um die Industriezonen herum verschieden charakterisierte Wohngebiete: staatliche Entwicklungsgebiete, privatwirtschaftlicher Wohnungsbau und spontane Besiedlung, d.h. Slumviertel. Dabei stellt die typische Arbeiterwohnung in einer privaten oder staatlichen Mietskaserne kaum eine Verbesserung gegenüber den selbstgebauten Slumhäuschen dar. Sie befindet sich in den sogenannten »Hühnerstall-« oder »Bienenstock-Häusern« - Bezeichnungen, die in keiner Weise übertrieben sind. In diesen Häusern wohnen etwa 20 Familien mit durchschnittlich fünf Personen. Jede Familie bewohnt einen Raum von etwa 5 (fünf) qm, für den die aktuelle Miete bei 100 DM liegt.

Von den ArbeiterInnen in den Kuro-Fabriken wohnten 1980 etwa ein Drittel in eigenen Häusern, was Slum bedeutet, 27% in Wohnheimen und knapp 30% in Zimmer mit Kochgelegenheit zusammen mit der Familie oder KollegInnen - zum Alleinewohnen wären diese Zimmer zu teuer. Untersuchungen zu den Wohnformen der unter 18jährigen JungarbeiterInnen im Kuro-Gebiet zeigen, daß 42% zusammen mit der Familie wohnen, 26% mit Geschwistern oder KollegInnen und 26% in Wohnheimen. Mit gewissen Abweichungen gilt diese Situation für viele Industriegebiete - in einigen ist der Anteil der in Wohnheimen Lebenden höher, in anderen niedriger.

Im Kuro-Gebiet sind 80% der ArbeiterInnen unter 25 Jahre alt, ihr durchschnittlicher Lohn beträgt 290 Mark, was etwas mehr als die Hälfte des offiziellen Existenzminimums für eine zweiköpfige Familie ist. Der durchschnittliche Fabriklohn der Frauen liegt nur zwischen 150 und 200 Mark. Diese Löhne können nur einen Bestandteil des gesamten Familieneinkommens darstellen. Verschiedene Fallstudien zur Berufsverteilung innerhalb von Slumfamilien geben an, daß etwa 20-30% der Familienmitglieder Fabrikarbeit ausüben, 20-40% sogenannte einfache körperliche Arbeiten (Tagelöhner), 10-15% 'unqualifizierte' Büroarbeit, 5-20% selbständige Tätigkeit wie Straßenverkauf oder Handwerk und 5-10% industrielle Heimarbeit. Dabei überwiegt bei den Männern die sogenannte Körperarbeit, bei den Frauen die Fabrik-, Büro- und Heimarbeit. Von den gesamten Familienmitgliedern gehen 95% irgendeiner Beschäftigung nach, wenn wir den zunehmenden Schulbesuch der Kinder mitrechnen; bei den Familienvätern sind es 65%.

Diese Angaben zur Einkommens- und Wohnsituation zeigen, daß ein großer Teil der jungen FabrikarbeiterInnen Kinder der Slumbevölkerung sind. Und da die industrielle Entwicklung Koreas weiterhin auf einem schnellen Generationswechsel der Fabrikbelegschaften aufbaut, wird der Slum zum zentralen Ort der Reproduktion der Industriearbeiterklasse werden. Mit anderen Worten, der Slum ist kein gesellschaftlicher Randbereich (»marginal«), sondern er steht im Zentrum der Kapitalakkumulation, und im Zentrum des Konstitutionsprozesses der Arbeiterklasse.

