Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 47–50 [w71_davis.htm]
Slumleben?
Slum machen!»In der ganzen Geschichte des Kapitalismus sind Menschen vom Dorf in die Stadt geflüchtet, vom Acker in die Fabrik, vom »Süden« in den »Norden« – in den letzten 25 Jahren überwiegt diese Flucht bei weitem die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals; die MigrantInnen bilden riesige Belagerungsringe um die Weltmetropolen; es gibt eine weltweite Krise der Städte.« (Plakat, Beilage in der Wildcat 69)
Mike Davis, Planet of Slums, new left review 26 (Frühjahr 2004)
Mike Davis' letztes Buch »Late Victorian Holocausts« ist im Juli auf Deutsch erschienen:
Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt – Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter
Assoziation A, Berlin – Hamburg 2004;
ISBN 3935936117; Gebunden, 464 Seiten; 29,50 Euroweitere wichtige Bücher desselben Autors:
Mike Davis, City of Quartz – Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles
ISBN 3-924737-23-1;
520 Seiten; 23 EuroMike Davis, Phoenix im Sturzflug. Zur politischen Ökonomie der Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren, Berlin 1986
Erstmals in der Geschichte sind die ArbeiterInnen sowohl relativ als auch absolut die größte Klasse auf der Welt. Ländliche Bevölkerung wird durch die Agrar- und später Grüne Revolution »überflüssig« und zieht in die industriellen Zentren – in diesem Zwang steckt aber auch die Hoffnung, dass Lohnarbeit und durch Geld geregelte soziale Verhältnisse von den ländlich/feudalen Bindungen befreien. In der Fabrik entsteht eine neue Klasse, deren Wünsche und Bedürfnisse steigen – und die lernt, diese kollektiv durchzusetzen. Das Kapital sucht deshalb die »frische Arbeitskraft«, die »grüne Wiese« und zieht dafür um die ganze Welt. Die ständige Unterschichtung und Umwälzung ist notwendig, um die Arbeitermacht zu unterlaufen. Die berechtigte Hoffnung auf das »bessere Leben« ist wichtig, um die frisch Proletarisierten an die Arbeit zu binden.
Diese Entwcklungsperspektive ist – im Gefolge der tiefen Krisen in den 70er Jahren – seit den 80er Jahren für große Teile der Menschheit nicht mehr gegeben. Neue Industrialisierung im größeren Maßstab und damit Mehrwertakkumulation, aber eben auch vollständige Proletarisierung, die eine Arbeiterklasse entstehen lässt, findet nur noch im Norden Mexikos (als NAFTA-Auswirkung) und in Süd-Ost-Asien (dort besonders in China) statt. Dennoch geht der jahrhundertelange Prozess der Urbanisierung trotz der Krise der kapitalistischen Verwertung weiter. Mit explosiven Folgen: So wie die Klassenkämpfe im (historischen und geografischen) Zentrum des Kapitalismus, wurden die Kämpfe um die Reproduktionskosten der Proletarisierten in den mittlerweile untergegangenen Entwicklungsstaaten in den letzten Jahrzehnten städtische Kämpfe.
Die klassische Stadt
Im Jahr 1800 betrug die Urbanisierung 2%, 1950 30% und jetzt leben von 6,4 Milliarden Menschen 3,2 Milliarden in Städten; 1,9 Milliarden in der Dritten Welt; 1 Milliarde in sogenannten Slums. Die Hälfte der Slum-BewohnerInnen ist unter 20 Jahren alt.
Manchester, Berlin und Chicago waren Beispiele für die frühe kapitalistische Urbanisierung, die an Industrialisierung und Entwicklung gebunden war. In der oben beschriebenen Kombination von Einsaugung/Vertreibung ländlicher Bevölkerung und »Stadtluft macht frei« entstand in den Fabriken und der Lohnarbeit eine neue Klasse – die ArbeiterInnenklasse. Diese Proleten erkämpften sich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Lebensstandard, wo niemand mehr verhungern muss. Kapitalismus, Industrialisierung und Entwicklung waren über Generationen im Klassenkampf miteinander verwoben. In den 70er Jahren fand eine ähnliche Entwicklung beispielsweise in Südkorea statt, heute in Ciudad Juarez, Bangalore und Guangzhou. Das Problem des Kapitals: die Zeiträume werden immer kürzer, in denen sich diese IndustriearbeiterInnen ähnliche Bedingungen wie in den Metropolen erkämpfen.
