Wildcat Nr. 74, Sommer 2005, S. 00–00 [w74_ibm.htm]



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Rote Käppis bei IBM

Auslagerungen in der »IT-Industrie«


IBM-Angestellter: das war in der 70er Jahren noch was! Anzug, weißes Hemd mit Schlips und seriöses Auftreten waren vorgeschrieben, hohes Gehalt und »Vertrauensarbeitszeiten« selbstverständlich. Und heute? Im April 2005 stehen 700 hochqualifizierte IBM-Beschäftigte mit roten Gewerkschafts-Käppis und Fahnen vor der IBM-Zentrale in Stuttgart-Vaihingen und protestieren gegen die Verlagerung »ihrer« Rechenzentren in Hannover und Schweinfurt nach Tschechien und Ungarn. Ist das nun die »Proletarisierung der TechnikerInnen«, die linke Industriesoziologen seit den 60er Jahren vorhersagen?

Einst deckte der von den USA aus weltweit agierende EDV-Konzern die gesamte Palette ab: von Halbleiterproduktion über den Bau von Großrechnern bis zu elektrischen Schreibmaschinen, von Betriebssystemen bis zu PCs, Druckern und Festplatten. In den letzten Jahren hat IBM nach und nach fast die gesamte Hardwareproduktion abgestoßen, geblieben ist davon nur der Server- und Großrechner-Bereich. Seitdem ist der Consulting-Bereich zum zentralen Geschäftsbereich geworden, in den weiter investiert wird, z.B. durch die Übernahme anderer Consultingfirmen.

Im Zusammenhang mit dieser Umstrukturierung müssen die Beschäftigten Federn lassen: Im April 2005 gab der Konzern den bevorstehenden Abbau von 10-13  000 Arbeitsplätzen bekannt, 30 Prozent davon in Europa. Alle Standorte, wo der Gewinn zurückgegangen ist, werden quer durch die Tätigkeitsfelder reduziert. Mit dem massiven Stellenabbau bekommen erstmals auch die Gewerkschaften in diesem Sektor einen Fuß in die Tür. In Toulouse und Marseille wurde am 3. Mai gestreikt. Am 23. Mai gab es einen weltweiten Aktionstag. Ein Streik lag in Deutschland nicht in der Luft, aber der Unmut steigt; die spezielle Firmenkultur, für die IBM lange stand, ist am Bröckeln. Als Anfang der 90er Jahre bei IBM Deutschland massiv Stellen abgebaut wurden, geschah dies über satte Frühverrentungsprogramme, die unter 50jährigen (!) zu einem gemütlichen Vorruhestand verhalfen.

Auch der jetzige Stellenabbau sollte wieder über Aufhebungsverträge laufen, die aber wohl nicht mehr ganz so üppig ausfallen, denn ein Teil der Belegschaft hat diesmal die Unterschrift verweigert und klagt, so dass es zum ersten Mal bei IBM/Deutschland betriebsbedingte Kündigungen geben könnte. Dabei waren Schweinfurt und Hannover nur ein Testballon. IBM will im Lauf des Jahres in der BRD weitere 700 Stellen über Aufhebungsverträge abbauen, insgesamt sollen 1600 von 25.000 Jobs wegfallen. Am 25. Juni meldete die New York Times, dass IBM noch dieses Jahr 14 000 Stellen in Indien schaffen wolle.

Mit der Umstrukturierung des eigenen Konzerns wendet IBM das Produkt, das er als Dienstleistung an andere »Global Players« verkauft, auf sich selbst an: Geschäftsprozesse erfassen, vereinheitlichen, IT standardisieren. Die Standardisierung schafft Vergleichbarkeit und Ortsunabhängigkeit nun auch in den hochqualifizierten Bereichen der Beschäftigten, nachdem die »einfachen« Tätigkeiten wie Call Center schon ausgelagert wurden.

