Wildcat Nr. 45 - Sommer 1988 - S. 58-64 [w45sskb2.htm]


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Beschwerdezentren - 10 Jahre gegen die Psychatrie

Teil 2

Ob Anstalt oder Wissenschaft - die Psychiatrie gehört abgeschafft!

In der letzten Nummer der wildcat haben wir die Politik und Erfahrungen des Psychiatrie-Beschwerdezentrums dargestellt. Ergebnis dieser Kämpfe sind heute Reformen. Das Ziel war und ist es jedoch, die Psychiatrie zurückzudrängen und letztlich abzuschaffen. Die Forderung nach Abschaffung der Psychiatrie ist häufig auf Unverständnis gestoßen und war auch in Anti-Psychiatrie-Gruppen umstritten. Obwohl mittlerweile weithin bekannt ist, mit welchen Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie behandelt wird, ist der Mythos von den Geisteskrankheiten, die medizinische Hilfe erfordern, immer noch verbreitet. Die alltägliche Erfahrung, auf Ärzte und medizinische Einrichtungen zurückgreifen zu müssen, verhindert häufig eine radikalere Kritik und Infragestellung von Psychiatrie und Medizin. Die Forderung nach Abschaffung der Psychiatrie kling(k)t genauso utopisch wie die Behauptung, daß es die Tendenz des Klassenkampfs ist, die Arbeit abzuschaffen. Diese Parallele ist unserer Ansicht nach kein Zufall: hinter jeder noch so reformerischen Rechtfertigung der Psychiatrie steckt letztlich die Auffassung, die Aufrechterhaltung des Arbeitszwangs sei eine Naturnotwendigkeit.

Psychiatrie und Arbeitszwang

Die Psychiatrie war von Anfang an Teil des Repressionsapparates, mit dem der Zwang zur Arbeit durchgesetzt wird. Die meisten deutschen Klapsen wurden zwischen 1860 und 1910 gebaut. Infolge der Industrialisierung sammelten sich Massen von Armen in den Städten. Um sie unter Kontrolle zu halten und die Industriearbeit durchzusetzen, wurde ein Teil von ihnen in Arbeits-, Zucht-, Korrektionshäusern und Irrenanstalten eingesperrt. Ziel war dabei die möglichst billige Unterbringung, die Ausbeutung des Restes von Arbeitsfähigkeit und vor allem Abschreckung. Das Elend und die Unterdrückung hinter den Mauern gilt als Warnung an die MalocherInnen draußen: wer Arbeit und Armut nicht stillschweigend erträgt, kommt in Knast oder Klapse und muß dort noch Schlimmeres ertragen.

An diesem Prinzip hat sich nichts geändert. Schon kleinen Kindern wird mit der Klapse gedroht, wenn sie nicht »artig« sind. Das sind keine leeren Drohungen. Kinder, die sich gegen die Schule wehren, landen schnell in der Jugendpsychiatrie.

Schon manche Auseinandersetzung mit dem Chef bei der Arbeit hat über Betriebsarzt oder Bullen zu einer Zwangseinweisung geführt.

Wer alleine bei einer Behörde Krach schlägt, muß ebenfalls damit rechnen, sich in der Klapse wiederzufinden. Dazu muß man noch nichtmal einen Schreibtisch abräumen oder sonstwie handgreiflich werden. So heißt es in dem Einweisungsbericht einer Frau, die nach einem Besuch beim Sozialamt verschleppt wurde: »Frau W. wurde von uns lautstark, in unsachlicher Weise diskutierend angetroffen. Es handelt sich bei ihr um eine abnorme Persönlichkeit mit hysterisch-querulatorischen Zügen. Die Einweisung ist unabweislich. Außerhalb einer geschlossenen Abteilung ist mit Wiederholungen ihrer Fehlverhaltensweisen zu rechnen.«

Wenn ein Vermieter »unordentliche« Mieter raussetzen will, was auf dem Weg der Räumungsklage nicht gelingen könnte, dann holt er sich eben das Gesundheitsamt: Zwangseinweisung wegen Verwahrlosung (ist rechtlich eigentlich kein Einweisungsgrund, passiert aber ständig).