Der Slum, die neue Stadt
Zwei Drittel des globalen Bevölkerungszuwachses seit 1950 konzentriert sich in Städten. Es wird erwartet, dass 95 Prozent des weiteren Bevölkerungszuwachses in städtischen Regionen in Ländern der Peripherie stattfinden wird.
Doch die weitaus meisten Urbanisierungsprozesse sind heute nicht mehr an Entwicklung gebunden. Kinshasa, Khartum, Dar es Salaam, Dhaka, Lima… Auch im Frühkapitalismus gab es nicht nur Städte wie Manchester, sondern auch Dublin, das sich an der Peripherie der englischen Industrialisierung befand. Irland war von ihren Folgen, wie Hungersnöte und Landvertreibung betroffen, ohne jedoch selbst eine Industrialisierung zu erleben. Aber damals war Dublin die Ausnahme – und die »weißen Sklaven« hatten die Möglichkeit, in die USA auszuwandern. Heute ist ein Selbstversorgerleben für eine Milliarde Menschen weder attraktiv noch möglich. In China geht man, neben 150 Millionen WanderarbeiterInnen, noch einmal von der gleichen Zahl »überflüssiger« Landbevölkerung aus; in Polen wird sich die massive Landvertreibung/–flucht noch verschärfen, und die Besiedlung anderer Planeten ist noch nicht möglich. So bilden sich Belagerungsringe um die Industrieländer, und das Staubecken Land verlegt sich in die Stadt.
Dies ist der Ausgangspunkt von Mike Davis’ Text »Planet of Slums«, der im Frühjahr 2004 in der new left review 26 erschienen ist. Davis stützt sich auf eine Studie der UN Habitat vom Oktober 2003, deren wichtigste Zahlen und Fakten wir nebenstehend zusammengefasst haben. Wir möchten euch Davis’ Text in seinen Hauptaussagen vorstellen und allen englischsprachigen LeserInnen die Lektüre empfehlen.
Der Knick
In den dreißig reichsten Ländern der Welt finden sich nur zwei Prozent der Slumbewohner, während 80 Prozent der urbanen Bevölkerung in den 30 am wenigsten entwickelten Ländern leben. Über die Hälfte der Slumbewohner leben in Asien, 20 Prozent in Afrika, 14 Prozent in Lateinamerika.
Trotz der ungleichen Bedingungen des Weltmarkts bis in die ‘70er Jahre hinein hatten viele Länder sowohl einen beträchtlichen öffentlichen Dienst als auch eine exportorientierte Industrie aufgebaut. Diese Entwicklung brach (bis auf wenige Ausnahmen besonders in Süd-Ost-Asien und China) mit der Schuldenkrise der achtziger Jahre ab. In Kinshasa verschwand die Mittelschicht, in Abidjan (eine der wenigen tropisch-afrikanischen Städte mit bedeutendem Produktionssektor) führten die folgenden »Strukturanpassungsmaßnahmen« (SAP) des IWF zu Deindustrialisierung und einem massiven Abbau öffentlicher Infrastruktur, in Lima fiel der Mindestlohn während der IWF-Rezession um 83 Prozent, 1989 lebten 44 Prozent unter der Armutsgrenze (1985: 17 Prozent). Die städtische Ungleichheit explodierte. Zuziehende ländliche Bevölkerung, entlassene ArbeiterInnen und städtische Angestellte waren gezwungen, in favelas (Brasilien), gecekondus (Türkei), iskwaters (Manila), intra-murios (Rabat) usw. zu ziehen.