Offshoring

Nach der Krise 2001 wurden in den USA massiv IT-Jobs abgebaut. Danach begann das Offshoring, die Nutzung von Produktionskapazitäten in Niedriglohnländern, in großem Maßstab. Beides hat dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Sektor bei neun Prozent liegt und dass heute an amerikanischen Unis sehr viel weniger Softwareingenieure ausgebildet werden als noch vor ein paar Jahren. Mit etwas Verspätung geht jetzt auch in der BRD massiv die Diskussion über Offshoring los. Bei Industrie- und Dienstleistungsunternehmen läuft eine neue Welle des Outsourcings zur Senkung der Leistungstiefe, die z.B. bei deutschen Banken bislang noch 80 Prozent beträgt, im Gegensatz zu 25 Prozent in der Autoindustrie. Dieser Prozess läuft meist in mehreren Phasen ab: Zuerst wird das Unternehmen hier umstrukturiert, indem bestimmte Prozesse an einem Standort konzentriert werden. Dann wird dieser Arbeitsprozess komplett ausgelagert. Manchmal reicht auch die Drohung mit Auslagerung, um eine Veränderung der Strukturen hier durchzusetzen.

Man könnte die These aufstellen, dass die Gewerkschaften vor allem seit der IT-Krise und in der jetzigen Auslagerungswelle besser Fuß fassen können. 2004 ergab eine Umfrage im Auftrag der Böckler-Stiftung, dass IT-Beschäftigte nicht mehr grundsätzlich gegen Gewerkschaften oder Betriebsräte seien. Allerdings scheinen selbstorganisierte Internet-Foren mehr Zulauf als die Gewerkschaften zu haben. Da Gewerkschaften praktisch nur in den großen, schon länger bestehenden IT-Konzernen vertreten sind, sind sie durch das »Offshoring« selbst bedroht. ITK, das Magazin der IG Metall für Beschäftigte der Informationstechnologie- und Kommunikationsbranche, ist voll von Berichten über Auslagerungsdrohungen und Verlagerungen, die angeblich nicht die Kostensenkung gebracht haben, die sich die Firmenleitungen vorgestellt hatten.

Laufende Forschungsprojekte sollen rauskriegen, wie die Gewerkschaft auf Auslagerungen reagieren und Arbeitsplätze für ihre Klientel in Deutschland halten kann: Ermittlung von Produktivitätsreserven, Gegengutachten zum Kostenplan des Managements, Qualifizierung der Belegschaften für Koordinations- und Leitungsaufgaben, die nach der Auslagerung hier wichtig sind. Diese kritische Begleitung führt häufig dazu, dass Auslagerungsentscheidungen überdacht bzw. die Kröten besser legitimiert werden, die die Belegschaft schlucken muss, um die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs zu erhalten. Nicht zuletzt versucht die Gewerkschaft die Kontaktaufnahme zu Schwesterorganisationen in den Ländern, in die ausgelagert wird. Soweit bekannt, haben indische SoftwareentwicklerInnen allerdings keinen Bezug zu den traditionellen indischen Gewerkschaften. Um überhaupt Ansprechpartner zu haben, halfen der internationale Gewerkschaftsverband UNI und verschiedene europäische Gewerkschaften im Jahr 2000 bei der Gründung der »IT Professional Forums« in Indien, eher berufsständischen Vereinigungen.

Die Strategie der Gewerkschaften in den USA ist wesentlich aggressiver. Das mag auch daran liegen, dass die Auslandsverlagerung von Dienstleistungsjobs wesentlich weiter vorangeschritten ist als hierzulande. Entsprechend nationalistisch machen die Gewerkschaften mit politischen Kampagnen mobil, zum Beispiel im letzten Präsidentschaftswahlkampf. Die Forderungen der Gewerkschaft CWA (Communication Workers of America) oder von WashTech (Washington Alliance of Technology Workers) sind eindeutig: Amerikanische Firmen sollen gute Jobs in Amerika schaffen und die Politik soll dieses Ziel unterstützen. Zuweilen haben solche Kampagnen ziemlich rassistische Untertöne, wenn sie etwa dazu auffordern, Call Center anzurufen und die indischen KollegInnen auf der Gegenseite zu beschimpfen, dass sie AmerikanerInnen den Job weggenommen haben.

