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08.02.2016

aus: Wildcat Nr. 74, Sommer 2005

Iran: Geschlossen gegen das soziale Erdbeben

Die Abwahl von Rafsandjani und der Wahlsieg von Ahmadinedschad mag für den außenstehenden Beobachter überraschend sein, weil er die wachsende wirtschaftliche und soziale Misere im Land nicht wahrgenommen oder diese nur als Folge der Politik der »Mullahs« und deren ökonomischer Abschottung gegenüber dem Westen betrachtet hatte. Im Iran selber wird die soziale Lage wesentlich explosiver eingeschätzt, sogar von konservativen Intellektuellen. Im Wahlkampf gegen den Milliardär Rafsandjani versprach Ahmadinedschad, die Armen am Ölreichtum teilhaben zu lassen. Will er tatsächlich die Ölrente umverteilen, ein »sozialer Aktionismus wie unter Chavez in Venezuela«? Die höchste Autorität im Iran bleibt allerdings der oberste Führer Ajatollah Ali Chamenei. Rafsandjani, der Favorit des Westens, behält als Vorsitzender des mächtigen »Rates zur Feststellung der Staatsräson« weiterhin großen politischen Einfluss. Aber mit Ahmadinedschad haben die Machthaber im Iran jetzt einen ergebenen Angestellten als Präsidenten. So wird das Regieren effektiver funktionieren und »auch für den Westen wohl eher berechenbar sein als die ewig blockierte Republik der letzten Jahre«, wie ein ARD-Korrespondent nach der Wahl zu berichten wusste.

Great Game

Die US-Strategie im Nahen und Mittleren Osten zielt auf einen Regimewechsel im Iran, ob mit einem Krieg oder irgendeiner farbigen Revolution. Le Monde diplomatique (vom 14.1.2005) hat das treffend mit »Umwerben, Einkreisen, Isolieren« beschrieben. Für die Herrschenden im Iran gibt es keinen Zweifel daran, dass der Iran ohne Atomwaffen keine regionale Hegemonialmacht ist und der Bedrohung durch die USA und Israel nichts entgegenzusetzen hat. Die Frage ist nur, welcher Preis dafür gezahlt werden muss (US-Embargo, Krieg). Aber auch wirtschaftliche und geostrategische Zwänge (die USA haben in fast allen Nachbarstaaten Truppen stationiert) zeigen, dass die Islamische Republik auf Dauer ohne die politische Anerkennung der USA nicht als regionaler Hegemon fungieren kann. Sowohl im Afghanistan- wie im Irak-Krieg vermied der Iran eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten; in der Atompolitik setzt er auf Kooperation mit Europa.

Die EU, Russland, China und Indien sind wichtige Akteure in diesem Spiel. Die EU ist der größte Handelspartner Irans. 40 Prozent der iranischen Importe kommen aus EU-Ländern (allein die Importe aus der BRD sollen in diesem Jahr ein Volumen von vier Milliarden US-Dollar überschreiten) und 35 Prozent der Exporte (davon 80 Prozent Öl) gehen in die EU.

Nach Verhandlungen mit Deutschland, Frankreich und England unterzeichnete die iranische Regierung am 21. Oktober 2003 das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag. Eine Woche danach beschloss der französische Renault-Konzern, 700 Millionen Euro in eine Autofabrik zu investieren – das erste große Engagement eines ausländischen Konzerns seit 1979. Auch VW stieg im Juli 2004 in den stark wachsenden iranischen Markt ein. In der Sonderwirtschaftszone Arg-e-Jadid nahe der (immer noch in Ruinen liegenden) Stadt Bam im Südosten Irans sollen zunächst 20.000 Fahrzeuge im Jahr montiert werden.

