Wildcat Nr. 70, Sommer 2004, S. 6-8 [w70_operaismo.htm]


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Operaismus:
Vom Schimpfwort zum Hype zum toten Hund?

Renaissance des Operaismus, Teil I, Wildcat 64/65, März 1995
Renaissance des Operaismus, Teil II, Wildcat 66, Juli 2003


Seit dem Bestseller Empire (2000) von Michael Hardt und Toni Negri ist der Begriff Operaismus wieder in aller Munde – wobei den meisten gar nicht klar zu sein scheint, dass es dabei mal um ArbeiterInnen gegangen war (Operaio = Arbeiter, also »Arbeiterismus«). Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre entstand in Italien um die Zeitschrift Quaderni Rossi (Rote Hefte) und später Classe Operaia (Arbeiterklasse) herum eine linksradikale politische Strömung, die den Sozialdemokratismus von PCI und PSI und deren Politik des nationalen Wiederaufbaus ablehnte. Um alle Verhältnisse revolutionär umzustürzen, brauchten sie auch theoretische Waffen – sie haben sehr viel zur Erneuerung des Marxismus beigetragen. Vor allem aber brauchten sie eine politische Praxis, die sich an den tatsächlichen Kämpfen der Arbeiterklasse orientiert. Sie gingen in die Arbeiterstadt Turin, um in den dortigen Fabriken Arbeiteruntersuchungen zu machen. Bei Fiat trafen sie dabei auf eine Situation im Umbruch: alte kommunistische Arbeiter, die politisch kaltgestellt waren, junge, unzufriedene Facharbeiter und neu vom Land und vor allem aus dem Süden in die Fabrik gekommene, ungelernte Arbeiter, die vorher Bauern gewesen waren. 1962 fanden die ersten Kämpfe statt, in Kontakt dazu entwickelten die Genossen einen theoretischen Ansatz, der die Marx’sche Methode benutzte, um radikal vom Arbeiterstandpunkt auszugehen.

Wohl niemand würde sich heute für den theoretischen Ansatz dieser kleinen Gruppe interessieren, hätten sich nicht ihre Thesen im Heißen Herbst 1969 so eindrucksvoll bestätigt. Allerdings konnten die AktivistInnen diese »Verifizierung« ihrer Thesen nicht adäquat umsetzen. Die Gruppe hatte sich mehrfach gespalten. Ein Teil ging in die KP zurück, um von dort aus Einfluss zu nehmen, andere machten sich daran, selber eine »richtige« Organisation aufzubauen: Potere Operaio (Arbeitermacht). Was sie vorschlugen (»Lenin wiederentdecken«), fiel weit hinter das zurück, was die ArbeiterInnen in ihren Kämpfen entwickelt hatten. PotOp löste sich 1973 in mehrere lokale und politisch verfeindete Strömungen der späteren Autonomia auf. Die Verhaftungswelle 1979/80, die Tausende von Militanten für Jahre in den Knast brachte, und die große Niederlage der Fiat-Arbeiter 1980 beendeten die operaistische Erfahrung.

1962

Im Frühjahr 2004 bricht bei Fiat in Süditalien ein spektakulärer Kampf aus – ausgerechnet in Melfi, Modellprojekt für just in time, für Auslagerung und Spaltung der ArbeiterInnen in unterschiedliche Belegschaften. Innerhalb von Tagen legen die Streikenden die gesamte italienische Autoproduktion lahm. Vittorio Rieser, gewerkschaftsnaher Industriesoziologe, von Anfang bis Ende in der Redaktion der Quaderni Rossi, wies auf historische Parallelen zwischen dem Streik in Melfi und dem in Turin 1962 hin. Wohl gemerkt: 1962, nicht 1969. Er will sagen: die Bedeutung dieses Streiks haben damals auch nur wir erkannt und: da kann noch mehr kommen.

Turin 1962: nach langer Lähmung – die Fiat-Arbeiter haben sich jahrelang nicht mehr an Gewerkschaftsstreiks beteiligt – bricht sich unerwartet eine Revolte Bahn. Die Fiat-Arbeiter beteiligen sich am Generalstreik für den nationalen Tarifvertrag, ziehen zum Gewerkschaftshaus, um gegen den Separat-Tarifvertrag der rechten Gewerkschaft UIL zu protestieren. Die Polizei greift ein. Auf der Piazza Statuto entwickelt sich eine tagelange Straßenschlacht, in der die Bewohner der umliegenden Viertel kräftig mitmischen. Rock’n Roll! Zornige junge Männer in Ringelpullis werden zu Protagonisten der Geschichte.