Und auch für viele Familienstreitigkeiten ist die Klapse die ideale Lösung: wenn die Erben schon zu Lebzeiten an Omas Häuschen ranwollen, dann wird sie eben entmündigt und weggesperrt. Wer eine lästige Ehefrau loswerden will, findet bestimmt einen Psychiater, der sie für verrückt erklärt. Wenn Eltern es nicht mehr schaffen, ihre Punkerkinder ans Lernen und Arbeiten zu bringen, dann wird ihnen die Klapse schon dabei helfen (Einweisungsgrund z.B.: »Dissoziales Verhalten und Gefährdung durch Drogenmißbrauch«).

Wer nie in einer Klapse war, hat meist das Klischeebild vom Irrenhaus im Kopf: lauter völlig abgedrehte Leute, die nur wirres Zeug erzählen, rumklinken, gefährlich sind ... Wer dagegen mit Insassen redet, wird sich wahrscheinlich wundern, wie »normal« dort die meisten sind (und bald kapieren, daß die roboterartigen Bewegungen, der trübe Blick oder die Wutausbrüche nichts anderes sind als eine Folge von Käfighaltung und chemischer Zwangsjacke). Der Klapse gingen die alltäglichen Probleme des MalocherInnenlebens voraus: keine Kohle, Haß auf Arbeit, aus Arbeit und Wohnung rausgeflogen, kaputte Ehe usw. Reiche Leute triffst du dagegen fast nie in der Klapse. Die können ihre Verrücktheiten austoben, wie sie wollen, ohne dafür weggesperrt zu werden. In schwachen Minuten geben Klapsenpsychiater übrigens manchmal selbst zu, daß sie ja die Hälfte der Verrückten entlassen könnten, wenn sie nur Wohnungen hätten. Der Mythos vom Irrenhaus als Ort des »unheimlichen Wahnsinns« wird als Abschreckung gebraucht. Der Zwang zur Normalität, zum reibungslosen Funktionieren als MalocherIn, wirkt hier diffuser und geht noch weiter als beim Knast. Für Haftstrafen gibt es klare Regeln und Gesetze, bei was wir uns erwischen lassen dürfen, und bei was nicht. Ins Irrenhaus können sie dich dagegen schon wegen kleinster Auffälligkeiten und Störungen von Ruhe und Ordnung stecken. Die meisten wissen noch weniger, was sie dort erwartet, der Entlassungszeitpunkt ist ungewiß und ein amtlich anerkannter Verrückter hat wesentlich mehr Schwierigkeiten als ein Ex-Gefangener.

Therapieziel: Arbeitsfähig und -willig

So wie die psychiatrische Aussonderung die Funktion hat, die Arbeitswilligkeit draußen aufrechtzuerhalten, wird auch drinnen »therapiert»: die Zwangsarbeit heißt heute vornehm Arbeitstherapie. In den rheinischen Irrenanstalten arbeiten 40% der Insassen. Sie machen Auftragsarbeiten für Industriebetriebe oder halten mit Hausarbeit den Anstaltsbetrieb aufrecht.

Im Faschismus war die Arbeitsfähigkeit das Selektionskriterium: »Unheilbar und nicht mehr arbeitsfähig im Sinne produktiver Arbeitsleistung« - diese Diagnose wurde für viele Irre zum Todesurteil. Heute wird die Arbeitsfähigkeit häufig zum Entlassungskriterium gemacht. Wer entlassen werden will, muß sich diese Gnade durch Maloche für Pfennigbeträge verdienen. Die Insassen werden außerdem mit dem Entzug von anstaltsinternen Vergünstigungen zur Arbeit gezwungen. Wer sich weigert, sich dermaßen ausbeuten zu lassen, bekommt zur Strafe mehr Medikamente, Ausgangssperre, Besuchsverbot oder wird auf schlimmere Stationen verlegt. Außerdem machen viele die Arbeit »freiwillig«, weil sie die einzige Möglichkeit ist, dem öden Stationsalltag zu entfliehen und wenigstens ein paar Mark zu verdienen.

Dämpfungsmittel und Arbeit - das sind die wichtigsten Behandlungsmethoden der Psychiater für die angeblich Kranken. Behandlungsziel: die Zurichtung zum willigen Malocher. Dazu heißt es in einem internen Papier des LVR (Landschaftsverband Rheinland, Träger der rheinischen Klapsen) von 1985:

»Der steigenden Beachtung und Anerkennung der Arbeitstherapie hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Rechnung getragen durch das Einsetzen einer Expertenkommission, die mit den 'Leitlinien zur Arbeitstherapie in psychiatrischen Krankenhäusern' ein Grundsatzpapier herausgegeben hat. Darin wird festgestellt:

'Arbeitstherapie ist ein wesentliches Element stationärer psychiatrischer Behandlung. Arbeitstherapie trägt dazu bei, die Krankheit zu erkennen, zu heilen, zu lindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten.'

