Wildcat Nr. 60 - Oktober 1992 - S. 3-9 [w60rosto.htm]


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Rostock/Saarlouis -

wie das neue Deutschland regiert wird

Es ist schwierig, im Zusammenhang über die neue Welle von Demütigung und Gewalt gegen AsylbewerberInnen und AusländerInnen zu reden, zu deren Fanal Medien und Linke die brennende ZASt in Rostock gemacht haben. Schwierig, weil hier so vieles untrennbar zusammenhängt und auf der anderen Seite alles in tausende »Scenes« und »Communities« mit ihren jeweils relativen »Wahrheiten« zerfällt. Die Krawalle vor den Asylunterkünften berühren Fragen wie die krasse Wohnungsnot, die steigende Arbeitslosigkeit, die Umstrukturierung der Fabriken, staatliche Arbeitsmarktpolitik, Spaltungen in der Klasse, staatliche Einwanderungspolitik, jugendliches Aufbegehren usw. usf. Dagegen bleiben bisher alle Antworten von unserer Seite bestenfalls partiell: Strafexpeditionen, die ganze Stadtteile für »rassistisch« erklären, Autonome, die sich noch fester in ihrem Getto einigeln, Antifas, die auf die Wiederholung von »33« fixiert sind, »FreundInnen der AusländerInnen«, die jeden, der auch nur zu verstehen versucht, ob und welche Belästigungen der AnwohnerInnen es möglicherweise gegeben hatte, beschuldigen, er wolle »die Pogrome entschuldigen« ...

Zusammenhänge finden wir erstmal nur auf der Seite des Staates, der in diesen Auseinandersetzungen eine in der BRD bisher weniger bekannte Politikform ausprobiert: die Strategie der Spannung. Die Krawalle vor Asylheimen liefen fast alle nach dem Muster ab: staatliches Aufheizen der Situation, Gewährenlassen faschistischer Gruppierungen, Abschirmen der Ausschreitungen gegen Eingriffe von AntifaschistInnen. Die so erzeugten Rauchschwaden sollen die im Sommer beschlossenen weiteren Einschnitte im Sozialstaat und die weitere Aufrüstung der Repressionsapparate vergessen machen bzw. legitimieren. Die Angriffe auf AusländerInnen sollen die stärkere Hierarchisierung des Arbeitsmarktes und Spaltung der Klasse ermöglichen.

Auf der Seite der Klasse finden wir dagegen nur Zersplitterung und Kampf gegeneinander. Warum toben sich revoltierende Jugendliche dermaßen gegen Wehrlose aus? Warum finden ausländerfeindliche Sprüche auch unter ArbeiterInnen Zustimmung? Wir haben in den folgenden Thesen versucht, zwei Sackgassen zu vermeiden: Die eine wäre die altbekannte autonomer Praxis - man hebt eine der Gruppen auf den Schild (die »revoltierenden Jugendlichen«, die »Flüchtlinge als Vorboten der trikontinentalen Revolution«, die »ansässige Arbeiterklasse« o.ä.). Die andere wäre der bekannte operaistische Dreher - »wenn Staat und Kapital sich so gefährdet sehen, daß sie zu solchen Mitteln greifen, dann ist die Klasse ganz schön stark ....« Wir haben stattdessen versucht, ein differenzierteres Bild zu zeichnen. Denn revolutionäre Politik muß in den alltäglichen sozialen Kämpfen die Kraft für den Umsturz finden. Das geht in den heutigen, unübersichtlichen Verhältnissen sicher nicht im Hauruck-Verfahren, unsere Beispiele am Ende sind auch sicher nicht der Weisheit letzter Schluß, sondern eher Anregungen zum Weiterdenken und Ausprobieren.

Migration in die Metropolen

Die Zerstörung von Reproduktionsmöglichkeiten durch kapitalistische Entwicklung oder Nichtentwicklung, Kriege, Hungersnöte wie in Afrika, die Umbrüche im Osten lösen weltweit Wanderungsbewegungen aus. Millionen von Menschen versuchen, Gegenden zu erreichen, in denen sie ihr Überleben (besser) sichern können. Nur ein geringer Prozentsatz dieser Menschen hat eine Chance, Europa zu erreichen (große Entfernungen, hohe Reisekosten). Von ihnen werden viele bereits an den Rändern abgefangen (siehe Bericht über das ungarische Abschiebelager in der Beilage). Im Wissen um diese Tatsachen machen Politiker dennoch seit Jahren (Innen-)Politik mit den angeblich »-zig Millionen Russen, die bereits auf ihren Koffern sitzen«, mit Bildern von »Springfluten, die über uns hereinzubrechen drohen« usw.

In allen westeuropäischen Ländern finden zur Zeit verschärfte Auseinandersetzungen statt zwischen Inländern aus den unteren Schichten der Gesellschaft (ArbeiterInnen, Sozialhilfe-EmpfängerInnen, KleinbürgerInnen) und Einwanderern auf der Suche nach Reproduktionsmöglichkeiten: Schlägereien zwischen griechischen und albanischen Arbeitern, Jagd auf AfrikanerInnen in Italien und Frankreich, Brandanschläge auf Flüchtlingsheime und Straßenkrawalle in Deutschland. Daß die »multikulturellen Mittelschichten« weniger offensichtlich auftreten, heißt nicht, daß sie weniger rassistisch wären: für sie sind die Flüchtlinge erst mal keine Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, ihre Kinder haben nicht die Probleme von überfüllten Schulklassen mit hohem Ausländeranteil, in ihren Wohnvierteln wird äußerst selten eine AsylbewerberInnen-Unterkunft und nie eine ZASt gelegt.