»Software« – Werkzeug zur Rationalisierung der Arbeit

Das gute oder schlechte Ergebnis (»Produktivität«) einer Arbeit hängt von der Kooperation der Arbeitenden ab. Ganz ohne Denken und Planen geht das nie. Software (»Programme«) versucht, diese »immateriellen« Bestandteile der Arbeit zu objektivieren und damit die Arbeitsabläufe zu rationalisieren. Im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung wird Software vor allem zu Organisierung und Simulation von Produktions- und Verwaltungsprozessen geschrieben. Die »Konsumentensoftware« ist oft ein »Abfallprodukt« – wie etwa Simulationsspiele (was nicht heißen soll, dass Microsoft nicht gut an seiner Spielkonsole verdient, aber hauptsächlich eben an den Office-Lizenzen der professionellen Anwender.)

Dies berührt die eigentlichen Produktionsprozesse – von der Steuerung einer Werkzeugmaschine oder eines Industrieroboters, über die Konstruktion komplexer Produkte bis zur Simulation von kompletten Montageprozessen in der Fabrik am Bildschirm – ebenso wie Verwaltungsarbeit und Finanzdienstleistungen. In fast allen Sektoren wurde damit der Arbeitsprozess umorganisiert. Durch den Computereinsatz sind viele Arbeitsplätze ersatzlos weggefallen. Für die Herstellung derselben Warenmenge braucht man heute wesentlich weniger ArbeiterInnen als vor 20 Jahren, sie sind also durch den Einsatz neuer Produktionsmethoden »produktiver« geworden. Ob man gesamtgesellschaftlich von einem Produktivitätsfortschritt sprechen kann, ist allerdings weniger klar. Viele Beschäftigungen haben sich einfach »verlagert«, weil vieles, was früher Teil der Produktion war, heute am Computer erledigt wird.

Eigentümlich für die »Informationstechnologie« (Hardware und Software, in der die »immaterielle Arbeit« der Softwareproduzenten enthalten ist) ist, dass sie keinen neuen »Produktzylus« nach sich zieht, sondern allein eine »Organisationstechnologie« ist, die die Beziehungen zwischen den arbeitenden Menschen neu ordnen, objektivieren und damit kontrollierbar machen soll. Dabei unterliegt die Produktion von Software selbst den gleichen Prinzipien.

Die Branche

»IT-Beschäftigte« werden meist mit »Programmierern« gleichgesetzt, doch die Zusammensetzung der Arbeitskraft ist sehr viel heterogener, insbesondere wenn man noch die »Telekommunikation« hinzu nimmt – vom Informatiker bis zum First Level Support im Call Center, vom Strippenzieher bis zum Kundenberater. Nur eine Minderheit davon ist direkt mit Softwareentwicklung beschäftigt. Rechnet man die Anwenderbranchen mit, gibt es in der BRD ca. 1,4 Millionen »IT-Fachkräfte«. Laut Angaben des Branchenverbandes Bitkom gab es 2003 ca. 751  000 Beschäftigte der IT-Industrie in der BRD, davon 363  000 im Bereich Software und IT-Services, der sich seit den 90er Jahre zum größten und wichtigsten Bereich der Branche entwickelt.

An der Softwareproduktion selbst sind nicht nur Entwickler beteiligt, sondern ebenso die Leute, die für Qualitätssicherung, Dokumentation, Schulung, Kundensupport, den Betrieb der Rechner und des Netzwerkes, die Erstellung der fertigen Installationsmedien usw. zuständig sind. Um diese Software beim Kunden zum Laufen zu bringen, sind langwierige und dauerhafte Anpassungs- und Wartungsarbeiten notwendig. Diese alle zusammen genommen können wir als Softwareproduzenten bezeichnen. »Entwickler« sind diejenigen, die Software-Architekturen entwerfen und die Masse derjenigen, die tatsächlich Code schreibt.