Davis beschreibt die Folgen als dramatischer, tiefer und länger als die der ersten weltweiten Krise des Kapitalismus, der great depression von 1873 – 96, in der erstmalsMenschen hungern mussten, weil die Menschheit zuviel produzierte. Aber er stellt keinen Zusammenhang zwischen der IWF-Politik und der heutigen kapitalistischen Krise her. Gerade so, als ob es auch eine Alternative zu diesen Maßnahmen gegeben hätte, sind bei ihm die Vertreter des Kapitals frei in ihren Entscheidungen. Dabei ist die weltweite Nord-Süd-Spaltung des Kapitalismus nicht dem Rassismus der Herren geschuldet, sondern einem umkämpften Klassenverhältnis, welches sich zeitlich und geografisch in Schüben entwickelte. Entwicklung als reales Versprechen war notwendig, um dieses Klassenverhältnis aufrechtzuerhalten. Das »Ende der Entwicklung« stellt den Kapitalismus als weltweites Vergesellschaftungsmodell materiell in Frage.
Transformierende Landschaften
Die asiatische Urbanisierung geht doppelt so schnell wie die in Europa/USA vonstatten. 2015 werden Dhaka, Mumbai und Delhi zu den fünf größten Städten weltweit zählen. Eine Mega-Stadt mit 10 Millionen EinwohnerInnen benötigt täglich 6000 Tonnen Lebensmittel.
Honkong-Guangzhou und Bejing-Tianjin entwickeln sich zu städtisch industriellen Zonen ähnlich dem Ruhrgebiet am Rhein, New York-Philadelphia oder Tokio-Osaka. Shanghai wird zu einer Weltstadt wie Tokio, New York und London aufsteigen, wo die Kontrolle über weltweite Kapital- und Informationsflüsse konzentriert ist. Doch solche Entwicklungen bleiben die Ausnahme. Megacities (>8 Millionen) oder Hypercities (>20 Millionen) wie Dhaka, Mumbai und Delhi verdecken spektakulär, dass der Bevölkerungszuwachs hauptsächlich in »second-tier cities and smaller urban areas« stattfindet, was zu einer ländlich/städtischen Hybridisierung führt. Diese modernen Städte sind Ballungszentren, urbane Regionen, sie entwickeln keine »städtische Kultur« mehr im scharfen Kontrast zur »Idiotie des Landlebens«. Die oft auf ein Mindestmaß zurückgeschraubte öffentliche Infrastruktur kommt der Entwicklung nicht nach; UN-Fachleute beschreiben das als »Involution«. Allein die Wortwahl macht deutlich, dass die moderne Stadt etwas Neues, noch Unbenennbares ist:
Hunderte von Menschen, die dieselbe Toilette benutzen; kaum Zugang zu sauberem Trinkwasser; die Hälfte des Lohns geht für die Transportmittel zur Arbeit drauf; unkontrollierbare Viertel, die der Staat nur mit Bulldozern und Überfallkommandos betritt – dies deutet die Lebensrealität im »Staubecken« der modernen Stadt an.
Während das Staubecken Land der Nord-Süd-Spaltung Schauplatz vieler Hungerkatastrophen war, lässt die Stadt die proletarischen Armen kaum noch verhungern. Aber sie erleben den Wahnsinn dieses Systems handgreiflich, wenn eine mexikanische Hausangestellte den Rasen ihrer Arbeitgeber mit Trinkwasser gießt, während ihre Kinder im Slum kein sauberes Trinkwasser haben.
Die UN Habitat hat einen anderen Blick auf die Verhältnisse. Auch wenn Davis einen »Paradigmenwechsel« bei UN Habitat feststellt, da erstmals der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Schuldenkrise der achtziger und den SAP der neunziger Jahre mit dem rapide sinkenden Lebensstandard in den urbanen Zonen der Peripherie benannt wird, ändert das nichts an der Tatsache, dass die UN »von oben« auf die Verhältnisse guckt. Mit Slum meint die Studie weniger die Lebensverhältnisse, sondern eine Vergesellschaftung in urbanen Gebieten, die kaum noch zu kontrollieren, zu beherrschen und zu verwalten ist. Sie steht in der Logik, der u.a. von Walton (s.u.) festgestellten zyklischen Moden: immer wenn von den städtischen Massen Gefahr für die kapitalistische Herrschaft droht, werden Untersuchungen gemacht und Programme zur Verbesserung ihrer Lage aufgestellt.