Die illegale Einwanderung wird von den Politikern als Problem erster Ordnung inszeniert. In Italien hat der Staat sichtbar in erster Person gehandelt, als die Albaner im letzten Jahr vom Militär zurück auf ihr Schiff geprügelt wurden. Man weiß inzwischen, daß die Flucht des Schiffs aus Albanien in Zusammenarbeit zwischen italienischer und albanischer Regierung eingefädelt worden war. Auch in der BRD wird spätestens seit Rostock kräftig gefädelt: Hier versucht man allerdings die Kasernierung und beschleunigte Abschiebung unerwünschter Ausländer als das Sichbeugen der Regierung vor aufgebrachten Bürgern darzustellen.

Es gibt in der BRD einen Bedarf an Niedriglohnarbeit, der nur durch Einwanderung befriedigt werden kann. Bisher haben es Immigranten aber immer recht schnell geschafft, nach einer gewissen Zeit den gleichen Lohn zu haben wie die »Inländer«. Hier versuchen die Kapitalisten durch eine Hierarchisierung der Einwanderung gegenzusteuern und den Angleichungsprozeß zu bremsen. Eine in den letzten zwei Jahren stark benutzte Möglichkeit sind Saisonverträge, Kontraktarbeit, Werkverträge, die die Ausbeutung von (Kontingent-)ArbeiterInnen aus Polen, Jugoslawien, Rumänien, der CSFR zu niedrigeren Löhnen erlauben. Auf der untersten Stufe werden Menschen ausgebeutet, die sich illegal im Land aufhalten.

Illegale Arbeitskräfte sind für den einzelnen Unternehmer billiger, sie bezahlen aber wenig oder gar keine Steuern und Sozialabgaben. Das deutsche Sozialsystem ist nur finanzierbar durch die Einwanderung von (jungen) Arbeitskräften, deren Ausbildung (den deutschen Staat) nichts gekostet hat, und die hier arbeiten und Kranken- und Rentenkassen auffüllen, ohne sie im gleichen Maß zu belasten oder sogar ohne je Leistungen daraus zu beziehen, weil sie wieder in ihre Herkunftsländer zurückgehen. Der Staat hat also ein (finanzielles) Interesse an einer rechtlichen Regulierung der Wanderarbeit.

Dafür ist der Artikel 16 GG dysfunktional: nach Anwerbestopp und Visumzwang ist er die einzige Möglichkeit geworden, legal in die BRD zu kommen. Er schaltet die Bedingungen des freien Markts aus und verhindert geradezu die Aufnahme einer Arbeit. Auch die Aufhebung des Arbeitsverbots änderte daran nichts Wesentliches. Die Kasernierung hat die Funktion, die Flüchtlinge als »Problem« sichtbar zu machen und Kontakte zu den anderen Proleten zu verhindern. Das hat bisher recht gut funktioniert, um das Zustandekommen gemeinsamer Kämpfe (etwa um Wohnraum) zu verhindern. Aber das bürokratische Verfahren hält die Menschen von der Aufnahme einer »normalen« Arbeit ab. Aktuell sagen selbst von denen, die beim illegalen Grenzübertritt aufgegriffen werden, weniger als ein Zehntel, daß sie »Asyl« wollen, die meisten wollen hier »arbeiten« und lassen sich lieber gleich wieder abschieben, um es kurz darauf nochmal zu versuchen - anstatt sich auf Lager, Verschubung und bürokratische Kontrolle einzulassen.

Die rationalste Lösung im kapitalistischen Sinn (lasset die Arbeitskräfte zu mir kommen und wehret ihnen nicht!) wäre ein Einwanderungsgesetz. Daß die Debatte darüber nun schon so lange dauert, liegt daran, daß es egalitäre Ansprüche der Einwanderer festschreiben würde. Gesucht werden Regulierungsmöglichkeiten, um die »ausländische Bevölkerung« der BRD stärker zu hierarchisieren. So hat das neue Ausländergesetz den Status vieler hier lebender »AusländerInnen« verschlechtert, gleichzeitig aber für einige die Einbürgermöglichkeiten verbessert; demnächst werden hier geborene Kinder mit einem deutschen Elternteil automatisch eingebürgert usw.

Man braucht aber auch die Pogrome, um den notwendigen »Handlungsdruck« zur Grundgesetzänderung und anderen Maßnahmen zu erzeugen - und weil sie den Zuwanderern zeigen sollen, daß sie hier Menschen zweiter Klasse sind, daß sie mit gebeugtem Haupt hierherkommen sollen, daß sie nur geduldet sind.

Krise der politischen Klasse - Krise gegen die ArbeiterInnen

Das Szenario der staatlich und medial unterstützten Ausländerfeindlichkeit findet vor dem Hintergrund der tiefsten politischen Krise in der Geschichte der BRD statt. Zwar gingen die Auseinandersetzungen rund um 68 tiefer und hatten viel mehr utopische Kraft, revolutionäre Aspirationen, aber sie konnten in ihrer großen Masse innerhalb weniger Jahre integriert werden: Die meisten 68er wurden zu Vordenkern der kapitalistischen Modernisierung, die Revolte konnte in eine Erneuerung des Systems transformiert werden. Die jetzige politische Krise dagegen ist gekennzeichnet vom inneren Zusammenbruch aller Großinstitutionen. Die Parteien sind im Innern blockiert, funktionieren nicht mehr als Transmissionsriemen zur Basis. Das Verhältnis zwischen dem Verteilen von Pfründen und Konsensbildung ist aus den Fugen geraten. Sie vertreten nur noch sich selbst, und alle wissen das. Das System des Parteienstaats funktioniert nicht mehr. Die Parteispitzen arbeiten in einer großen Koalition des Krisenmanagements zusammen. Weder SPD noch Regierungskoalition verfügen noch über ein politisches Programm.