In der Frage der Atomenergie positioniert sich das Dreieck China, Russland und Iran gegen die USA. China und Russland liefern Anlagen und know how, und China bezieht bereits heute 13,6 Prozent seiner Ölimporte aus dem Iran. Eine chinesische Ölgesellschaft hat im März 2004 einen Vertrag über die Einfuhr von 110 Millionen Tonnen iranischem Erdgas abgeschlossen. Auch Indien hat Gespräche über langfristige Erdgaslieferungen mit dem Iran geführt. Beide Länder wollen in die Erschließung iranischer Ölfelder investieren – trotz Sanktionsdrohungen der USA, die auch den Bau einer 2600 Kilometer langen Erdgasleitung von Iran über Pakistan nach Indien verhindern wollen.

Der Boom und seine sozialen Schattenseiten

Im Ergebnis des Irak-Kriegs hat der Iran nicht nur einen sehr großen Einfluß im Irak gewonnen. Der Krieg bescherte der Regierung mit der Ölpreisentwicklung auch höhere staatliche Einnahmen. 2004 lag das Wirtschaftswachstum bei über sieben Prozent; davon sind aber 90 Prozent den gestiegenen Ölpreisen geschuldet. Die Petrodollars geben dem Regime wie gehabt die Möglichkeit, die Mittelschicht zu beruhigen. »Arbeitslosigkeit, Straßenkinder, Drogenmissbrauch« beschrieb Die Zeit vom 1.6. 2005 als die »sozialen Schattenseiten« dieses Booms. Die Reallöhne sinken seit 1988 (auf zur Zeit etwa 110 Euro im Monat). Das 5. Parlament schaffte die Arbeitsgesetze für Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten ab. Das 6. Parlament beschloss 2002 das Gleiche für die 300 000 TeppichknüpferInnen. Mit dem Gesetz zur »Anpassung der Arbeitskraft« konnten die Textilbetriebe etwa 100 000 ArbeiterInnen einfach entlassen. Jetzt will das 7. Parlament alle ArbeiterInnen mit befristeten Verträgen – die Hälfte aller ArbeiterInnen! – aus dem Geltungsbereich der Arbeitsgesetze streichen.

1996 waren nach amtlichen Statistiken 1,4 Millionen arbeitslos, heute 3,2 Millionen (unabhängige Stellen rechnen mit 4,3 Millionen Arbeitslosen); d.h einem Bevölkerungswachstum von 18 Prozent steht ein Anstieg der Arbeitslosigkeit von 130 Prozent gegenüber.

Pragmatismus statt Reformen

Sowohl außenpolitische Konflikte wie Spannungen im Land werden oft als Kampf zwischen Konservativen und Reformern, »Tradition gegen Moderne« dargestellt. Dahinter steckt die unterschiedliche Herangehensweise der herrschenden Klasse an die Frage der Sicherung der Ausbeutungsverhältnisse. Die Losung von Chatamie: »politische Entwicklung vor wirtschaftlicher« war der Versuch, mit der Beteiligung weiterer Schichten der Bourgeoisie die Intensität der Ausbeutung zu verschärfen und zu regeln. Im Iran werden alle möglichen NGOs geduldet und unterstützt. 15 000 Gruppen soll es inzwischen geben. Sie werden dringend gebraucht (etwa im Drogenmilieu).

Die Reformbewegung wurde sozusagen teilweise verstaatlicht, die radikalen Bewegungen wurden isoliert und niedergeschlagen. Während des »Machtkampfs zwischen Konservativen und Reformern« entstand eine Agenda der pragmatischen Zusammenarbeit der Herrschenden miteinander, mit den Bürgern und mit dem Ausland. Frauen- und Studentenbewegung sind in die Sackgasse der Reformbewegung geraten. Ihre Hoffnungen auf staatliche Zugeständnisse sind enttäuscht und ihre Wortführerinnen desillusioniert.