Auch die Firmenstruktur ist sehr heterogen: Am einen Ende stehen Große wie IBM, T-Systems und SAP mit jeweils deutlich mehr als 10  000 Beschäftigten in Deutschland und »Unternehmensberatungen« (eigentlich eher gehobene Leiharbeitsfirmen) wie Accenture, am anderen Ende Tausende von Selbständigen und kleinen Klitschen, die oft als Subunternehmer fungieren, dazwischen die klassischen, vor 20, 25 Jahren entstandenen EDV-Mittelständler und die Reste der New Economy, die noch nicht pleite gegangen oder von den Großen übernommen worden sind.

Der erste Einsatz von Großrechnern in Unternehmen diente vor allem der Automatisierung von Rechenoperationen in wenigen Großunternehmen (Buchhaltung, Kontoführung bei Banken). Ab den 70er Jahren konnten Computer auch nichtnumerische Operationen übernehmen – damit gerieten ganz andere Tätigkeiten ins Fadenkreuz der Rationalisierer. In den 80er Jahren investierten dann die unterschiedlichsten Betriebe massiv in EDV. Vieles, was damals angeschafft wurde, hat sich spätestens im Nachhinein als unkoordinierte Insellösung erwiesen und erfordert noch heute hohe Unterhaltskosten, viele Projekte brachten nicht die erhofften Kosteneinsparungen oder scheiterten völlig. Dies und die zunehmende Überforderung vieler Betriebe durch die schnelle technische Entwicklung waren Ursachen, warum Ende der 80er Jahre einzelne Firmen begannen, ihre jungen IT-Abteilungen wieder aufzulösen und die EDV an spezialisierte Dienstleister auszulagern oder in Tochtergesellschaften auszugründen (die sich dann selbst zunehmend zu solchen auch für andere Auftraggeber tätigen Dienstleistern verselbständigten – wie z.B. die aus Post/Telekom und Daimer-Benz/debis entstandene T-Systems). Von diesem Outsourcing erwartete man sich eine Minimierung von Kosten und Risiken und Anschluss an die neueste Technologie.

In den 90er Jahren begann mit der Ablösung der teuren und isolierten Großrechner durch billige PCs als Einzelteile in einem sich immer weiter ausbreitenden Netzwerk (dem Internet) die Standardisierung: der ursprünglich von IBM entwickelte »x86«-PC wurde zum »Industriestandard«, Microsoft Windows setzte sich über dem Umweg der Akzeptanz beim Privatnutzer als de facto Standardbetriebssystem für alle Arbeitsplatz auf der ganzen Welt durch. SAP wurde die Standardsoftware für die Organisierung großer Unternehmen. Diese Vereinheitlichung war die Voraussetzung für den Entwicklungssprung und die Internationalisierung der Softwareproduktion.

Ziel global workforce

Das Kapital träumt immer davon, von der örtlichen Arbeitskraft unabhängig zu sein, deshalb greift der Begriff »Auslagerung« auch zu kurz. Am Beispiel der Hardwareproduktion lässt sich sehen, dass die IT-Konzerne seit Jahren am Aufbau einer global workforce arbeiten. IBM errichtete schon in den 50er Jahren Produktionsstätten außerhalb der USA. In den 80er Jahren wurden sie zum Vorreiter eines neuen Organisationsmodells: der international verteilten Netzwerkproduktion. Die IT-Dienstleistungen haben einen vergleichbaren Grad an Internationalisierung bislang nicht erreicht.

Die Auslagerung von computergestützten Dienstleistungen in Niedriglohnländer begann mit den »einfachen« Tätigkeiten: Flugtickets abrechnen, Buchhaltung (Sammelbegriff: Back Office), dann First Level Support (der erste Ansprechpartner, der das Problem aufnimmt und weiterleitet, wenn er es nicht selbst lösen kann) in Call Centern. Hauptzielländer von Offshoring aus den USA und Großbritannien waren in den 90er Jahren Irland, Israel und Indien, v.a. wegen der englischen Sprachkenntnisse, aber auch wegen der Zeitdifferenz, da so Geschäftstätigkeit rund um die Uhr garantiert werden kann. Jetzt werden die einfacheren Tätigkeiten schon in die nächste Kette von Ländern verlagert, in denen Leute Englisch sprechen und die Telefonnetze stabil sind: Mauritius, Ägypten, Philippinen usw.