Dagegen wirken die Parolen der rechten Parteien einfach und verständlich: gegen die Islamisierung Deutschlands, gegen den ECU, die wenigen freien Wohnungen den Deutschen ... Die Volksparteien verlieren Stimmen, die Wähler greifen zum Protest mittels Stimmenthaltung oder der Wahl rechtsradikaler und populistischer Parteien (»wenn nächsten Sonntag Wahlen wären«, würden 5 Prozent rechtsradikale Parteien wählen - aber 40 Prozent würden nicht mehr wählen gehen!).

All das gilt verschärft für die Ex-DDR. Die Herausbildung einer neuen politischen Klasse im Osten ist nach dem Verschwinden der Bürgerbewegung durchzogen von Skandalen. Bei der populistischen Rhetorik der neuen Politiker geht es sehr durchsichtig um die Verteilung von Pfründen. Die Kirche, zu DDR-Zeiten »oppositionelle Kraft«, ist mit ihrer Verstaatlichung flugs in eine schwere Krise geraten. Die Gewerkschaften haben anfängliche Erfolge mit ihrem Akzeptieren der Lohnspaltung ebenfalls verspielt.

Die Finanzkrise des Staates wurde durch die hohen Anschlußkosten (Alimentierung der Arbeitslosigkeit im Osten, Aufbau der Infrastruktur, Subventionen an investitionswillige Unternehmer) verschärft. Die hohen Zinsen sollen den Staatshaushalt finanzierbar halten und die Konjunktur drosseln. Dabei ist die Krise alles andere als ein »deutsches Problem«. In Frankreich und Italien wurde schon der Golfkrieg zur Drosselung der Konjunktur benutzt. Aufgrund der Wiedervereinigung gab es zunächst eine deutsche Sonderentwicklung. Aber nach dem Sommer 91 wurde es auch in westdeutschen Betrieben zunehmend unruhiger, der Stahlstreik wurde in letzter Minute von der IGM abgeblasen. Die Streiks in der Metallindustrie im Frühjahr konnten gerade noch abgewendet werden. Die ÖTV hatte zuvor deutliche Verschleißerscheinungen beim Abwürgen der Streiks im Öffentlichen Dienst gezeigt. Seither schalten die Herrschenden um: Hochzinspolitik, Sozialpakt, Große Koalition (und in unserem Zusammenhang: die bewußte Eskalation der »Asylantenproblematik« mit dem Inkrafttreten des Beschleunigungsgesetzes am 1.7.). Jetzt wird gleichzeitig die Konjunktur gedrosselt, die Betriebe auf Schlanke Produktion umgestellt (die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordhöhe), der sozialpolitische Angriff verschärft und den Leuten über höhere Steuern und höhere Zinsen ein Teil ihres Einkommens wieder abgenommen (siehe dazu auch »Sozialstaat: auf- oder abwickeln?«).

Durch die Hochzinspolitik und über das EWS exportiert die BRD ihre Schulden und die Arbeitslosigkeit zugleich in die anderen europäischen Länder - und somit in Volkswirtschaften, die schon wesentlich tiefer in der Krise stecken, in Staaten, deren Verschuldung bezogen auf das Bruttosozialprodukt wesentlich höher als die deutsche ist. Die Kämpfe in Griechenland und Italien zeigen, daß das Kapital hier mit dem Feuer spielt. Eine Ausweitung der Arbeiterkämpfe in Italien wäre eine Grenze, die mit den bisherigen politischen Mechanismen nicht überschritten werden kann. Hier kommen dann Herrschaftsmodelle wie Regierung(en) des Öffentlichen Wohls (siehe S. 13 ff.) u.ä. ins Spiel. Die Verträge von Maastricht haben auch auf dieser Ebene gezeigt, wo die Reise hingehen soll: Sie treiben die ökonomische Vereinigung Europas voran und schieben die politische Vereinigung, mithin die Möglichkeit, parlamentarischer, »demokratischer« Kontrolle auf unbestimmte Zeit hinaus. Auch die deutsche Wiedervereinigung wurde so durchgesetzt, sie war keine »politische« Entscheidung im parlamentarischen Sinn, die politische Klasse hat in diesem Prozeß abgedankt. Dazu kommt die historische Erfahrung, daß die Große Koalition in den 60er Jahren die Herausbildung und Radikalisierung einer Außerparlamentarischen Opposition begünstigte, die Konzertierte Aktion und Lohnstopp dazu führte, daß die Gewerkschaften ihre Basis nicht mehr einbinden konnten und die ArbeiterInnen wild streikten. Wenn also ein von anonymen Bürokratien und Notstandsregierungen gelenkter Wirtschaftsimperialismus die Regierungsform der Zukunft werden soll, hieße das, eine wesentliche Verschärfung der Repression von vornherein einzuplanen. Strategie der Spannung hieße in diesem Fall, die Parteiapparate in solche Koalitionen zu treiben und die gesellschaftliche Opposition zu terrorisieren und auszuschalten. Aber ob es so weit kommt, ist eine andere Frage. Die Herrschenden entscheiden sich für Europa nicht aus freien Stücken, sondern weil sie im nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr überleben können - vielleicht können wir ihnen ja zu einem gesamteuropäischen Begräbnis verhelfen!

Exkurs: Die Medien

Die Meinungsbildung findet heute nicht mehr in Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen statt. Auf der einen Seite läßt sich eine Individualisierung von Meinungsbildung feststellen, auf der anderen Seite eine »unkontrollierbare Haufenbildung« (Bürgerinitiativen, Fußballfans, Hooligans, Modemnetze ...). Politische Diskussionen laufen immer stärker über Medien (Talkshows).