Melfi 2004: Zehn Jahre haben die ArbeiterInnen die Hölle im modernsten Fiat-Werk ertragen, sich lange nicht gewehrt, als sie dann aber kämpfen, sprengen sie die gewerkschaftlichen Verhandlungsrituale. Zusammen mit den wilden Streiks im Dezember 2003 im Öffentlichen Nahverkehr und dem Kampf bei Alitalia schlägt der Streik bei Fiat ein neues Kapitel im Klassenkampf auf.

Die Untersuchung …

Wenn Linke in den letzten Jahren von Postfordismus oder vom Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion sprachen, wollten die meisten damit nur sagen: den Klassenkampf gibt es nicht mehr. Melfi zeigt, dass Geschichte nicht in starre Phasen eingeteilt werden kann. Sind die ArbeiterInnen in Melfi Massenarbeiter oder immaterielle Arbeiter? Kann man eine Fabrik posttayloristisch nennen, in der nur leicht abgewandelte MTM-Zeitmessungsverfahren das Arbeitstempo diktieren? Können Autofabriken überhaupt post-fordistisch sein?

Die Gruppe um die Quaderni Rossi wollte mit ihrer Untersuchungsarbeit bei Fiat und Olivetti eine neue politische Beziehung zur Arbeiterklasse herstellen. Ihre Probleme und Kämpfe sollten wieder zentraler Bezugspunkt von revolutionärer Politik werden. Das hieß, alle Fragen neu zu stellen und vor allem: die reale Arbeiterklasse zu (unter-) suchen. Die tiefgreifenden Umwälzungen der 50er Jahre – Umstellung von Kohle auf Erdöl, Ausweitung der Fließbandproduktion, Durchsetzung des Autos, große Landflucht – hatten auch die Arbeiterklasse verändert. Die Gewerkschafter bei Olivetti sahen die Neuen vom Land nicht einmal als richtige ArbeiterInnen, und diese selbst sahen ihre Arbeit zunächst gar nicht als richtige Arbeit, sondern als »Knöpfe drücken«.

Die Untersuchungen von 1961 versuchen das herauszuarbeiten: die Herkunft der ArbeiterInnen, ihre bisherigen Arbeitserfahrungen, ihre Wohnungsprobleme, ihre Freizeitbeschäftigungen, ihre Sichtweise auf die Machtverhältnisse in der Fabrik. Ganz im Gegensatz zu dem Fabrikismus, der viele spätere »Betriebsinterventionen« von Linken auszeichnet, nämlich die Reduktion der ArbeiterInnen auf ihre Probleme im Betrieb, auf Fragen von Lohn, Arbeitszeit, Pausen, Arbeitsorganisation – standen in diesen ersten Mituntersuchungen die ArbeiterInnen als ganze Menschen im Mittelpunkt.

… braucht theoretische Instrumente

Die Fragen an die ArbeiterInnen zeigen die politischen Ideen der Untersucher. Anfangs waren sie noch auf der Suche nach einer kollektiven Arbeiterintelligenz, die sowohl das Bedürfnis als auch die Fähigkeit hat, die Fabriken selber zu leiten im Sinne einer Arbeiterkontrolle über die Produktion. Bei der Olivetti-Untersuchung sind die Fragen offener und radikaler, denn da hatten sie, ausgehend von Marx, auf theoretischer Ebene schon eine Kritik der kapitalistischen Maschinerie entwickelt.

Klassenzusammensetzung

Die Quaderni Rossi hatten die These, dass es zu einer Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse kommen würde, d.h. dass sich die Arbeiter auch gegen die Ausbeutung in den neuen Fabriken zur Wehr setzen und kämpfen. Klassenzusammensetzung ist eher eine Kampfparole als ein soziologischer Begriff, nämlich die Behauptung, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Produktionsweise und Bedürfnissen, Arbeitsorganisation und Organisation der Kämpfe, der direkten Tätigkeit der ArbeiterInnen und ihren Verhaltensweisen.

In seinen Texten, die später in dem Band »Arbeiter und Kapital« zusammengefasst wurden, stellte Tronti zum ersten Mal Arbeitskraft und Arbeiterklasse antagonistisch gegenüber. Arbeitskraft bezeichnet die ArbeiterInnen als variables Kapital, Produktionsfaktor, der ausgebeutet wird. Arbeiterklasse hingegen ist die Eroberung einer kollektiven politischen Macht durch die Verweigerung der Verausgabung von Arbeit. Diese Unterscheidung bildet die Voraussetzung für die methodologische Unterscheidung zwischen technischer und politischer Zusammensetzung.