Die Auslagerung derjenigen komplexeren und »höherwertigen« IT-Dienstleistungen, die sich theoretisch auslagern ließen, weil nicht jemand vor Ort beim Kunden sitzen und/oder dessen Sprache sprechen muss, scheiterte bis vor wenigen Jahren noch an zwei Dingen: Zum einen gab es außerhalb der Hochlohn-Industrieländer kaum Arbeitskräfte mit der entsprechenden Ausbildung, zum anderen gab es vor der technischen Standardisierung und Vernetzung auch der dezentralsten Arbeitsplätze durch das Internet kaum eine Möglichkeit, Arbeitsprozesse in der Softwareentwicklung arbeitsteilig und in Echtzeit weltweit zu synchronisieren. Das hat sich geändert.

Lange Zeit fühlten sich Angestellte in Deutschland aufgrund ihrer guten Ausbildung nicht von der Verlagerung ihrer Jobs bedroht. In den letzten zehn Jahren aber haben Länder wie Indien mit niedrigem Lohnniveau (aber gemessen am Wechselkurs höherer Kaufkraft) Hunderttausende von Softwareingenieuren ausgebildet, die in ihrer Qualifikation den hiesigen nicht nachstehen. Unternehmensberatungsfirmen versprechen Firmen bei einer Verlagerung von Support und Entwicklungstätigkeiten nach Indien Lohneinsparungen von 30 bis 50 Prozent. Das Einstiegs-Jahresgehalt eines Softwareentwicklers in Indien liege bei 8000 Euro, in Deutschland verdiene ein Entwickler 40  000 Euro. Aufgrund solcher Informationen erteilen Firmen häufig Aufträge nur noch, wenn der IT-Dienstleister mit einem eigenen Standort in Indien beweist, dass er seine »Kosten optimiert«. So wird ein Trend in Gang gesetzt, dem sich keine Firma entziehen kann, die auf dem Weltmarkt für IT-Leistungen mithalten will.

In den 90er Jahren wuchs die indische Softwareindustrie um 50 Prozent jährlich. Der Anteil der nach internationalen Standards wie ISO zertifizierten Firmen ist in Indien so hoch wie nirgends sonst. Eigene IT-Ministerien fördern massiv den Ausbau des IT-Sektors. Produziert wird zu drei Vierteln für das Ausland, vor allem für die USA und Westeuropa. Umgekehrt haben alle großen amerikanischen oder europäischen Softwareunternehmen in den letzten Jahren Zweigbetriebe in Indien gegründet, manche sind schon seit Mitte der 90er Jahre dort. Im nächsten Jahr wollen mehrere große Firmen wie SAP, SUN und IBM ihre Standorte massiv ausbauen. Anfangs hatten diese Firmen in Indien Niederlassungen aufgemacht, um den indischen Markt zu erschließen. Heute werden die Standorte in Indien für die Weltmarktproduktion genutzt, um Lohnkosten zu sparen. Viele indische Softwaredienstleister haben inzwischen selbst Zweigstellen in den USA, die in den Bereichen Back Office, Support, Call Center, Netzwerkwartung tätig sind.

2002 hatte die IT-Industrie in Indien vier Millionen Beschäftigte, davon 600  000 IT-Fachkräfte mit Hochschulabschluss, weitere 500  000 mit Zertifikaten von Microsoft, Cisco, usw. Jährlich verlassen etwa 75  000 Softwareingenieure die indischen Hochschulen. Die Jobs sind für indische Verhältnisse sehr gut bezahlt. Für ihre Karriere sind viele Softwareingenieure bereit, ungewöhnliche und ungewöhnlich lange Arbeitszeiten zu akzeptieren. Um die enormen Zeitdifferenzen zwischen bspw. Mumbai und San Francisco auszugleichen, kommen die »Kollegen« in Indien teilweise erst mittags oder gar nachmittags ins Büro und bleiben bis spät in die Nacht.

Woran es allerdings noch mangelt, sind erfahrene Leute für Leitungspositionen. Deshalb ist die Arbeitsteilung in multinationalen Unternehmen meist eindeutig: die Projektleitung sitzt in den USA oder Europa und die Entwicklungs- oder Support-Teams in Indien.