Wenn Waigel sagt: »Die nächste Wahl wird rechts von der Mitte gewonnen, deshalb dürfen wir Deutschland nicht als Einwanderungsland bezeichnen«, bringt er das Konzept einer politischen Klasse auf den Punkt, die sich nur noch durch Intrigieren, Korrumpieren und Manipulieren von Meinungsumfragen im Sattel hält. Die Regierenden haben keine politischen Programme mehr, sie sind nicht mehr »Macher« oder gar »Gestalter«. Ein Vorschlag wird über die Medien lanciert (z.B.: Asylrechtsänderung, Karenztage usw.), eine Zeitlang breitgetreten und schließlich modifiziert oder zurückgezogen.

Die meisten Linken sind den Medien auf den Leim gegangen: eine Demo ist nur toll, wenn sie im Fernsehen kommt; Wirksamkeit kann nur erzielen, wer entsprechende Auflagen hat. Ein Großteil »linker« Politik besteht heute darin, sich über Medienkampagnen (sogenannte »Öffentlichkeitsarbeit«) gegenseitig zu agitieren. Politik machen Individuen in Büros, die »Medienarbeit« machen. So viele Zähne hatte diese Linke gar nicht, wie sie sich auf diesem Weg hat ziehen lassen. Medien bestätigen nur bereits vorgefaßte Meinungen. Die Medien haben das Elend der Welt nur tausendfach gespiegelt - es geht aber darum, sie zu verändern, soll ein bekannter Philosoph gesagt haben.

Die »faschistische Gefahr« ist ein Medienprodukt, das Copyright liegt bei der Linken und den Profitzwängen der kapitalistisch organisierten Medien. Ein und derselbe Fascho erscheint in 5 Zeitschriften; Reporter bezahlen Skins für Angriffe auf Heime; in Talkshows werden Jugendliche aufgefordert, jetzt doch mal endlich »was Ausländerfeindliches« zu sagen; ein brennender Trabbi geht rund um die Welt und transportiert eine Nachricht: Bedrohung durch irreale Gewalt. In Rostock waren während der Randale 500 ReporterInnen zugange. Nehmen wir mal an, nur die Hälfte von ihnen hätte Kamera und Mikrofon aus der Hand gelegt und jeweils drei hätten sich einen steinewerfenden Jugendlichen geschnappt, dann wäre die Randale beendet gewesen - die Medienfritzen hätten aber durch so ein Vorgehen natürlich weniger Geld verdient.

Es ist schwer dagegen zu argumentieren; viele linksliberale JournalistInnen sind betroffen und wollen durch Übertreibungen ihr Publikum wachrütteln, viele zynische Medienhaie schmieren die Story zurecht, die sich am besten verkaufen läßt - Meldungen über brutale Gewalt, Jugendgangs und Rassismus haben heute Konjunktur; und schließlich macht auch die Antifa mit Übertreibungen und Gerüchteküche Politik.

Alle nehmen die Welt heute wahr als eine von zunehmender Aggressivität, wachsender Gewalttätigkeit und steigender Kriminalität. Die Herrschenden machen bewußt Politik mit dieser Angst, sie fördert die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit.

Aber ist diese Wahrnehmung richtig? Untersuchungen kommen oft zu gegenteiligen Ergebnissen (und so gut wie immer zu Differenzierungen: beispielsweise stieg in der Ex-DDR die Zahl der Diebstähle an, aber »die Zahl der angezeigten Sittlichkeitsverbrechen ist gesunken«). Ist die Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Andersaussehenden wirklich geringer als z.B. in den 60er Jahren? Sind wir nicht dabei, uns in eine verklärte Vergangenheit zu flüchten und die Gegenwart denen zu überlassen, die Interesse an unserer Angst haben?

Auch die jugendlichen Randalierer gehen den Medien auf den Leim, die denjenigen groß rausbringen, der die abgebrühtesten Sprüche aufsagt. Sie mögen den Eindruck haben, daß sie die Medien benutzen. In Wirklichkeit werden sie benutzt, um die Message rüberzubringen, die schon feststand. Wie werden sie den Widerspruch verarbeiten, daß die Medien sie zu (Anti-)Helden stilisieren, sich an ihrer beschissenen Situation aber gar nichts geändert hat?

Umbau der Gesellschaft - die neue Form von Herrschaft

Der gegenwärtige Umbau der DDR-Gesellschaft (und der ganzen BRD!) zielt auf das Zurückdrängen aller egalitären Ansprüche. Die Gesellschaft soll mobilisiert und stärker hierarchisiert werden, um aus den Menschen mehr Arbeit herauspressen zu können. In diesem Prozeß funktioniert Rassismus als Katalysator. Dabei geht es weniger um den Hautfarben-Rassismus, sondern um einen Rassismus, der nach Leistungswilligkeit und -fähigkeit selektiert. Solch ein aufgeklärter Rassismus ist nicht dysfunktional in einem Einwanderungsland wie der gegen »die Italiener« oder gegen »die Türken«, gegen den auch die Unternehmerverbände protestieren. Bei den Krawallen in Schönau waren auch »Ausländer« beteiligt.

Es gibt einen augenfälligen Zusammenhang zwischen der Abwicklung von relativ gutbezahlten Arbeitsplätzen und dem Hochkochen von »ausländerfeindlichen Ausschreitungen« (1991: Hoyerswerda/Braunkohle; 1992: Rostock/Werften). Die Armut der Flüchtlinge führt den Arbeitslosen auf der Warteschleife den möglichen rasanten Abstieg in der Leistungsgesellschaft vor Augen. Die deutschen Arbeitslosen bekommen gegenüber den Flüchtlingen ein Gefühl von Neid und Machtlosigkeit, weil sie sich nicht (mehr) so gut organisieren können. (Und das ist ja auch politisch die Hauptabsicht der Umstrukturierung: bisher haben über drei Viertel aller Leute den Arbeitsplatz gewechselt. Das westdeutsche Kapital will den ArbeiterInnen erst die Reste ihrer Macht wegnehmen, um sie dann effektiver ausbeuten zu können.)