Auch die Arbeitskraft im informellen Sektor setzt sich damit neu zusammen. Sie besteht nicht mehr in erster Linie aus den vom Land kommenden bäuerlichen Familien, sondern aus ehemaligen FabrikarbeiterInnen. Das verdeutlicht die Aufschlüsselung der statistisch erfaßten Arbeitslosen nach ihrer beruflichen Herkunft: stammten 1960 noch 21,7% aus der Landwirtschaft, 13,2% aus der Produktion und 6,3% aus dem Verkaufsbereich, so hat sich diese Situation 1980 umgekehrt - 3,6%, 57,7% und 14,4%. Die Verschiebungen in dem Dreieck Landwirtschaft-Fabrik-Slum, die sich in den 80er Jahren zuspitzen, bilden den Kern der zunehmenden Klassenpolarisation: sowohl die selbständigen Existenzformen in der informellen Ökonomie sehen sich unmittelbarer mit dem Kapital konfrontiert, wie auch die verarmten Bauern auf dem Land, die nur noch als Arbeiterbauern oder in Abhängigkeit von der Fabrikarbeit ihrer Kinder überleben können.

(Dies sind die zugespitzten Thesen einer koreanischen Studie, aus der die hier angeführten Angaben zur Slumbevölkerung stammen. Sie setzt sich explizit mit politischen Konzepten auseinander, die die Slumbevölkerung als »marginale Klasse« betrachten und von daher zur reformistischen Forderung nach sozialstaatlicher Versorgung der Armut als »sozialer Schicht« gelangen. Dies ist z.B. die typische Sichtweise kirchlicher Unterstützergruppen.)

Mobilität und Aufstiegshoffnungen

Fabrikarbeit in Südkorea ist auch in den modernsten Sektoren weit entfernt davon, mit den hiesigen Formen 'garantierter Beschäftigung' vergleichbar zu sein. Das immer noch sehr geringe Durchschnittsalter der FabrikarbeiterInnen (verarbeitende Industrie, 1982: Männer 32, Frauen 24 Jahre) spiegelt einerseits die rasante Ausweitung der industriellen Ausbeutung wieder, beruht aber auch auf dem raschen Generationswechsel in den Fabriken, der schon durch die extrem langen Arbeitszeiten und die hohe Rate der Arbeitsunfälle und -krankheiten bedingt ist. Trotz einiger sozialstaatlicher Ansätze, die kaum das Niveau der Bismarckschen Reformen erreichen, gibt es daher in Südkorea absehbar keine Überlebensperspektive als Fabrikarbeiter - schon gar nicht als Arbeiterin.

Die Ausweitung der nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigung führt kaum zu einer Stabilisierung der Beschäftigungsverhältnisse. Im gleichen Maße wie die statistische Gruppe der 'Dauerbeschäftigten' wächst auch die Gruppe der 'Zeit- und Tagesbeschäftigten' an. 1983 stehen 4,5 Millionen Dauerbeschäftigten knapp 2 Millionen Zeit- und Tagelöhner gegenüber. Aber der Begriff 'Dauerbeschäftigte' ist irreführend: die durchschnittliche Beschäftigungsdauer in der verarbeitenden Industrie beträgt (1982) für Männer 3,7 und für Frauen 2 Jahre.

Was dem koreanischen Industriesystem in seiner Aufschwungphase (neben der Repression) angesichts dieser Lebensbedingungen eine gewisse Stabilität verliehen hat, waren die an die Expansion geknüpften Aufstiegshoffnungen. Die hohe Fluktuationsrate in der Industrie (monatlich 6-7%) ist Ausdruck der ständigen Suche nach besseren Arbeitsgelegenheiten. Die extreme Staffelung der Löhne für gleichartige Arbeiten nach individuellen Kriterien wie Arbeitsdisziplin, Firmentreue oder Schulbildung bestätigt zunächst einmal die Hoffnungen auf individuelles Fortkommen. Daher werden auch so große Hoffnungen auf eine Schulbildung gesetzt und selbst die ärmsten Familien versuchen, wenigstens einen Sohn auf die weiterführenden Schulen zu schicken.