Die Behandlungen in dem psychiatrischen Krankenhaus sollen den psychisch Kranken instandsetzen, ein möglichst störungsfreies und wenig beeinträchtigtes Leben als integriertes, akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft wieder aufzunehmen.

Indem die Arbeitstherapie möglichst realitätsgetreue Arbeitssituationen darstellt, gibt sie dem Patienten die Gelegenheit, mit den Erfordernissen der Arbeitswelt unter dem Schutz und Betreuung des Therapeuten vertraut zu werden, seine krankheits- bzw. behinderungsbedingten Fähigkeiten wie auch Einschränkungen im Arbeitsbereich einzuschätzen, eine subjektiv und objektiv realistische Selbstwahrnehmung und Berufsperspektive zu entwickeln, wie auch die Teilnahme am Arbeitsleben zu üben. Ein sehr wichtiges therapeutisches Element ist dabei die Entlohnung. Beim Patienten wird dadurch der gesellschaftlich vorgegebene Zusammenhang zwischen Erfüllen von Normen des Arbeitslebens und finanzieller Vergütung verdeutlicht (Hervorhebungen von uns)

Eine Krankheit, die durch Arbeit »erkannt und geheilt« werden kann?? Deutlicher können sie wohl nicht sagen, was sie unter »psychischen Krankheiten« verstehen: die bestimmten Formen der Arbeitsunwilligkeit! Die bewußte oder (meist) unbewußte Rebellion gegen den herrschenden Arbeitszwang soll in der Klapse als »Krankheit« wegtherapiert werden. Dabei gehen die »möglichst realitätsgetreuen Arbeitssituationen« noch um einiges über die Realität der Arbeit draußen hinaus. Für Insassen gilt kein Arbeitsrecht, sie arbeiten für Pfenniglöhne (max. 150 Mark/Monat), und sie sind in unvergleichbar stärkerem Ausmaß von ihrem Ausbeuter, der Anstalt abhängig. Die Bestrafungsmöglichkeiten bei schlechter Arbeit oder Arbeitsverweigerung betreffen nicht nur Arbeitsplatz und Einkommen, sondern das gesamte Leben der Internierten. Diese verschärfte Zwangslage ist tatsächlich dazu geeignet, »Einschränkungen im Arbeitsbereich einzuschätzen« und die gewünschte »realistische Selbstwahrnehmung« zu entwickeln: Daß du als ArbeiterIn nichts zu melden hast, keine Ansprüche stellen darfst, besser die Klappe hältst und alle Zumutungen stillschweigend malochend erträgst, weil sonst schlimme Strafen drohen. Und der »Zusammenhang zwischen dem Erfüllen von Normen des Arbeitslebens und finanzieller Vergütung«? Für wenig Geld viel arbeiten müssen, diese Erkenntnis ist das Therapieziel. Wer wegen Krach mit dem Chef in die Klapse verfrachtet wurde und dann lange genug dieser Therapie unterworfen war, der wird danach erstmal froh sein, wieder in einem normalen Ausbeutungsverhältnis draußen zu stecken - und sich nicht mehr so schnell über irgendetwas beschweren.

Frohes Schaffen in der therapeutischen Alternativklitsche

Eine gängige Kritik an der Arbeitstherapie bezieht sich auf die Art der Arbeiten, besonders auf die stumpfsinnigen Industrieaufträge. Hier sind die klassischen Strafarbeiten zu finden: Tüten und Pappe kleben, Wäscheklammern und Kugelschreiber zusammenbauen, Knöpfe, Nadeln und andere Kleinteile in Dosen einzählen usw. Die Kritik, dies wäre nicht »therapeutisch«, ist zwar öffentlichkeitswirksam, geht aber an der Sache vorbei. Denn diese Arbeit ist tatsächlich therapeutisch, Anpassungstherapie im eben beschriebenen Sinn. Und welches andere Therapieziel sollten sie mit Arbeit verfolgen?