Der Staat präsentiert die Flüchtlinge als Sündenböcke, um die soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren und sich austoben zu lassen. Mit dem Drohbild faschistischer Gewalt bringt er andererseits die politische Opposition gegen die weitere Aufrüstung zum Verstummen. Eine politische Klasse, die kein Programm mehr vertritt, zwischen widersprüchlichen Interessen zerrieben wird, keine Legitimation beim »Wahlvolk« mehr hat, versucht an der Herrschaft zu bleiben, indem sie existierende Spannungen nicht mehr löst, sondern verschärft: Destabilisieren, um zu stabilisieren, Strategie der Spannung. Angst und Schrecken durch faschistische Angriffe, die Drohung mit dem Massaker, die Warnung vor dem Überrolltwerden durch die Armutswanderung. Die »antifaschistische Front« unter anderen Vorzeichen. Der Ruf nach mehr Polizei, mehr Staat, mehr Autorität und Bundeswehreinsatz gegen die irrationale Gewalt in der Welt erschallt bis in die Linke hinein.

Akteure und Claqueure

Die Massen

Die Beteiligung ansonsten unauffälliger Bürger an gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsheime und auf die Polizei ist ein neues Phänomen im Nachkriegsdeutschland. Die Eruption ist allenfalls in ihrer Heftigkeit, aber nicht in Dauer und Ausbreitung, mit dem Mai 87 in Kreuzberg vergleichbar.

Gerade zwei Jahre nach dem Anschluß sind die Parteien und Gewerkschaften in der Ex-DDR am Ende - aber die Leute bleiben mit ihrer Kritik auf halber Strecke stehen: Sie verweigern sich und beklagen im nächsten Moment, sie würden von politischen Entscheidungsprozessen »ausgeschlossen«. Sie merken, daß dieser Staat gegen ihre Interessen handelt, aber anstatt ihn zu bekämpfen, verweigern sie nur ihre Teilnahme, stehen im Schmollwinkel: erst Opfer des Stalinismus, dann Opfer der Umstrukturierung, Opfer der Medien, Opfer der Antifa... Die Panik vor der Zukunft wächst, aber sie packen nicht selbst was an, sondern warten, daß jemand vorbeikommt und ihnen Vorschläge macht. Gerade die von staatlicher Alimentierung Abhängigen haben Panik, ihr Geld an bettelnde Roma zu verlieren.

Krawalle sind oft Verhandlungsformen in Systemen, wo Menschen sich nicht (mehr) politisch vertreten fühlen. In den neuen Ländern funktioniert das System von Verhandeln und Abfedern noch nicht. Speziell die verlorene Generation der heute über 50jährigen hat ein Leben lang geschuftet und sitzt heute ohne Perspektive im neu eingerichteten Wohnzimmer. »Ihre Aktionen gegen die AsylbewerberInnen sind ein kollektiver Versuch der Integration in die Gesellschaft« steht im Ludwigshafener Papier zu Schönau (siehe Beilage). Das gilt um so mehr für die Rostocker, Eisenhüttenstädter usw. BürgerInnen - und an der Oberfläche haben sie damit Erfolg: die Minister stellten sich hinter ihr Volk, es wird massig Geld fließen in Form von Sonderprogrammen (gegen Aggression und Gewalt allein 20 Mio. DM), ABM und Jugendhilfe, die Anwohner bekamen einen Monat mietfrei oder reduzierte Mieten.... Aber in der Substanz wird sich an ihrer Situation nichts ändern; sie sind überflüssig, und das spüren sie.

Die Faschisten

Bisher haben die Faschisten kaum organisatorische Erfolge unter den Jugendlichen der ehemaligen DDR, aber Rostock und die damit losgetretene Welle von Angriffen auf »Ausländerheime« könnte ein Anfang werden: Organisierte Gruppen fanden in Lichtenhagen reißenden Absatz für Baseballschläger und vorbereitete Mollies.

Die DDR war offiziell »antifaschistisch« und hatte zunächst auch stärker mit der faschistischen Vergangenheit aufgeräumt als die BRD, wo frühere Nazis Minister, General, Kanzler und Bundespräsident wurden. In beiden Nachkriegsdeutschlands hielt man neonazistische Gruppen klein. Es gab aber auch in der DDR gegen Ende eine Zunahme solcher Gruppen, die sich zum Beispiel innerhalb der FDJ kontrolliert organisieren konnten. Da man aber offiziell »antifaschistisch« war, wurde dieses Thema stark tabuisiert, unabhängige Antifa-Gruppen, die solche Entwicklungen öffentlich machten und angriffen, wurden kriminalisiert. Der Haß auf den SED-Staat, der als »links« identifiziert wurde, und das Fallen sämtlicher staatlicher Zwänge während der Wende waren dann ideale Bedingungen für die Propaganda faschistischer Organisationen aus dem Westen. Auch die BRD hat die Neonazis unter Kontrolle und am Rand des politischen Geschehens gehalten. Die Geheimdienste haben V-Männer in die Mini-Organisationen geschickt und sie kleingehalten. Aus dieser Logik gab es in der Vergangenheit nur einen »Ausreißer« im Jahr 1980 mit dem Massaker auf dem Oktoberfest, das nie richtig aufgeklärt wurde.