Indien hatte im letzten Jahr die höchsten Lohnsteigerungen der gesamten asiatisch-pazifischen Region, im IT-Sektor zwischen 13 und 20 Prozent. Die Fluktuation in diesen Jobs ist in Indien höher als sonstwo, es kursieren Zahlen von 20 bis 35 Prozent. Viele Berufsanfänger mit Uniabschluss fangen in einem Call Center oder im Back Office Bereich an, suchen aber sofort nach einem besseren Job. Dank der aktuellen Investitionsbooms können sie die Jobsuche zu Fuß erledigen. Indische Unternehmen lagern inzwischen Tätigkeiten nach China aus, weil dort die Lohnkosten günstiger sind.

Europäische Firmen lagern Softwareproduktion wegen der räumlichen Nähe bevorzugt nach Osteuropa aus, vor allem nach Ungarn und Tschechien, beides relativ kleine Länder, in denen der Arbeitskräftebedarf langfristig nicht zu decken sein wird und auch der Lohndruck zunimmt. Die Unternehmen gehen davon aus, dass sie dort in zehn Jahren dieselben Probleme haben werden wie in Westeuropa. Daher wird versucht, jetzt schon dafür zu sorgen, dass dann passend ausgebildete und billige Programmierer in der Ukraine und Rumänien zur Verfügung stehen.


»Eure neuen Kollegen werden in Bangalore eingestellt«

Komme gerade von der Arbeit. Den ganzen Tag »Kommunikations«-Schulung und »interkulturelles Training«. 100 Seiten englischsprachige Psychologie am Arbeitsplatz soll den Beschäftigten neuen »Spirit« für die nächste Phase des Unternehmens einimpfen. Diesen Preis muss eine Firma zahlen, die den Ehrgeiz hat, ein weltumspannendes Software-Unternehmen mit einer international zusammengesetzten Arbeitskraft und mit Teams zu sein, die kontinentübergreifend zusammen arbeiten müssen. Gewerkschaft? Sowas brauchen wir nicht – obwohl die Gehälter eher unterdurchschnittlich sind.

Wir müssen uns alle duzen, auch die höchsten Chefs – das gehört fest zur Unternehmenskultur. Das hat aber nichts mit »flachen Hierarchien« zu tun. Teamwork wird ganz groß geschrieben, aber es wird stark arbeitsteilig vorgegangen. Kaum ein Entwickler kennt noch das ganze Programm oder weiß, was damit gemacht wird. Und die Anweisungen kommen von ganz oben, aus den USA oder Frankreich. Ehemals selbständige Firmen wurden eingereiht. Frühere Chefs haben nichts mehr zu melden, wenn es um die Zahl der neuen Arbeitsplätze fürs nächste Jahr oder die neue Softwarestrategie geht. Und damit sinkt natürlich auch die Identifikation mit der Firma.

Im letzten Jahr haben alle drei in Indien sitzenden Kollegen unseres kleinen Teams (insgesamt acht Leute) den Job gewechselt. 17 Prozent Lohnerhöhung dieses Jahr haben nicht zum Bleiben gereicht. Die deutschen Kollegen fühlen sich verarscht. Alle Jahre neue indische Kollegen einarbeiten.

»Global Workforce« hört sich interessant an: ständig im Chat oder Mailverkehr mit USA und Indien, mit Kollegen, die mehr oder weniger die gleiche Arbeit machen… Es stellt sich aber anders dar, wenn die Verlagerung von deinem Job nach Indien ständig als Drohkulisse wirkt. Oder andersrum: wenn die Leitungsfunktionen in Europa oder USA bleiben, was u.a. dazu führt, dass ein junger Angestellter in Europa schnell zum Teamleiter avanciert, sein Team aber in Indien sitzt und er es nun mit Arbeit versorgen, die Leistungen kontrollieren usw. soll, ohne es je persönlich kennen gelernt zu haben.