Die Psychiatrie geht allerdings auf die öffentliche Kritik ein und benutzt sie, um ihre Arbeitstherapie zu effektivieren. Zunehmend werden auch »alternative« Arbeitsfelder erschlossen: biodynamischer Anbau, Biobäckereien, Fahrradwerkstätten usw. Die Arbeitstherapie, die Einpassung in den Arbeitszwang wird durch diesen Bezug auf die grün-alternative Utopie einer arbeitsintensiven Gesellschaft wieder akzeptabel, da es schließlich um den Zwang zu »sinnvoller und ökologischer« Arbeit geht. Und Dörner begründet ausführlich, warum die »agrarische und handwerkliche Kultur des Arbeitens den Besonderheiten psychisch kranker Menschen eher entspricht«. Denn: »Die Normierung durch die Stechuhr ist sein innerer Tod.« (Gesund ist demnach, wer die Stechuhr aushält!) Die DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie) als Lobby der Reformpsychiater propagiert die Ausbeutung von Irren in Alternativklitschen seit Jahren und mit Erfolg. Unter ihrer tatkräftigen Hilfe sind bereits einige aufgebaut worden (s. Broschüren des Arbeitskreis Firmen in der DGSP). Auf diese Weise wird zusammen mit Behindertenwerkstätten u.ä. ein besonderer Ausbeutungssektor ausgebaut, in dem die Spaltung vom Rest der Klasse festgeschrieben werden soll. Kämpfe in diesem Sektor sind dadurch erschwert, daß den ArbeiterInnen ständig klargemacht wird, daß sie als »Kranke« für diesen Arbeitsplatz und den miesen Lohn noch dankbar sein müssen. Diese besonderen Betriebe »sind unerläßlich für Menschen, die zwar arbeitsfähig sind, deren Verletzlichkeit aber so stark ausgeprägt ist, daß sie zum gegebenen Zeitpunkt für den freien Arbeitsmarkt nicht in Betracht kommen.« (Dörner)

Innerhalb der Anstalten kann die Alternativarbeit besonders gut funktionieren, weil sie zusammen mit der fortbestehenden alten Arbeitstherapie, der Industrie- und Hausarbeit, ein Stufensystem bildet. Der individuelle Aufstieg kann so noch besser in den Therapieplan eingebaut werden: Wer in der Biobäckerei nicht spurt, wer die alternative Selbstkontrolle noch nicht verinnerlicht hat und sich z.B. zusätzliche Pausen nimmt (Kriterium auf dem Beurteilungsbogen), der wird eben wieder abgeschoben in den Keller, Tüten kleben ...

Moderne Psychiatrie heute: Die lautlose Vergiftung im psychiatrischen Spinnennetz

Die öffentliche Kritik gab den Anstoß, die Modernisierung und Ausweitung der Psychiatrie, wie sie schon seit Mitte der 70er Jahre (Psychiatrie-Enquete der Bundesregierung) geplant war, in Gang zu setzen. Die breite Kritik richtete sich vor allem gegen die mittelalterlichen Zustände und barbarischen Methoden in den alten Großanstalten, nicht gegen das Psychiatriesystem an sich. Ein guter Anlaß für die Psychiater, Geld für »Alternativeinrichtungen« locker zu machen und ihren Einflußbereich noch zu vergrößern. Dabei kommt ihnen die inhaltliche Kritik an der klassischen Psychiatrie entgegen, die nicht den Herrschaftscharakter von Psychiatrie und Medizin als solchen bloßlegt, sondern das Außerachtlassen einzelner Faktoren bemäkelt. Wenn gesagt wird, daß Gesellschaft oder Arbeit krank machen, greifen sie das inzwischen auf. Unter Berufung auf diese Kritik versuchen sie, die gesamte Gesellschaft psychiatrisch zu erfassen oder Betriebsräte zu Hilfspsychiatern zu machen (s. Kasten). Die Sozialpsychiater träumen schon seit langem von einem Netz von Ambulanzen, Tages- und Nachtkliniken, Kleinstheimen, Beratungsstellen und psychiatrisch-alternativen Ausbeutungsklitschen. Um aufzuzeigen, in welche Richtung die Entwicklung der gemeindenahen Psychiatrie führen würde, wurde von radikalen Kritikern das Bild eines totalen psychiatrischen Überwachungsstaates gezeichnet. Diese Horrorvision war sicher übertrieben. Es wird nicht hinter jedem von uns ein Blockpsychiater als moderner Blockwart mit der Spritze herlaufen. Gerade in den letzten Jahren wird häufiger wieder zur offenen Methode des Bullenknüppels gegriffen. Sozialtechnologie ist schließlich teuer. Dennoch läßt sich eine Ausweitung der Psychiatrie feststellen: mehr Leute kommen in irgendeiner Form mit ihr in Berührung, der Psychopharmakaverbrauch steigt. Schon Schulkinder werden mit Psychopharmaka ruhiggestellt und lernfähig gemacht. Danach können sie gleich weiter schlucken, um die Maloche oder das Hausfrauendasein zu ertragen. In den Tageskliniken, Ambulanzen und Arztpraxen werden sie gut versorgt - die Dealer sitzen überall.