Indem er radikal von der Arbeiterseite ausging, drehte Tronti das Verhältnis von »Kapital und Arbeit«, wie es die Orthodoxie vertrat, um: Die Klassenzusammensetzung ist historisch gegeben, mit ihr muss sich das Kapital auseinandersetzen. »Das Klassenverhältnis geht dem Kapitalverhältnis voraus«. Das heißt, die Arbeiterklasse ist der Entwicklung des Kapitals voraus. Und die Maschinerie ist die kapitalistische Antwort. So wurde der Arbeiterkampf als Angriffskraft herausgearbeitet, und nicht als Reaktion auf die erlittene Ausbeutung. Das machte Trontis Texte ungeheuer attraktiv. Sie wirkten wie eine Droge auf die jungen Militanten der 60er und 70er Jahre, weil sie die Möglichkeit (und »Machbarkeit«!) der Revolution vor Augen führten.

Klassenzusammensetzung bedeutete die Kristallisation von Verhaltensweisen, Bedürfnissen und Kampftraditionen. Es war ein materialistischer Ansatz, der das Konzept »Klassenbewusstsein« ersetzte, das von außen in die Klasse hineingetragen werden muss. Klassenzusammensetzung soll beides fassen: die technische Struktur der Klasse und wie sie sich selbst (politisch) in ihren Kämpfen konsolidiert. Aber wie aus Arbeitskraft Arbeiterklasse wird, bleibt auch bei Tronti widersprüchlich: Zuweilen fasst er es beinahe als mechanischen Prozess, an anderen Stellen wird voluntaristisch eine neue politische Zusammensetzung konstruiert. Der Wechsel zwischen beiden Interpretationen kennzeichnet den Operaismus von Anfang an.

Aufgrund der Zuspitzungen Trontis wurden die Schlussfolgerungen teilweise beliebig, aus den größten Niederlagen kann man Siege machen (»Die Arbeiter verweigern den Kampf.«) Der »Operaismus als Philosophie« taugt nicht als Theorie für defensive Situationen. Es gibt aber auch ein methodisches Problem: Wenn jede Aktion des Kapitals als Re-Aktion auf den Klassenkampf begriffen wird, gibt man implizit den inneren Zusammenhang zwischen Klasse und Kapital auf. Das Kapitalverhältnis als Machtverhältnis zu sehen läuft Gefahr, Arbeiterklasse und Kapitals als voneinander getrennte Mächte zu begreifen, die sich im unerbittlichen Kampf gegenüber stehen. Tronti schreibt von der »inneren Geschichte der Arbeiterklasse …, die neben der des Kapitals zu rekonstruieren ist«. Dann haben wir es aber mit zwei getrennten Geschichten zu tun. Hier waren bereits die Fudamente gelegt für die ontologische Herleitung der Multitude, wie Negri sie in Empire betreibt.

Zyklen – Arbeiterfiguren – Massenarbeiter

Das Konzept Klassenzusammensetzung wurde auch benutzt, um die historischen Klassenkämpfe besser zu verstehen. Wenn sich der Kapitalismus in Zyklen entwickelt hat, dann musste jeweils vor dem Zyklus des Kapitals ein Arbeiterkampfzyklus rekonstruiert werden. Im Zentrum jedes kapitalistischen Zyklus steht eine bestimmte Arbeiterfigur.

Das zentrale Subjekt in den Fabrikkämpfen der 60er/70er Jahre war »der Massenarbeiter«: die ungelernten ArbeiterInnen, die in den Montagehallen und an den Fließbändern immer gleiche Handgriffe verrichten mussten, weit entfernt von altem Produzenten- und Facharbeiterstolz. Als Sergio Bologna den Begriff zum ersten Mal 1967 auf einem Seminar in Padua benutzte, wollte er damit gegen neu-aufgelegte leninistische Organisationsvorstellungen argumentieren und zeigen, dass die Klassenzusammensetzung des Massenarbeiters diese längst überholt hatte. (Die ersten Massenarbeiterkämpfe hatten in den 30er Jahren in den USA stattgefunden.) Im Heißen Herbst 1969 bestätigte sich die Massenarbeiterthese in Italien.