Seit einiger Zeit ändert der Staat sein Verhältnis zu den Neonazis. Spätestens Rostock war der Beweis, daß neonazistische Gruppen benutzt werden, um Politik zu machen. Wir wissen inzwischen, daß CDU und SPD in Rostock sich einig waren, die Situation vor der ZASt so weit zu verschärfen, daß es kracht. Bekannt ist ebenfalls, daß bekannte Faschistenführer bei der Randale anwesend waren und sie zu steuern versuchten, daß aus Autos heraus Mollies an die randalierenden Jugendlichen verteilt wurden - und daß niemand von diesen organisierten Faschisten verhaftet wurde (mit Ausnahme eines stark kurzsichtigen österreichischen Nazis). Zeitlich abgestimmt auf die Randale in Rostock explodierte in Hannover eine Bombe auf einem Volksfest, wobei es (glücklicherweise? noch?) zu keinen Toten kam.

Daß die Bullen dann Mitte September in Sachsen mehr als hundert Wohnungen von »Rechtsextremisten« durchsuchen, steht dazu steht nicht im Widerspruch. Auch wenn gewisse staatliche Stellen faschistische Gruppen benutzen, so müssen doch Staatsschutz und Bullen einen Überblick behalten und von Zeit zu Zeit zeigen, wer Herr im Hause ist.

Die Jugendlichen

In vielem ähneln die Verhaltensweisen und Krawalle dieser Kids den Halbstarkenkrawallen in den 50er und Anfang der 60er Jahre, in anderem der stumpfen Gewalt der SA-Truppen Anfang der 30er.

(Ich meine im folgenden Absatz wirklich die »kids«, also »die vergessene Generation der 13- bis 16jährigen«. Ich halte es für wichtig, so genau wie möglich Unterschiede etwa zu über 20jährigen, bewußt gegen Ausländer vorgehenden »Rechtsradikalen« zu machen.) Der Verlust früherer sozialer Bindungen, die Orientierungslosigkeit der Eltern, das Gefühl allseitiger Bedrohung führen zu einer Straßenkultur der kids. Antifas und Linke sind schnell bei der Hand, diese Jugendlichen mit den »Faschos« und »Rechten« in einen Topf zu werfen, aber das greift zu kurz: Die wenigsten, auch solche, die sich als »rechts« bezeichnen, haben ein gefestigtes Weltbild. Fußball-Randale und Joy-riding sind in England seit Jahren verbreitete Freizeitsportarten proletarischer Jugendlicher. Es ist absurd, wenn Autonome, die auf Riots in Frankreich und Britain kritiklos abfahren, die Jugendlichen, die hier das gleiche machen, zunächst nicht wahrnehmen, und dann, wenn sie sich vor Asylheimen austoben, kurzerhand zu »Faschisten« erklären. (Erinnert Ihr Euch an den Artikel in der Wildcat Nr. 56 »Die Vorstadtindianer« über antisemitische Tendenzen in den französischen Riots?)

Das Problem mit den kids in Rostock, Eisenhüttenstadt, Quedlinburg usw. usf. ist, daß sie nicht wirklich revoltieren, daß sie in ihrer Opposition (genauso wie ihre Eltern auf einer anderen Ebene) auf halbem Weg stehenbleiben. Sie exekutieren in ihren Krawallen die Meinung ihrer Eltern. Sie haben einen riesen Haß auf den Staat und alles, was dazu gehört - die Riots sind auch immer Zoff gegen die Bullen. Aber sie sind feige und spießig, wenn es darum geht, die Nabelschnur zur alten Welt wirklich zu durchtrennen, selber was zu machen, eigene Wege auszuprobieren. Sie toben sich an Wehrlosen aus, randalieren gegen die Roma. Sie hören nicht auf ihre Mädchen, die sich schon in diese verliebt und Kontakt zu ihnen aufgenommen haben. Sie wollen das Neue nicht sehen. Aber entweder sie gehen weiter und revoltieren wirklich, oder sie kommen unter die Räder. Hilfstruppen des Staates, die er tagelang gewähren und ihre Rolle spielen läßt - um sie später dann vielleicht einzuknasten und exemplarisch zu bestrafen (Ende September sind die Knäste in Rostock und Umgebung überfüllt).

Die Krawalle der Halbstarken und Roker waren Vorläufer der Jugendbewegung und Klassenkämpfe Ende der 60er, die SA-Banden waren die Fußtruppen des Dritten Reiches. Aber eines ist sicher: eine Linke, die weder radikale Kritik am Bestehenden noch eine gesellschaftliche Utopie entwickeln und praktizieren kann, wird dabei nichts mitzureden haben! (siehe auch unsere Thesen in Wildcat 59, S. 30 f.)

Die Bullen

haben zwei Funktionen: Sie sollen die AntifaschistInnen davon abhalten, daß sie die Ausschreitungen angreifen. Und - vor allem die Ostbullen - sie sollen sich verheizen lassen, um die weitere Aufrüstung von Spezialtruppen zu rechtfertigen.

Der Staat stellt sich schwach und agiert effektiv gegen Links; während Faschisten Mollies verteilen können, werden Antifas verhaftet. Bereits Sonntag abends waren massenhaft BGS Bullen von auswärts in Rostock, Hubschrauber kreisten über der Stadt, Konvois von Bullenwannen bretterten durch die Innenstadt - zur selben Zeit bleib die ZASt beinahe ungeschützt. Einige der einfachen Bullen vor Ort haben ihre Doppelrolle inzwischen auch kapiert (siehe z.B. Süddeutsche Zeitung 21.9.92: »Polizisten in Rostock: Verraten und mißbraucht? ...« in der Beilage)

Strategien

Der Staat

Für den Staat stehen in seiner Gefahrenanalyse zwei gesellschaftliche Gruppen an oberster Stelle: die alten Arbeiterkonzentrationen könnten vielleicht doch noch gegen Umstrukturierung im Westen und Abwicklung im Osten losschlagen (es gab in den letzten Wochen einige Aktionen, die alle überraschend schnell »Erfolg« hatten!). Die unruhigen, »gewaltbereiten« Jugendlichen könnten ihre wirklichen Feinde angreifen (die Krawalle haben jetzt schon einen Doppelcharakter: auch nachdem die AsylbewerberInnen aus der ZASt in Lichtenhagen verlegt waren, ging die Randale weiter, sie erreichte in der Heftigkeit der Auseinandersetzung sogar ihren Höhepunkt).