Die offizielle Propaganda behauptet einen Rückgang der psychiatrischen Aussonderung: angeblich gibt es weniger Zwangseinweisungen und Anstaltsinsassen. Dies sind jedoch plumpe Taschenspielertricks mit Zahlen und geschicktere Verschleierungen. Im Rheinland wurden z.B. die Zahlen der Anstaltsinsassen dadurch verkleinert, daß die früheren »Behindertenbereiche« in den Klapsen in »Heilpädagogische Heime« umbenannt und verwaltungstechnisch ausgegliedert wurden. Dieselben Insassen sitzen in denselben Gebäuden - zählen aber nicht mehr mit. Außerdem werden »chronische Fälle« aus den Großanstalten in kleine Heime abgeschoben. Sie werden dort genauso oder noch schlimmer mit Medikamenten vollgepumpt - aber sie haben weniger Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, z.B. Kontakt zu Gruppen draußen aufzunehmen. (In beiden Fällen ist die Unterbringung wegen der niedrigeren Pflegesätze billiger.) Die Zwangseinweisungen wurden dadurch reduziert, daß Eingewiesenen häufiger Formulare vorgelegt werden, in denen sie sich mit ihrer freiwilligen Aufnahme einverstanden erklären - selbstverständlich unter der Drohung, daß sie andernfalls zwangseingewiesen werden.

Die neuen Psychiatrien sind keine »Alternative« für die Anstaltsinsassen. Die Leute, die in den sogenannten Alternativeinrichtungen behandelt werden, stehen meistens von ihrer sozialen Stellung und Lebensbedingungen her besser da als die Insassen der LKHs (Landeskrankenhäuser). Ohne dieses »Angebot« hätten sie ihre Probleme wahrscheinlich auch ohne Psychiater gelöst. Die scheinbare Zwanglosigkeit der netten Therapeuten in der Müslipsychiatrie bricht schnell zusammen, wenn die »Klienten« zu laut und lästig werden und sich nicht an die therapeutischen Anweisungen halten wollen. Tageskliniken und Ambulanzen arbeiten oft eng mit den Klapsen zusammen und betreiben Zwangseinweisungen. Viele, die solche »Hilfe« in Anspruch genommen haben, fanden sich plötzlich in der Klapse wieder oder wurden mit der drohenden Einweisung dazu genötigt, sich jede Woche mit einer Depotspritze vollknallen zu lassen.

Anfang der 80er Jahre hatte sich die DGSP die Forderung nach Abschaffung der Großkrankenhäuser auf die Fahnen geschrieben. Die Wortführer von damals sind heute selbst Chefs solcher Anstalten - und haben es von daher nicht mehr so eilig mit der Abschaffung. Diese persönlichen Karrieren sind jedoch nicht der Grund für den Fortbestand der alten Anstalten. Das Psychiatriesystem braucht die finsteren Gemäuer und Gitter im Hinterland der Reformeinrichtungen (wenn auch nicht mehr in demselben Ausmaß wie früher): als Drohknüppel, um die »freiwilligen Patienten« zum Abholen ihrer gemeindenahen Depotspritze zu nötigen. Wenn hie und da eine Anstalt verkleinert oder geschlossen wird, ist das keine Reduzierung der Psychiatrie, sondern eine Umstellung und Verbilligung: mit demselben Aufwand an Geld und Personal, mit dem hunderttausend Menschen in Anstalten gefangengehalten werden, können gemeindenah Millionen mit der chemischen Zwangsjacke ruhiggestellt werden.