»Ein Tester in Indien kostet ein Zehntel dessen, was einer in Deutschland kostet«, ist die Devise unserer Unternehmensleitung. Die Probleme müssen ja die »Kollegen« in Europa ausbaden: den gesamten E-Mail-Verkehr, alle Dokumentationen usw. auf Englisch. Umständlich Fragen beantworten, die sich vor Ort in fünf Minuten klären ließen. Die Kommunikation läuft über E-Mail, Chat, Telefon. Manchmal kommt einer für ein paar Wochen her, um die Software und uns kennenzulernen. Die Zusammenarbeit läuft schlecht. Die Inder tun nicht, was sie sollen, sagen aber zu allem ja. Dass sie etwas verstanden haben, dass sie etwas ausarbeiten usw. Sind sie zu höflich, um nein zu sagen? Während wir hier kurz mal Erfahrungen oder Infos austauschen können, kurz mal zum Rechner des Kollegen gehen können, ist der Austausch mit Indien viel umständlicher. Viele Missverständnisse. Am Telefon verstehen wir die Leute nicht, der Akzent. Oder auch die Sprechweise. Während hier FH-Ingenieure eher Arbeiterkinder, also Aufsteiger sind, kommen unsere Kollegen in Indien oft aus höheren Kasten, die es sich leisten können, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken, und die Bediensteten, die für die Teeküche zuständig sind, nicht mal grüßen. Meist junge Männer, die weg von zu Hause in einem Wohnheim in Bangalore leben. Es ist schwer, einen persönlichen Draht oder Anknüpfungspunkte zu finden.

Dabei kann ich den Indern durchaus sympathische Seiten abgewinnen. Wenn klar ist, dass sie einfach keinen Bock haben, die ausgelagerte Billigarbeitskraft zu spielen. Sich dumm stellen, tausendmal nachfragen, bis man die Arbeit lieber selbst macht. Sie tun immer sehr loyal, in Wirklichkeit identifizieren sie sich nicht besonders mit der Firma. Der Job ist allenfalls ein Sprungbrett ins Ausland, in die USA, wo es für sie aus vielen Gründen attraktiver ist als in Deutschland und wo schon viele Kollegen gelandet sind.


Schwierige Kooperation

Die technischen Voraussetzungen für die globalisierte Produktion sind durch das Internet geschaffen. Die notwendigen Ressourcen können vom Unternehmen auf Datenservern bereitgestellt werden, die über Nacht synchronisiert werden. Programmkomponenten können in Null-Zeit hin- und hergereicht, also an einem Arbeitsplatz (und an einem Standort) geschrieben, am anderen getestet und gleichzeitig am Telefon besprochen werden. Eine weitere wichtige Ressource, für die das einzelne Unternehmen nicht unbedingt etwas bezahlt, sind Open-Source-Tools, die im Internet frei zur Verfügung gestellt werden, oder beispielsweise Internet-Foren, auf denen sich »Anwender« gegenseitig bei Problemen mit einer bestimmten Software weiterhelfen – ohne Ansehen der Firma oder der Person, was oft das trügerische Gefühl entstehen lässt, man hätte es hier privat miteinander zu tun.

Die Auslagerung der Softwareproduktion stößt allerdings auf einige Grenzen: Softwareentwicklung muss oft in enger Abstimmung mit den Kunden »vor Ort« erbracht werden, und die Kunden sitzen überwiegend selbst in den Industrieländern. Die Programmierung ist auf die Rationalisierung von Arbeitsabläufen gerichtet. Eine gute Programmierung erfordert neben einer allgemeinen Kenntnis von Arbeitsabläufen auch den engen Kontakt zu denjenigen, deren Arbeit im speziellen Fall neu organisiert werden soll, oder mindestens zu deren Chefs, den »Kunden«. Erst wenn es gelingt, den Prozess der Herstellung von Software soweit aufzuteilen, dass ein Teil davon völlig unabhängig vom konkreten Anwendungsfall zu machen ist, lässt sich die Arbeit auslagern. Der gesamte Herstellungsprozess funktioniert nur durch die Kooperation der darin Tätigen. Und da gibt es noch erhebliche Probleme.