Wenn wir sagen, daß eine neue Etappe des Klassenkampfs begonnen hat, in dem der deutsche Staat zunehmend auch faschistische Gruppen benutzen wird, wollen wir damit keineswegs einer Verschwörungstheorie das Wort reden, die davon ausgeht, daß »dahinter ein einheitlicher Wille« stecke. Wir gehen im Gegenteil davon aus, daß zur Zeit auch unter den Herrschenden eine erbitterte Auseinandersetzung darüber geführt wird, wie sie weiterhin an der Macht bleiben können.

Vielleicht wurde die Bombe deswegen in Hannover auf einem Volksfest abgelegt, weil die niedersächsische Landesregierung im Bundesrat gegen das Beschleunigungsgesetz gestimmt und sich für ein Einwanderungsgesetz ausgesprochen hatte ...?

Vielleicht hat die Rohrbombe mit gewerblichem (!) Sprengstoff in Saarlouis mit zur Meinungsänderung von Lafontaine beigetragen ...?

Zwei Wochen vor Rostock beförderte der Verfassungsschutzbericht den »Rechtsextremismus« zur Hauptgefahr. Die innerstaatliche Aufrüstung, die bisher mit Kampf gegen die RAF und die Autonomen legitimiert wurde, ist jetzt angeblich gegen die rechtsextremen Gruppen gerichtet.

Wir können davon ausgehen, daß die staatlichen Geheimdienste über Pläne und Aktionen faschistischer Organisationen informiert sind. Wenn sich die randalierenden Jugendlichen in faschistischen Parteien organisieren, sind sie berechenbar und leichter zu kontrollieren. Die in Rostock geplanten Aktionen waren (mindestens) bekannt. Sie waren getimt: am selben Wochenende traf sich die SPD, um ihre Zustimmung zur Änderung des Artikels 16 und zum Bundeswehreinsatz im Ausland zu beschließen. Der Erfolg der Krawalle war auch in anderer Hinsicht vorprogrammiert: es war bereits vorher beschlossene Sache, daß die Flüchtlinge am 1. September von Rostock weg verlegt würden. Und auch im Gesamtzusammenhang stimmte das Timing: seit dem Frühsommer hatten Arbeitsamt, Gewerbeamt und Ausländerbullen den Monat September zum Monat des Kampfs gegen die illegale Arbeit ausgeguckt....

Was können wir tun?

Zunächst fällt ja auf, daß Politiker wie Stolpe vom »Dialog mit der Jugend« faseln und mit den Faschistenführern reden. Und daß andererseits Antifas »die Faschisten schlagen« wollen und stattdessen die Jugendlichen verhauen und ihre Jugendclubs abbrennen. Wir wollen keine Tränen darüber vergießen, daß ein paar Glatzen, die Steine geworfen haben, was aufs Maul kriegen, aber »antifaschistische Gewalt« muß prinzipiell drauf achten, die Führer zu treffen und sie von ihrem Umfeld zu isolieren, sie muß polarisieren und nicht den Gegner zusammenschweißen (Jugendzentren abfackeln dürfte in aller Regel genau das erreichen!). Der Schweinebande von Privatunternehmern, die ein Vermögen auf dem Rücken der Flüchtlinge (und teilweise auch der »AnwohnerInnen«) machen: Heimbetreiber, Wachschutzgesellschaften, Großküchen, Immobilienspekulanten passiert wenig; Polizeiakten über Hooligans, Akten über Flüchtlinge ...

Das greift nicht unmittelbar die neue Qualität der Pogrome an, aber es könnte den randalierenden Jugendlichen eine Idee davon vermitteln, daß sie ja auch diejenigen angreifen könnten, die wirklich für ihre Misere verantwortlich sind. »Asylanten vertreiben« ändert ja an ihrer realen Situation nichts, sich gegen Spekulanten durchsetzen, die Bullenkontrolle unterlaufen, dagegen schon.

Aber für eine revolutionäre Perspektive, die sowohl der härteren Gangart des Staates als auch der Verschärfung bei den Auseinandersetzungen innerhalb der Klasse angemessen ist, reicht das bei weitem nicht aus. Drei große Probleme stehen uns im Weg, wenn wir über defensive »Anti-»Politik rauskommen und offensiv drangehen wollen:

1) Wieso fallen uns zu dem Problem der Jugendlichen auch nur Sozialarbeiterlösungen ein? Bei den 1. Mai-Krawallen in Berlin oder der Randale um Brokdorf hat ja auch niemand »mehr Diskos« gefordert. (Und daran liegt's ja auch nicht: in Quedlinburg mit seinen 28 000 EinwohnerInnen gab es vor der Randale drei Jugendclubs, danach wurde sogleich der vierte eröffnet.) Es fällt uns extrem schwer, die Jugendlichen als Subjekte ernst zu nehmen, wo sie doch offensichtlich so ne Scheiße veranstalten. Wichtig ist zunächst mal, die »rechten Jugendlichen, die randalieren« nicht mit ihrer ganzen Generation gleichzusetzen. Die überwiegende Mehrheit orientiert sich nicht nach rechts. Sie sind auf der Suche und noch nicht »politisch« genug, um den Glatzen offensiv was entgegenzusetzen. Und sie können auch mit den »antirassistischen« Strafexpeditionen nichts anfangen.

Aber manchmal tauchen sie unerwartet auf (siehe Beilage: Demo am 13. 6. in Ludwigshafen, Demo gegen Rassismus in Lüneburg; siehe aber auch die Demos während der Woche in Rostock).