Der Kern dieser Hoffnungen besteht darin, eines Tages dem Dasein als Arbeiter entfliehen zu können. Das gilt auch für einen großen Teil der jungen Arbeiterinnen, die diese Hoffnungen auf die Heirat des richtigen Mannes richten. Umfrageergebnisse, nach denen sich die Mehrheit der südkoreanischen Bevölkerung als Mittelstand begreift, drücken nichts anderes als diese Hoffnung aus, endlich mit der Quälerei in der Fabrik Schluß machen zu können. Dieser Mythos bricht dann zusammen, wenn die bessere Schulausbildung, der Job bei einer großen Firma und selbst der relativ hohe Lohn in einem Automobilwerk oder auf der Werft aus dem Dasein als Arbeiter nicht herausführen; wenn klar wird, daß sie dich genauso wie zehntausende Arbeiter um dich herum um diese Hoffnungen betrogen haben. Es ist daher nicht so verwunderlich, daß die härtesten Kämpfe des Sommer 1987 gerade in solchen Industriesektoren stattfanden, die bislang als privilegiert und befriedet galten; und daß sich die Kämpfe gerade hier ausdrücklich gegen den Individualismus, die Konkurrenz, die Spaltungen untereinander richteten.

Die Streikwelle im Sommer 1987

»Spontan, führerlos und offenbar jenseits irgendeiner institutionellen Kontrolle ...« (Korean Herald, 19. August 87)

Aber die Streiks des Sommers bleiben nicht auf die Schwerindustrie oder irgendeinen besonderen Sektor beschränkt. Selbst Golfjungen auf einem Platz für die Oberschicht aus Seoul treten in den Streik. Im Kuro-Gebiet hatte das Kapital schon über Arbeitskraftprobleme gejammert, bevor es im August auch dort zu Streiks kommt. Ein koreanisches Wirtschaftsblatt berichtet, »daß es etwa vielen Textilfabriken ... immer schwerer fällt, überhaupt noch Beschäftigte zu finden. In der Kuro-Industriezone im Süden Seouls hätten sich beispielsweise nur 15 junge Frauen auf ein Inserat gemeldet, mit dem 200 Fließbandarbeiterinnen gesucht wurden.« (Wirtschaftswoche, 28.8.87)

»Werft- und Bergarbeiter, Busfahrer und selbst Popsänger veranstalteten Proteste, und kleine Firmen wurden genauso hart wie die großen getroffen. In Inchon, einer Hafenstadt westlich von Seoul, brachten Auseinandersetzungen kürzlich den Betrieb in über 20 Klein- und Mittelbetrieben zum Erliegen, einschließlich Maschinen-Werkstätten und Herstellern von Fahrstuhlteilen, Möbeln und Musikinstrumenten ...
'Es ist wie ein Buschfeuer', sagt ein Aktivist. 'Es entsteht an einem Ort und verlöscht vielleicht wieder. Aber bevor es verlöscht, bricht es woanders aus. Wenn es in einer großen Firma ausbricht, springt es auf die Tochterfirma (Zulieferer) über. Und wenn es dort zurückgeht, hat es sich bereits auf eine andere Tochterfirma ausgeweitet.'« (Korean Herald 19.8.87)

Das koreanische Akkumulationsmodell beruht darauf, daß es den großen mit dem ausländischen Kapital verbundenen Konzernen gelingt, über Zulieferstrukturen beträchtliche Mehrwertmassen aus den Kleinbetrieben und Teilen des informellen Sektors abzuziehen. Auf diese Weise konnten sie bisher diesen Abschnitt der Arbeiterklasse kontrollieren, ohne sich direkt mit ihm konfrontieren zu müssen. In der Streikwelle werden die Konzerne aber gerade auch von diesem Klassenteil, der weit schlechteren Arbeitsbedingungen und Löhnen ausgesetzt ist, massiv unter Druck gesetzt. Montagezentren müssen dicht machen, weil Teile fehlen - oder Streikbewegungen springen von dort auf die Kleintriebe über, so daß die Produktion weiterhin blockiert bleibt. Die Hyundai-Automobilfirma rühmt sich ihrer produktiven Zulieferstrukturen: die Lagervorräte an Montageteilen reichen für höchstens 1 1/2 Tage. Dieses Niveau von produktiver Kooperation haben die Arbeiter jetzt in schachbrettartigen Streikbewegungen zur Blockade des Verwertungsprozesses eingesetzt. In Ulsan und Umgebung befinden sich zeitweise 4000 Klein- und Mittelbetriebe, die mit dem schwerindustriellen Industriekomplex von Hyundai verbunden sind, im Streik, oder müssen die Produktion unterbrechen.