Die UN-Mitgliedsländer haben sich in der »Millenniums-Erklärung« verpflichtet, das Leben von mindestens 100 Millionen Slum-Bewohnern bis zum Jahr 2020 zu verbessern – durch Maßnahmen bei der Wasserversorgung, der Abwasser- und Abfallbeseitigung, durch Verminderung von Umweltgefahren, Einrichtung von Gesundheitsstationen und Schulen, Schutz vor Umsiedlungen und »Slum-Upgrading«. Das ist zynisch angesichts der heutigen Zahl von einer Milliarde von Slumbewohnern (die bis 2030 nach UN-Berechnungen auf zwei Milliarden ansteigen wird), aber eigentlich eher ein Eingeständnis der Unfähigkeit. Beispielsweise sind schon heute die meisten urbanen Flächen kartografisch gar nicht erfasst (und würde der Versuch unternommen, hätte der fertige Plan nicht mehr viel mit der Realität zu tun).
Der informelle Sektor
50 Prozent der städtischen ArbeiterInnen in den Entwicklungsländern sind im informellen Sektor beschäftigt. Die ILO gibt beispielsweise für Kenia einen Wert von 44, für Pakistan von 69, für Kolumbien von 62 und für Paraguay gar von 69 Prozent an (ILO, 1996). 57 Prozent der ArbeiterInnen Lateinamerikas arbeiten im informellen Sektor; auch hier ist das Wachstum überproportional: vier Fünftel der »neuen« Jobs entstehen im informellen Sektor (laut Inter-American-Development Bank).
Die Internationale Arbeitsorganisation ILO definiert alle Aktivitäten ohne staatliche Registrierung, die somit in Bezug auf Arbeitsrecht, Sicherheits- oder Gesundheitsstandards formal ungeregelt sind, als informell. Sie zeichnen sich meist aus durch niedrige Qualifikation und Produktivität, geringen Maschinen- und Kapitaleinsatz und kleine Unternehmensgrößen.
Die städtischen Armen, die deklassierten Städter und die zugezogenen LandarbeiterInnen sichern sich ihr Überleben im informellen Sektor, der häufig aus dem Einfallsreichtum der Frauen entspringt. Mangels Fabriken und genügend Jobs in der städtischen Infrastruktur und Verwaltung, machen sie bereits die Mehrheit in den Ländern der Peripherie aus und ihre Zahl nimmt schneller zu als die anderer Beschäftigtengruppen.
Davis widerspricht der neoliberalen Propaganda, die den »informellen Sektor« als modernes Unternehmertum einer zukünftigen Dienstleistungsgesellschaft feiert. Auch wenn er in einzelnen Fällen an die Weltmarktproduktion angebunden ist, warnen verschiedene Untersuchungen vor der Annahme, er könne den formellen Sektor ersetzen. Sowohl die Einkünfte als auch die Produktivität seien zu gering, um eine Gesellschaft zu reproduzieren und das Funktionieren einer Stadt zu sichern. Außerdem bleibt die Nachfrage abhängig von den Einkommen des formellen Sektors.
Davis nennt das Anwachsen des informellen Sektors »Reproduktion der absoluten Armut«. Das informelle Proletariat könne nicht mehr als industrielle Reservearmee oder Lumpenproletariat im Sinne des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Letztlich stehe es außerhalb des Weltsystems, da es weder als produktive ArbeiterIn, noch als KonsumentIn auftrete.
Aber stellt sich die Frage nach einem innerhalb oder außerhalb des kapitalistischen Weltsystems überhaupt noch? Die Multis haben ihre Tentakel tief in die weltweite gesellschaftliche Kooperation ausgestreckt, Autoproduktion läßt sich z.B. bis in kleinste Klitschen in Indonesien verfolgen. Gleichzeitig ist der in Städten lebende Teil der Weltbevölkerung von der Möglichkeit der Subsistenzproduktion abgetrennt, verhungert aber trotzdem nicht.
Spannend ist Davis da, wo er die Umrisse dieser neuen Klasse zu zeichnen versucht, die sich im weltweiten Klassenverhältnis herausschält. Die ProletarierInnen des informellen Sektors sind ein Teil davon. Wie können sie sich unter diesen Bedingungen organisieren und wie lernen sie zu kämpfen? Mündet diese Klassenzusammensetzung – die ähnlich wie die moderne Stadt, eine neue, unbenennbare ist – in eine weltweite Kampfbewegung?