2) Warum pendeln fast alle GenossInnen, die sich mit Flüchtlingsarbeit befassen zwischen »Primat der Politik« und Sozialarbeit hin und her? Das Interesse der Flüchtlinge ist es, möglichst schnell dieselben Lebensbedingungen zu erreichen. In der Phase von Unsicherheit und existentieller Bedrohung lassen sie sich vielleicht noch auf manche gemeinsame Aktion ein, aber danach steht das Sich-hier-Einrichten an. Wir müssen den Flüchtlingen helfen, sich gegen rassistische Angriffe zu schützen - das ist eine Selbstverständlichkeit. Jeder Versuch, dem eine revolutionäre Perspektive unterzuschieben, ist albern. Eine Perspektive von Umwälzung kann nur in der sozialen Organisierung der Flüchtlinge als Teil der Klasse hier gesucht werden; erst da wird sich zeigen, wer »nur« am Kapitalismus teilnehmen will und wessen Ansprüche nicht mit einem Drecksjob, Teppichboden und Farbfernseher zu befriedigen sind.

3) Wieso wehren sich die (DDR-)Arbeiter so wenig gegen die ganzen Angriffe auf ihre eigenen Bedingungen? Genauso wie ihre Kinder sich als randalierend im Fernsehen vorführen lassen, ohne wirklich gegen ihre Situation, ihre Eltern, den Staat, die Kapitalisten zu revoltieren, genauso haben sich die Rostocker Werftarbeiter im Frühjahr als »kämpfend« vorführen lassen: die gewerkschaftliche Simulation einer Werftbesetzung, während sie die ganze Zeit brav weitergearbeitet haben, denn man wollte ja keinen »potentiellen Investor verschrecken«. Solange diese Arbeiterklasse nur ihr häßliches Gesicht zeigt: Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank, Trottel, die sich von »ihrer« Gewerkschaft verarschen lassen, Ossis, die ihren Kollegen im Westen alle Akkorde kaputtmachen, weil sie immer noch glauben beweisen zu müssen, daß sie »auch gut arbeiten können«, Jammerlappen im Jogginganzug, der kleine Mann, von allen getreten .... solange ist sie nur Manövriermasse, dient sogar ihre Verweigerung von Politik nur zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Herrschaft.

Auch wenn wir denken, daß die staatliche Inszenierung von Krawallen dazu dient, die Leute vom Kämpfen abzulenken (die Falle des Antifaschismus), wäre es naiv, die hier aufbrechenden Fetzereien in der Klasse nicht wahrzunehmen und Parolen auszugeben à la »Laßt euch nicht ablenken, verschärft den Klassenkampf!« Wichtiger ist es, die realen Prozesse wahrzunehmen. Es gab in diesen Wochen auch optimistisch stimmende Sachen: Am 16.9. demonstrierten 10 000 Menschen vom Prenzlauer Berg in den Westen gegen Mieterhöhungen (die erste große Demo, die von Ost nach West ging). Es gab in diesem Sommer Streiks, Protestversammlungen, Go-ins und weitere Aktionen gegen Kürzungen im Kita-Bereich. Es gab Betriebsbesetzungen und Kohl hat wieder Eier abgekriegt. Es haben an mehreren Orten Mobilisierungen gegen die sozialen Streichungen angefangen (und zwischen Poll tax und den Mobilisierungen jetzt in Italien müßte es uns doch gelingen, da etwas Power reinzubringen!).

Verschiedentlich haben KollegInnen die neue »Asylanten-raus«-Welle auch zum Anlaß genommen, mal wieder gemeinsam über ihre eigene Situation zu reden, an mehreren Orten hat sich »die Bewegung« aus demselben Anlaß aufgerappelt und zusammengefunden - und dann auch ganz andere Sachen angepackt: die Diskussionen wurden endlich mal wieder grundsätzlicher, es wurden auch wieder neue Häuser/Zentren besetzt, der Kampf gegen die Vertreibung (Luxussanierung) aufgenommen ... Und eigentlich haben alle, die zu Demos oder anderen Initiativen in der eigenen Stadt aufgerufen haben, gute Erfahrungen damit gemacht, viele neue Gesichter sind aufgetaucht, »keiner weiß, woher« - es waren nur zu wenige, die Initiativen ergriffen haben. Alle warten, daß was passiert, legen wir los!


Dieser Artikel beruht auf einer Menge an Material und Diskussionen. Um ihn nicht völlig unübersichtlich werden zu lassen, haben wir eine Auswahl davon als Beilage in diese Wildcat eingelegt.

Darin sind einige Gespräche wiedergegeben, die wir von mehreren Seiten verifiziert haben. Zu der Einschätzung über das »Trockendock« in Eisenhüttenstadt müssen wir jedoch eine Korrektur anbringen: zumindest in der Zwischenzeit haben dort Glatzen das Sagen. Die meisten Jugendlichen treffen sich woanders, weil sie keinen Bock auf »Deutschland-den-Deutschen«-Gegröhle haben. Es darf stark bezweifelt werden, daß »Rechte, Linke und Ausländer« hier zusammentreffen. Mehrere Jugendliche erzählten uns, daß »die, die sich im Trockendock treffen« die Randale vor der ZASt veranstaltet haben. Das Trockendock ist keineswegs »stark frequentiert«; es sieht für uns inzwischen eher wie altbekannt aus: Kommune, freie Träger usw. pumpen jede Menge Geld in solche Projekte, aber die Jugendlichen kommen nicht.

Eine Gesprächspartnerin in Rostock haben wir etwas salopp als »Sozialarbeiterin« bezeichnet. Es ist eine Frau, die wir schon länger kennen und die eigentlich sauer ist, so bezeichnet zu werden. Wir dachten nur, es beschreibt am ehesten ihre berufliche Tätigkeit ...


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