Für den Zeitraum 25. Juli bis 25. August schlüsselt das Wirtschaftsministerium die Produktions- und Exportverluste wie folgt auf (KH, 28.8.):

»Am stärksten getroffen wurde die Automobil- und Autoteileindustrie mit 265,6 Mrd. Won Produktionsverlusten, gefolgt vom Schiffsbau mit 101,5 Mrd., der Elektronikindustrie mit 80,4 Mrd., der Stahlproduktion mit 29,1 Mrd. und der Chemischen Industrie mit 27,7 Mrd. Won.
Auch beim Export ist es die Automobilindustrie, die mit 149,2 Mill. $ die größten Exportverluste erleidet. Bei der Elektronikindustrie sind es 39,7 Mill., beim Schiffsbau 21,3 Mill. und bei der Textilindustrie 17,1 Mill. $.«

Der Kampf um Klasseneinheit

Bei fast allen Streikbewegungen, über die wir Genaueres wissen, stellen die ArbeiterInnen Festgeldforderungen auf. In den hiesigen Medien ist das oft wieder in Prozentsätze umgerechnet worden, was das Bild verfälscht. Da die Lohnfrage oftmals erst an zweiter Stelle hinter der 'Forderung' steht, mit den Spaltungen und der Konkurrenz unter den ArbeiterInnen Schluß zu machen, muß diese Form der Lohnforderung als bewußter Angriff auf die extreme Staffelung der Löhne verstanden werden.

Um die Frage einheitlicher Löhne geht es auch bei der Streikbewegung in Ulsan. Ein Grund für die Härte dieser Auseinandersetzungen ist die Weigerung der Hyundai-Konzernspitze, sich auf zentrale Lohnverhandlungen einzulassen. Jede Firma sollte unter Berücksichtigung ihrer 'Gewinnsituation' gesonderte Lohnerhöhungen aushandeln. Erst als die Regierung am 18. August direkt eingreift, da die Militanz dieses Kampfes aufs ganze Land ausstrahlt, willigt der Konzern in zentrale Verhandlungen ein. Diese Anerkennung der Gewerkschaft und die scheinbar auf der Seite der Arbeiter stehende Regierungsvermittlung verhindern es aber nicht, daß noch am selben Tag 4000 Arbeiter eine Protestversammlung gegen diesen Kompromiß durchführen.

Der Kampf gegen die verschiedenen Formen der Spaltung muß in gleichem Maße, wie er sich gegen das Kapital richtet, innerhalb der Klasse ausgetragen werden. In vielen Situationen ist dies auf äußerst militante Weise geschehen. In der Metallfabrik von GoldStar in Seoul hindern Arbeiter die Angestellten mit Gabelstaplern am Betreten der Firma und es kommt zu Schlägereien. Immer wieder wird über gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Fließbandarbeitern und Angestellten berichtet. Bei den Streiks der Taxifahrer werden Selbstfahrer, die weiterarbeiten, mit Steinen angegriffen und ihre mühsam ersparten Fahrzeuge demoliert.

Für die Arbeiterinnen, die seit den 70er Jahren die führende Rolle in den Kämpfen gegen die exportorientierte Industrialisierung einnehmen, ist die Auseinandersetzung mit den männlichen Angestellten nichts Neues. Auch im letzten Sommer versuchen die Firmen der Textil- und Elektronikindustrie, Krankenhäuser oder Hotels, männliche Arbeiter oder angeheuerte Schläger gegen die Streikenden einzusetzen. Auffällig ist aber auch, daß in mehreren Pressekommentaren die besondere Bedeutung der Frauendiskriminierung herausgestrichen wird. Mangels genauerer Informationen zitieren wir zur Beteiligung und Rolle der Frauen - sowohl als Arbeiterinnen wie als Familienangehörige - aus einem Brief des »Koreanischen Arbeiterinnen-Komitees«, das sich im März 87 als Abspaltung aus dem »Rat für Arbeiterwohlfahrt« bildete.