Psychopharmaka sind Mittel der präventiven Aufstandsbekämpfung. Diese Gifte zerstören den ganzen Körper und können tödlich sein. Daß sie die angeblichen Krankheiten nicht heilen können, geben die Hersteller selbst zu. Die Firma Tropon schreibt z.B. über ihre Psychogifte: »Die psychiatrischen Erkrankungen sind mit ihrer Hilfe wenn schon nicht heilbar, so aber doch lenkbarer geworden.« Das ist genau der Sinn der Sache: Menschen lenkbar, gefügig und willenlos zu machen. Statt gemeinsam gegen diejenigen vorzugehen, die dich zu dem beschissenen Leben hier zwingen und daran verdienen, rennst du vereinzelt zum Psychiater und läßt dich volldröhnen, läßt dir vielleicht noch einreden, du seist krank und müßtest jetzt zuallererst gegen deine eigene Krankheit kämpfen. Das ist die perfekte Art, Ruhe, Ordnung und Arbeit durchzusetzen: sie greifen nicht mehr gegen die Ausgebeuteten und Unterdrückten durch, sondern in sie ein.

(Ausführliche Informationen zu Funktion und Auswirkungen von Neuroleptika sind nachzulesen in: P.Lehmann, Der chemische Knebel, Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen, Antipsychiatrie-Verlag, Berlin 1986).

Wer krank ist, braucht Hilfe - ein alter Mythos

Die Psychiater haben schon immer versucht, ihre Foltermethoden als medizinische Hilfe auszugeben. Bei den klassischen Methoden wie Insulin-, Cardiazol- und Elektroschocks oder hirnchirurgischen Verstümmelungen konnte ihnen das noch nicht so recht gelingen. Diese Methoden waren zu offensichtlich barbarisch und zerstörerisch für die »Patienten«. Seit der Entwicklung der Psychopharmaka sind sie einen großen Schritt weiter gekommen. Die Gewalt der chemischen Zwangsjacke ist weit weniger sichtbar.

Psychopharmaka sind jedoch letzten Endes nicht weniger zerstörerisch als die klassischen psychiatrischen Methoden. Und schon die direkt spürbaren Auswirkungen (Bewegungsstörungen, Sprachstörungen, Lähmungen, Speichelfluß usw.) sind dermaßen unerträglich, daß ständig »Patienten« die Einnahme von Psychogiften verweigern. Um derartig qualvolle Behandlungsmethoden legitimieren zu können, braucht es schon starke Argumente. Es müssen doch sehr schlimme Krankheiten sein, gegen die so drastisch vorgegangen wird. Und so wurden die Geisteskrankheiten erfunden ...

Psychiater und Erbbiologen sind nun schon seit Generationen auf der Suche nach den erblichen und organischen Ursachen für Ausklinken, Rebellion und Verzweiflung. Sie haben Hirne aufgepumpt, vermessen und zerschnippelt und unzählige andere grausame Menschenversuche gemacht. Immer wieder wurden neue Erkenntnisse angekündigt - gefunden haben sie fast nichts. Kein Psychiater ist in der Lage, die behaupteten »Geisteskrankheiten« zu erklären. Dies hat sie aber nicht daran gehindert, ein Begriffsgebäude aufzubauen, das zumindest beeindruckend wirkt. Für jeden, der nicht ruhig und angepasst funktioniert, für jede Art von Rebellion, ist das entsprechende Etikett dabei:

Für Psychiater ist auch die bewußte Rebellion krankhaft. Daß das Leiden an den Verhältnissen oft genug zu einem ungezielten und selbstzerstörerischen Ausklinken führt, macht es ihnen leichter, ihre Ideologie von den »psychischen Krankheiten« zu verbreiten. Es ist unsere eigene Unfähigkeit gegenüber den Verhältnissen, die uns ihre Ideologien übernehmen läßt. Einerseits für uns selbst, denn eine ärztliche Diagnose kann auch eine willkommene Fluchtmöglichkeit aus scheinbar unlösbaren Problemen sein: jetzt ist erstmal Beschäftigung mit der Krankheit angesagt; wer krank ist braucht Hilfe und darf die Verantwortung für sein Leben an die professionellen Helfer abgeben, die als einzige Bescheid wissen. Und auch gegenüber anderen: Fast jeder hat wohl schonmal hilflos vor der Situation gestanden, daß jemand mit seinem Leben hier nicht mehr fertig wird, durch nichts aus der Verzweiflung rauszuholen ist, sich umbringen will oder nicht mehr nachvollziehbare Wahrnehmungen und Gedanken äußert - und war dann vielleicht froh, das Problem als »Krankheit« an die Weißkittel delegieren zu können.