Der heilige Geist
Nach Davis ist Gott in den kapitalistischen Städten während der industriellen Revolution gestorben, um jetzt in den post-industriellen Städten der Entwicklungsländer wieder aufzuerstehen. Davis stellt einen engen Zusammenhang zwischen dem wachsenden informellen Sektor und religiösen Massenbewegungen fest. Die Pfingstlerbewegung sei die »weltweit größte selbstorganisierte Bewegung städtischer Armer«. Ähnlich wie populistische islamische Bewegungen sind sie in den Slums vertreten. Ihre Sprecher sind häufig selbst dort aufgewachsen. Davis problematisiert in diesem Zusammenhang, inwieweit die soziale Lage sie von der Kampfpraxis der ArbeiterInnen des formellen Sektors trennt, er verweist auf erfolgreichen Populismus, ethnische Mobilisierungen und politischen Klientismus. Er stellt die Frage, ob die städtischen Armen bloßer Spielball politischer Mobilisierungen sind, oder ein Vulkan vor der Explosion – möchte sie aber nicht beantworten.
Es überrascht, dass Davis in keiner Weise auf E. P. Thompson eingeht, der in seinem The Making of the English Working Class doch gerade auf die Bedeutung von millenaristischen Sekten1 beim Entstehen der Arbeiterklasse hingewiesen hat. Es ist zwar richtig, auf die Begrenzungen in den Kämpfen hinzuweisen, doch gibt es auch in den von ihm zitierten Texten genauere Analysen, die eine neue Dimension herausarbeiten. So spricht beispielsweise John Walton von einer »neuen sozialen Bewegung für Demokratie unabhängig vom Staat«, in denen sich die »größte Demokratisierung der Weltgeschichte« ausdrücke (Urban conflict and social movements in poor countries – 1997). Und der Ort all dieser Bewegungen liege fast immer in »urbanen Gebieten«. Das Insistieren von Davis auf den SAPs ist nach Walton in dem Sinne richtig, dass sie zu Widerstand geführt haben, der seither nicht mehr abgerissen ist. Die SAPs haben zum Zusammenbruch der »moral economy« der Unterschichten geführt, deren Stillhalten zuvor die Stabilität der Entwicklungsstaaten gerantiert hatte. Es lasse sich auch statistisch zeigen, wie es in der Folge der SAPs zu einer noch nie dagewesenen internationalen Welle von »städtischen Protesten« kam. Im Lauf einer Generation von in die Städte Gewanderten hatte sich eine »moralische Ökonomie« auf der Basis entwickelt, dass harte Arbeit und politisches Stillhalten zu Bürgerschaft in der Stadt und einem Arbeitsplatz führen. Mit dem Zusammenbruch dieser »moralischen Ökonomie« im Gefolge der Schuldenkrise und der Kürzungsprogramme sieht Walton die größte Gefahr für den Kapitalismus.
Seine mehr als 20jährigen Forschungen bringen Walton zu dem Schluss, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Über-Urbanisierung und Revolte gibt. Wobei er »Über-Urbanisierung« definiert als Differenz zwischen der Urbanisierung eines Landes und seiner wirtschaftlichen Entwicklung, eine andere Formulierung für denselben Tatbestand: die Migrationsströme der ProletarierInnen in die Metropolen überwiegen die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals.
Fazit
Mike Davis blickt auf die ganze Welt, über die weltweite Urbanisierung kommt er auf die Subjekte dieser Entwicklung zu sprechen und stellt wichtige Fragen: Wie lebt die Mehrheit der Menschen, wie arbeiten die städtischen Armen, welchen Platz haben sie im kapitalistischen Weltsystem und was heißt das für ihre, für unsere Kämpfe?
1 Millenaristisch/Millenarismus (Chiliasmus): die Lehre von einer tausendjährigen Herrschaft Christi auf Erden am Ende der geschichtlichen Zeit (Offenbarung 20,1-109; im Mittelalter am deutlichsten formuliert von Joachim von Fiore. Nach dem Zeitalter des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament) sollte das tausendjährige Zeitalter des Geistes beginnen; heute verbreitet bei verschiedenen Sekten (Adventisten, Wiedertäufer, Mormonen, Zeugen Jehovas). (nach dem Glossar in M.Davies, Die Geburt der Dritten Welt)
aus: Wildcat 71, Herbst 2004