»Besonders bemerkenswert ist die breit entfaltete Beteiligung der Arbeiterfamilien an den Kämpfen im Juli und August. Wie bereits bekannt wurde, nehmen die Frauen der Bergarbeiter seit drei Jahren eine sehr aktive Rolle im Kampf ein. Sie spornten ihre Männer zu Streiks und Besetzungen an, wurden früher als die Männer aktiv und führten die Kämpfe an. Auch dieses Jahr waren es mehr noch als die Männer die Frauen, die einen ausgezeichneten Kampf führten. Sogar die Schulkinder haben sich an diesen Kämpfen beteiligt, wobei sie die Kleinkinder auf dem Rücken oder im Arm mit sich trugen. Dabei wurden die Landstraßen und Schienen für den Kohletransport besetzt und inmitten von Tränengasschwaden äußerst harte Kämpfe geführt. Diese Ereignisse bildeten einen Anstoß für die Frauen der Taxifahrer, die Frauen und Familienangehörigen der Fabrikarbeiter, für die Krankenschwestern, die Arbeiterinnen in den Kaufhäusern und die BüroarbeiterInnen, und auch für die Angestellten bei der Koreanischen Industrie-und-Handelskammer und der Koreanischen Handelsgesellschaft. Seit einer gewissen Zeit gibt es Dienstleistungs-Firmen, die selbst keine Arbeitskraft verwenden, sondern die Leute nur einstellen und dann als Arbeitskraft zu anderen Firmen schicken . Dadurch werden diese ArbeiterInnen doppelt ausgebeutet (da sie von ihrem Lohn eine Vermittlungsgebühr an diese Firmen zahlen müssen). Auch diese ArbeiterInnen (z.B. Hilfspolizisten, Putzfrauen und -männer, Wachpersonal und ArbeiterInnen bei den Fluggesellschaften NWA und JAL) haben für die Abschaffung ihrer doppelten Ausbeutung gekämpft. Und es gab Streiks der ArbeiterInnen in den Restaurants.«

Streiks für Gewerkschaften und gegen Kontrolle?

Die Forderung nach 'freien Gewerkschaften' steht neben den Löhnen und Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt der meisten Streikbewegungen. Die neue Gewerkschaftsbewegung erhält ungeheuren Auftrieb. Seit Anfang Juli entstehen über tausend neue Gewerkschaften, in 4000 Betrieben wird um die Demokratisierung der bestehenden Gewerkschaften gekämpft. Bis Anfang September bekommen die Gewerkschaften 363 760 neue Mitglieder und von den insgesamt 900 000 Mitgliedern des Koreanischen Gewerkschaftsbundes gehören über 40% den neuen Gewerkschaften an.

Aber die Streikwelle des Sommers wird keineswegs von einer funktionierenden gewerkschaftlichen Vermittlung bestimmt:

»Die grundsätzliche Misere des hiesigen Gewerkschaftswesens ist sein Mangel an legitimierter und übereinstimmender Organisation und Führerschaft. Die alten Gewerkschaftsapparate sind diskreditiert und schwach. Neue Organisationen und Führungen, die die Situation unter Kontrolle halten und frei verhandeln können, müssen erst noch entstehen. Unter diesen Bedingungen können Splittergewerkschaften und Wildcat-Streiks zwangsläufig gut gedeihen.«