Im Gefolge wurde aber auf der Basis dieser speziellen Figur eine allgemeine Geschichtsphilosophie erstellt, mit der die weitere Untersuchungsarbeit in einen Käfig gezwungen wurde. Es tauchten nun Formulierungen auf wie »die Gesetze der Bewegung der Arbeiterklasse« oder »einer bestimmten technischen Zusammensetzung der Arbeitskraft entspricht notwendigerweise ein System von sozialen Verhaltensweisen, die als typisch angesehen werden können. Ihr muss eine bestimmte politische Ausdrucksweise entsprechen …«. Die Fortsetzung war dann, eine Organisation zu gründen, die diese repräsentieren sollte – was dem ursprünglichen Gedanken der Arbeiteruntersuchung diametral entgegengesetzt war.

Die theoretische und organisatorische Diskussion in den 60er Jahren hatte ihr Korrektiv immer in der Arbeiteruntersuchung. Viele der damaligen Thesen sind offene Baustellen geblieben. Was damals ambivalent war, konnte von den Epigonen – ohne bezug auf reale ArbeiterInnen - in die eine oder andere Richtung gebogen werden.

Die einfache »Ableitung« der Kampfformen aus der technischen Klassenzusammensetzung hat beim Massenarbeiter noch funktioniert, danach nicht mehr. Seit über 30 Jahren gibt es keinen kapitalistischen »Zyklus« mehr, der ähnliche Charakteristiken hätte wie die vorangegangenen. Damit platzen die Periodisierungsversuche. Mit dem Begriff Postfordismus treiben Postoperaisten die Periodisierung im schlechtesten Sinne weiter. Sie machen damit aus einer defensiven Situation ein historisches Gesetz: Klassenkampf ist nicht mehr – und geht nicht mehr.

In den letzten zehn Jahren galt die Fiat-Fabrik in Melfi allenfalls als Untersuchungsobjekt für Soziologen und Managementberater. In der Modellfabrik auf der grünen Wiese konnte man die kapitalistische Restrukturierung und ihre Auswirkungen auf die Arbeitskraft studieren. Das Projekt schien für die Kapitalseite wunderbar zu funktionieren. Nun haben sich die »postfordistischen« ArbeiterInnen zu Wort gemeldet und lassen die Idee der Mituntersuchung wieder attraktiv erscheinen: eine Untersuchung, wo die Beschreibung der Struktur der Arbeitskraft nur der Ausgangspunkt, aber noch lange nicht das Resultat ist.




Classe Operaia
1964-67, Abspaltung von Quaderni Rossi, die »Zeitschrift von Tronti« (zusammen mit Negri, Bologna, Alquati…) Ihr Gründungsmanifest, Trontis programmatischer Artikel Lenin in England, erschien als Editorial der ersten Nummer. Es ist eine Skizze der neuen Arbeiterwissenschaft, Tronti versucht, die revolutionäre Subjektivität der Arbeiterklasse materialistisch zu begründen. Panzieri hatte diesen Aufsatz bereits 1963 als »hegelianisch« und »Arbeiterphilosophie« kritisiert.
Mit Classe Operaia beginnt die eigentlich operaistische Phase; hiermit beginnt auch die »kopernikanische Wende« (die Arbeiterklasse geht dem Kapital voraus), die Zentralität des Lohnkampfs usw.. Trontis Denken dreht sich immer stärker um die Partei. Ende 1966 sind die Redaktion im Veneto und diejenige in Rom (Asor Rosa, Mario Tronti) verfeindete Fraktionen. Am Ende treten die Römer wieder in den PCI ein, Classe Operaia wird eingestellt – die anderen gründen später PotOp.

Die Olivetti-Untersuchung von Alquati und Texte von Panzieri findet Ihr hier

Mario Tronti, Arbeiter und Kapital, Frankfurt 1974.

Futuro Anteriore (Vorweggenommene Zukunft)
Guido Borio, Fancesca Pozzi, Gigi Roggero: Futuro Anteriore – Dai »Quaderni Rossi« ai movimenti globali: ricchezze e limiti dell’operaismo italiano, (Von den QR zu den globalen Bewegungen: Reichtümer und Grenzen des italienischen Operaismus), 2002, Verlag DeriveApprodi. Auf einer CD sind die 58 Interviews im vollen Text beigelegt, die von Tronti über Alquati, Cacciari, Bologna, Negri, Moulier Boutang, Gambino, Bifo, Rieser usw. die gesamte Prominenz, aber auch weniger bekannte Personen versammeln, mit politischen Biographien und Stellungnahmen zu den Ereignissen und Zerwürfnissen der 60er und 70er Jahre. Eine Fundgrube für Operaismus-Forscher.



aus: Wildcat 70, Sommer 2004


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