Die Produktivität von ArbeiterInnen liegt in ihrer Zusammenarbeit, das gilt auch für Softwareproduktion. Aber genau die durchzusetzen ist in Firmen nicht so einfach, deren Beschäftigte zu über 90 Prozent Ingenieure sind. Diese sind es gewohnt, sehr selbständig zu arbeiten, wobei ihnen oft Techniken der kollektiven Zusammenarbeit fehlen. Diese Arbeitsweise macht Firmen stark von den individuellen Beschäftigten abhängig. Überhaupt nicht passt sie in eine weltweit arbeitsteilige Produktion, die mit Sprachproblemen und starker Fluktuation zurechtkommen muss. Ein Unternehmen, das Software weltweit produzieren und weiter entwickeln will, muss die Standardisierung von Methoden, Pflicht zur Kommentierung der einzelnen Schritte und den Zwang zur Dokumentation der Funktionsweise durchsetzen. Nur dies kann das Wissen versachlicht in der Firma lassen, auch wenn die Leute gehen.

Mit wenig Erfolg. Für viele Entwickler liegt die Freude an ihrer Tätigkeit nämlich gerade darin, dass sie sich als »Kreative« fühlen und hartnäckig alle Anweisungen umgehen, nur nach bestimmten erlaubten Methoden zu programmieren. Der Zeitdruck, der in der Branche immer herrscht, wird da zum Kampfmittel und ermöglicht solchen Leuten wiederum zu sagen: In drei Tagen kann ich irgendwas zusammenhauen, aber dafür könnt Ihr keine Standards erwarten (»die Spezifikation wird nachgeliefert…«). Durch die Unterstützung der Standardisierung machen sich würden sich diese Leute ersetzbar machen. Eine chaotische und undurchsichtige Arbeitsweise kann in gewisser Weise helfen, den Arbeitsplatz vor Auslagerung zu schützen.

Der Integrationsprozess führt auch zu Problemen anderer Art. EntwicklerInnen in Indien sind es gewohnt, möglichst genaue Vorgaben zu bekommen, an die sie sich dann peinlich halten, auch wenn sich während der Arbeit Probleme ergeben. In Europa und USA herrscht aber eine Arbeitsweise vor, in der von den Leuten erwartet wird, dass sie solche Probleme benennen, statt höflich zu schweigen.

Die eingangs eher provokativ gestellte Frage nach der »Proletarisierung der TechnikerInnen« wartet noch auf eine schlagkräftige Antwort. Alles deutet darauf hin, dass es eher die Beschäftigten in den Bereichen mit »Massenqualifikation« sind, die sich ein Arbeiterverhalten zulegen, während sich die Ingenieure eher weiter berufsständisch verhalten. Möglicherweise gelingt es dem Kapital, auch den Arbeitsprozess des Programmierens irgendwann soweit aufzuteilen und zu standardisieren, dass dann die Arbeit der »neuen« Programmierer tatsächlich dequalifiziert werden kann und sie sich verhalten »wie Arbeiter«. Aber das ist eine Geschichte, die in der Zukunft spielt.




Literatur und Verweise:

Andreas Boes / Michael Schwemmle, Herausforderung Offshoring. Internationalisierung und Auslagerung von IT-Dienstleistungen; Edition der Hans Böckler Stiftung 120, 2004.
Reichhaltige Faktensammlung, angereichert mit Interviews mit IT-Managern und Betriebsräten. Man hat das dumpfe Gefühl, dass Boes sich sehr von der »Dynamik« (dieses Wort fällt tausendmal) des Sektors mitreißen lässt.

Andreas Boes / Michael Schwemmle (Hrsg.) Bangalore statt Böblingen? Offshoring und Internationalisierung im IT-Sektor; Hamburg 2005 (VSA).
Aufsatzsammlung, eher eine »Handreichung« für Betriebsräte, enthält aber auch Erfahrungsberichte aus Indien und diskutiert internationale Gewerkschaften an.

www.allianceibm.org

www.washtech.org

www.nci-net.de – Network Cooperation Initiative: von Siemens-Beschäftigten in München gegründetes Netzwerk für IT-Leute



aus: Wildcat 74, Sommer 2005



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