Diese Bemerkung stammt aus einem Kommentar zum Lohnabschluß bei der Daewoo-Werft auf der Insel Koje. Besonders gerühmt wird der beteiligte Gewerkschaftsvorsitzende, da er sich von 'extremistischen' Kräften unter den Arbeitern nicht habe einschüchtern lassen. Dieser als 'links' geltende Gewerkschafter wird von einem Teil der Arbeiter an zwei Punkten massiv angegriffen: Während des Streiks wird ein Werftarbeiter von der Polizei getötet, was zu landesweiten Protesten, Straßenschlachten und der Aufforderung zum Generalstreik führt. Daß die neue Gewerkschaft trotzdem zu einem schnellen Lohnabschluß kommt, gilt dem Regime als bemerkenswerte Bereitschaft, sich an einer politischen Beruhigung der Situation zu beteiligen - aber einem Teil der Arbeiter als politische Bankrotterklärung. Zum zweiten trifft der Lohnabschluß, der übrigens durch Vermittlung zweier prominenter oppositioneller Kirchenleute zustande kam, auf den Widerstand der Arbeiter, weil er außer der niedrigen Höhe auch neue Spaltungslinien enthält. Zunächst fordern die Arbeiter eine Lohnerhöhung von 175 DM (bei einem Durchschnittslohn von 640 DM). Die Gewerkschaft vereinbart mit der Unternehmensleitung 110DM, die aber einen Familienzuschuß von knapp 40 DM enthalten, den nur verheiratete Arbeiter bekommen. Arbeiter, die vor dem Hospital den Leichnam des getöteten Arbeiters bewachen, quittieren den Abschluß mit Pfiffen, einige tausend Unverheiratete protestieren gegen das Spaltungsmanöver.

Weder den alten noch den neuen Gewerkschaften oder Vertretern gelingt unmittelbar eine wirksame Kontrolle - in allen Bereichen kommt es nach bereits ausgehandelten Abkommen und vorübergehender Wiederaufnahme der Arbeit erneut zu Streiks, bei denen dann auch die »neuen« Vertreter wieder in Frage gestellt oder als »unternehmerfreundlich« in die Wüste geschickt werden. Auch wenn die Streiks immer »für« gewerkschaftliche Organisierung geführt werden, so sind sie im Kern Kämpfe »gegen« die existierenden Gewerkschaften oder Vermittlungsinstanzen. Die Hoffnungen des koreanischen und internationalen Kapitals richten sich auf die Herausbildung eines funktionierenden Gewerkschaftswesens. Und viele der neuen Führer haben einen Vorgeschmack davon gegeben: sie beteiligen sich an der Hetze gegen 'auswärtige Radikale', vereinbaren Überstunden zum Nacharbeiten der Streikverluste usw. Aber trotz der durchschnittlichen Lohnerhöhungen von 20% ist allen klar, daß sich erst in diesem Frühjahr zeigen wird, ob diese Gewerkschaften die Arbeiter kontrollieren können oder ob sich der Lohndruck explosiv ausweitet. Der koreanische Staat ist noch weit davon entfernt, die Klasse mit sozialstaatlichen Instrumenten integrieren zu können. Und die Tatsache, daß die Streiks im letzten Sommer nicht auf einzelne Sektoren oder ArbeiterInnengruppen beschränkt blieben, spricht gegen eine absehbare Stabilisierung der Gewerkschaften als Facharbeitervertretung, wie sie sich in Europa durchgesetzt hat. Gewerkschaftlicher Reformismus, proletarischer Riot oder revolutionärer Aufstand - diese Frage ist noch längst nicht entschieden.

Demokratische Übergangsphase oder Revolution

Diese Fragen stehen auch im Mittelpunkt der Diskussion unter den revolutionären Kräften in Südkorea. Sie werden sowohl an den Universitäten wie innerhalb der Untergrundzirkel in den Fabriken oder den Slums diskutiert. Im Rahmen dieser Diskussionen hat sich in den letzten Jahren eine Kontroverse zwischen zwei Hauptströmungen, die sich beide in gewissem Sinne als leninistisch verstehen, herausgebildet. Sie ist bis Anfang 1987 sehr heftig und manchmal auch handgreiflich ausgetragen worden, und wurde dann unter dem Eindruck der Ausweitung zur Massenbewegung zurückgestellt. Im Rahmen des Junikampfes und der Streikwelle haben sich manche Streitpunkte dieser Kontroverse verschoben und Gruppierungen neu zusammengesetzt, weshalb die folgende Skizzierung gegenüber den aktuellen, konkreten Diskussionen zu grob bleiben muß.