Dies ist kein moralischer Vorwurf. Die Macht der Psychiater wird nicht dadurch eingeschränkt werden, daß wir nur alle mehr persönlichen Einsatz und Hilfsbereitschaft für ausgeklinkte Freunde, Verwandte oder Nachbarn aufbringen. Auch das BeschwerdeZentrum war oft genug gezwungen, professionelle Helfer in Anspruch zu nehmen, weil die Probleme von Einzelnen im SSK nicht zu bewältigen waren. Auch wir haben dann nach den etwas erträglicheren Alternativ-Einrichtungen oder den etwas ansprechbareren Sozialpsychiatern, die nicht gleich mit der schlimmsten chemischen Keule zuschlagen, gesucht. Gerade diese netten neuen Psychiater verstärken jedoch eine gefährliche Tendenz. Ihre hierarchische Funktion verschwindet hinter diesem Gebrauchswert, den sie für uns haben. Fast in jeder Diskussion um den Kampf gegen die Psychiatrie bekommen wir als Einwand auf die Forderung nach Abschaffung zu hören: »Was macht ihr denn mit den Leuten ...?«, »Aber es gibt doch Fälle ...« usw. Im Grunde sind diese Einwände genauso unsinnig, wie das Argument, ich könne nicht für die Abschaffung des Kapitals kämpfen, weil unter seiner Regie doch der größte Teil meiner Lebensmittel produziert wird. Aber gerade was Medizin oder Psychiatrie angeht, wirkt die Gebrauchswertseite übermächtig - »Jeder braucht doch mal einen Doc!« Die Medizin als Teil der Herrschaft über uns wird nicht in Frage gestellt, weil sie alltäglich als existentielle Lebensbedingung erscheint. Die heute weitverbreitete Selbstverständlichkeit, mit der Leute ihre Probleme an professionelle Therapien weitergeben, trägt zur Rechtfertigung der reformierten Psychiatrie bei. Die fließenden Übergänge von der alternativen Therapiebewegung zur alternativen Psychiatrie verschleiern den Zwangscharakter der Institution.

Die Funktion der Psychiatrie als Kontroll- und Unterdrückungsmittel liegt schon darin, daß sie wie die gesamte Medizin uns als besondere Institution gegenübertritt, daß wir uns professionellen »Helfern« ausliefern müssen, um von den Segnungen des »wissenschaftlichen Fortschritts« ein bißchen abzubekommen. Und erst durch diese Auslieferung an die Institutionen und Profis werden wir zu reinen »Patienten« und »Kranken« gemacht. Die Sozialpsychiater der DGSP schlagen nicht mehr so mit dem Diagnose-Knüppel der klassischen Psychiatrie zu. Gerade durch die Weiterentwicklung zur Sozialpsychiatrie schaffen sie ein besser abgestuftes Instrumentarium um den klassischen Zweck der Psychiatrie geschickter durchzusetzen. Sie stellen daher ihre eigene Professionalität und Rolle als Irrenverwalter nie in Frage.

 

Der Gewerkschaftsfunktionär als Betriebspsychiater?
Letztes Jahr erschien als Heft 23 der Schriftenreihe Arbeitssicherheit der IG Metall eine Broschüre »Psychisch Kranke im Arbeitsleben«. Nur Sozialpsychiatern konnte es gelingen, zu einer solchen Zusammenarbeit mit der IGM zu kommen. Zwischen Appellen zum menschlichen Umgang mit psychisch Kranken und Feststellungen, daß Solidarität und Widerstand die seelische Gesundheit stärken, werden hier Betriebsräten psychiatrische Ideologie und Zwangsmaßnahmen nahe gebracht.
 
Wie erkennt ein Betriebsrat eine drohende psychische Erkrankung? An der fehlenden Arbeitsproduktivität!
 
»Warnzeichen sind
  • allgemein: Wenn jemand aus dem Rahmen fällt, also seine sonstigen täglichen Gewohnheiten ändert.
Typische Merkmale können sein:
  • häufige Abwesenheit, bei jemand, der sonst pünktlich ist
  • massive Arbeitsstörungen (jemand bringt eine Arbeit nicht mehr zu Ende, hat den ganzen Schreibtisch voll unerledigter Dinge und verliert den Überblick). ...
  • unkontrolliertes, indiszipliniertes Verhalten«
Der psychisch kranke Mensch versteht es auch nicht, warum der gewerkschaftliche Weg, die Ausbeutung zu akzeptieren und bescheidene Bitten an den Ausbeuter zu richten, der einzig richtige ist: »Die meisten psychisch Kranken berichten aus ihrer Arbeitsvergangenheit eine Serie von Beispielen, wie sie ausgenutzt wurden und selbst dazu beitrugen, auf Kosten der Mitarbeiter/innen mehr zu leisten, für sie einzuspringen, unmenschliche Bedingungen auszuhalten, die es überall gibt. Der gesunde robuste Mensch stellt dagegen seine angemessenen Forderungen, oder wendet sich an seinen Vorgesetzten oder an den Betriebsrat.«
 
Und was tut der Betriebsrat, wenn er einen solchen psychisch kranken Menschen enttarnt hat? Er soll sich »nicht scheuen, ärztliche oder therapeutische Hilfe zu holen«, z.B. »Betriebsärzte, Angehörige der Betriebskrankenkassen, betriebliche Sozialarbeiter/innen oder die psychosoziale Beratungsstelle am Ort«. Und wenn sich der »Kranke« einfach weigert, sich therapeutisch wieder ans produktive Arbeiten bringen zu lassen, soll sich der Betriebsrat schließlich auch nicht mehr scheuen, den Notarzt zu rufen und die Zwangseinweisung in die Klapse zu betreiben! (»6. Schritt: Wenn alles nicht fruchtet...«)
 
Bei einer solchen Ausbildung zum Hilfspsychiater ist es nicht mehr weiter verwunderlich, wenn Psychopharmaka als »Basistherapie« und »Vorbeugung« verharmlost werden. »Allgemein gesagt verschaffen Neuroleptika jemandem ein 'dickes Fell'.«

 

Aus der Krankheit eine Waffe machen

Wer die (unbewußte) Rebellion zur Krankheit erklärt, individualisiert das Leiden an den Verhältnissen weiter und verschleiert die Ursachen. Mit der Diagnose macht er dem Betroffenen klar: »Es ist nur dein Problem, deine Krankheit. Du allein mußt damit fertig werden, aber dazu bist du zu schwach - nur ein Arzt kann dir dabei helfen.« Es braucht dann nicht mehr weiter gefragt zu werden, ob die »Kranken« in Armut und Existenzangst leben mußten, unter welchen Bedingungen sie arbeiten mußten, ob sie aus der Wohnung vertrieben oder von Behörden verfolgt wurden - und warum sie keine anderen Möglichkeiten gesehen haben, sich dagegen zu wehren. Ob wir für ein besseres Leben kämpfen oder vor der unerträglichen Realität in eine eigene Gedankenwelt flüchten, ob wir kaputt machen, was uns kaputt macht, oder uns selbst - das hängt ja in erster Linie davon ab, ob wir Möglichkeiten haben, uns mit anderen gemeinsam zu wehren. Wir haben schon öfters mitbekommen, daß die verrückten Verhaltensweisen und Gedanken von geflohenen Insassen mit der Zeit verschwanden, ohne Ärzte oder Medikamente, wenn sie im SSK die Erfahrung machen konnten, daß die Macht von Bürokraten und Weißkitteln ihre Grenze hat, wenn man ihnen nicht alleine gegenübersteht, sondern gemeinsam vorgeht. In diesem Sinne ist die Forderung nach Abschaffung der Psychiatrie nicht irgendeine utopische Vorstellung, sondern der reale Inhalt von Kämpfen der Irren selbst. Diese Kämpfe können nur erfolgreich sein, wenn es uns in allen Bereichen gelingt, unsere Interessen wieder in die eigene Hand zu nehmen. Dann werden nicht nur weniger Menschen den unerträglichen Verhältnissen durch Ausklinken und Pillen entfliehen, sondern die Psychiater werden auch weniger leichtes Spiel haben, Einzelne für verrückt zu erklären und auszusondern. Um bei den obigen Beispielen zu bleiben: Statt zu Zwangseinweisungen hätten die Auseinandersetzungen auf dem Sozialamt und mit dem Chef ja auch dazu führen können, daß alle Sozialhilfeempfänger zusammen dem Sachbearbeiter Druck machen, und daß die ganze Abteilung streikt ...


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