Die beiden ideologischen Hauptströmungen werden als »Minmintu« und »Chamintu« bezeichnet. Der Kern ihrer Differenz besteht in dem Vorrang, den sie entweder der sozialen oder der nationalen Frage geben. Für Chamintu steht die nationale Frage an erster Stelle, d.h. die Wiedervereinigung und Befreiung vom Imperialismus hat Priorität gegenüber der Austragung des inneren Klassengegensatzes. Theoretisch wird dafür eine Analyse bemüht, nach der die koreanische Gesellschaft ein völlig vom Imperialismus abhängiger staatsmonopolistischer Kapitalismus ist, der noch auf feudalistischen Strukturen beruht und keine entwickelte Arbeiterklasse aufweist. Begründet wird damit das Konzept eines taktischen Bündnisses mit der nationalen Bourgeoisie und der bürgerlichen politischen Opposition, wie es ein Teil der Studenten im Rahmen des Wahlkampfs mit Kim Dae Jung zu praktizieren versuchte. Die Wiedervereinigung ist für Chamintu der Schlüssel für die soziale Befreiung, weil Nordkorea für sie bereits ein befreites Land ist.

Die Frage der Wiedervereinigung hat für beide Strömungen einen hohen Stellenwert. Die Spaltung der koreanischen Nation nach dem II. Weltkrieg ist nicht zu trennen von der Niederschlagung einer breiten sozialrevolutionären Bewegung. Mit dem Koreakrieg erstickten die USA diese Revolution in Blut und Asche. Die Frage der Wiedervereinigung verkörpert daher in der aktuellen Auseinandersetzung nicht nur die nationalistischen Gelüste der bürgerlichen Opposition, sondern auch den Bezug auf eine revolutionäre Tradition. Minmintu sieht aber in Nordkorea nicht die Verwirklichung dieses revolutionären Anspruchs und macht daher die Frage der Wiedervereinigung vom revolutionären Prozeß in Südkorea abhängig. Sie schlagen die direkte Konfrontation der Arbeiterklasse mit dem nationalen Kapital vor und lehnen jedes taktische Bündnis mit der bürgerlichen Opposition ab. In der Wahlkampfzeit propagierten einige Gruppen dieser Strömung den Wahlboykott.

Obwohl Minmintu die erste Strömung war, die sich aus den Diskussionen um Kwangju herausbildete, geriet sie mit zunehmender Ausweitung der Massenbewegung in die Defensive, da das Bündniskonzept von Chamintu in dieser Phase attraktiver und populärer werden konnte. Teile der Studenten setzten ihre Hoffnungen auf die Kandidatur von Kim Dae Jung, obwohl selbst reformistische Kräfte vor dieser »philippinischen Lösung« warnten. Die reformistischen Illusionen wurden vor und nach den Wahlen im Dezember empfindlich getroffen. In den Monaten vor den Wahlen wurden z.B. 500 Arbeitermilitante inhaftiert. Nun scheint Minmintu wieder größeren Einfluß zu gewinnen. Ihr Festhalten an der Aktualität der Revolution bleibt politisch konsequent, auch wenn es durch die soziologische Prognose nicht gestützt wird. Revolutionärer Theorie kann es nie darum gehen, die Prognose des Kapitals zu betreiben und damit eine Position des Abwartens einzunehmen. Die Klassenkämpfe in Südkorea sind ein Moment des internationalen Angriffs auf das Kapital, der die sogenannte »Neue internationale Arbeitsteilung«, also das Konzept einer neuen Verwertungspyramide zum Einsturz zu bringen droht. Die jetzt mit der Dollarschwäche eingeleitete Krise, protektionistische Maßnahmen usw. sind der Versuch, den Gleichschritt des Klassenkampfs in verschiedenen Ländern wieder zu unterbrechen. Die Perspektive der koreanischen Revolution kann sich nur in dieser internationalen Zusammensetzung entscheiden.


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