Die Herrschenden können und wollen gar nicht die vielen kleinen Freiheiten verbieten. Heute kann im Iran »frei geredet« werden. Allerdings schlägt der Staat unbarmherzig zu, wenn sich Leute aktiv gegen das System betätigen. Erst neulich wurden Aufstände der in tiefer Armut lebenden und diskriminierten arabischen Bevölkerung brutal niedergeschlagen, es gab über 50 Tote – unter den Augen und dem Schweigen der staatstragenden überwiegend persischen MenschenrechtlerInnen. Seit Reza Shah und dem Beginn der Ölförderung in dieser Region besteht die Politik der Herrschenden in Umsiedlung, Rückständighaltung und Ausrottung der arabischen Bevölkerung. Die Araber blieben meist arme Bauern und ungelernte Saisonarbeiter und leben hauptsächlich in Dörfern und Slums.

Gewerkschaftsbewegung

Seit Jahren bemüht sich der Iran um eine gute Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeits-Organisation (ILO). Die ILO bietet technische und beratende Hilfe besonders zur Überwindung der Arbeitslosigkeit und versucht, das iranische Arbeitsrecht dem internationalen Standard anzupassen. Im Juni 2002 hat der iranische Arbeitsminister in der 90. Sitzung der ILO gefordert, dass mit Hilfe dieser Organisation die Hindernisse bei der Aufnahme in die WTO beseitigt werden. Am 26 Mai 2005, einen Tag nach den neuen Verhandlungen über das Atomwaffenprogramm zwischen dem Iran und drei europäischen Ländern, akzeptierten die USA dann, nach jahrelangem Veto, den WTO-Beitritt Irans. Im Gespräch sind unter anderem auch die Lieferung von Ersatzteilen für iranische Flugzeuge.

Die ILO fordert u.a. die freie Wahl der Arbeitervertreter, erkennt aber nach wie vor die Islamischen Arbeiterräte und das »Haus der Arbeit« (so etwas wie eine islamische Arbeiterpartei) als legitime Vertreter der iranischen Arbeiter an. Im Juli 2003 erklärten die ILO und das iranische Arbeitsministerium, dass die Unabhängigkeit und freie Aktivität von Gewerkschaften garantiert werden soll – was bei den Islamischen Räten und dem »Haus der Arbeit« heftige Proteste auslöste. Die ILO will demnächst ihre seit 24 Jahren geschlossene Zweigstelle in Teheran wieder eröffnen.

Seit der Zerschlagung der Arbeiterräte, die 1978 aus den Streikkomitees der Revolutionszeit entstanden waren, hatten die Arbeiteraktivisten und Linken über die »richtige« Arbeiterorganisation gestritten. Da die Gewerkschaften unter dem Schah-Regime Handlanger des Staats waren und von den ArbeiterInnen der Großbetriebe auch so wahrgenommen wurden, sprach man nicht über die Gründung von Gewerkschaften, sondern über unabhängige Arbeiterorganisationen. Aber praktisch war jegliche Organisierung der Arbeiter ohnehin verboten.

Die Gewerkschaftsbewegung appelliert an die »freien Arbeiter« der Welt bzw. den Internationalen Bund freier Gewerkschaften (ICFTU), um die fehlende Solidarität im Innern mit der Hilfe von Außen wett zu machen. Aber auch diejenigen, die gegen Gewerkschaften und für Räte (faktisch Betriebsräte) sind, setzen auf den politischen Einfluss des ICFTU und den Schutz durch die ILO. Viele Parteilinke und Arbeiteraktivisten sehen aktuell eine historische Chance, freie Arbeiterorganisationen zu gründen – nicht nur wegen des Drucks von außen und die Akzeptanz der Gewerkschaften durch den Staat und Teile der Bourgeoisie, sondern auch aufgrund des Machtverfalls der Islamischen Arbeitsräte und des »Haus der Arbeit«, der am diesjährigen 1. Mai deutlich wurde. Die mit viel Propaganda organisierte Mai-Kundgebung mit 12.000 Arbeitern in Teheran wurde zu einer Blamage. Als die Veranstalter Wahlwerbung für Rafsandjani machten, protestierten die ArbeiterInnen laut, riefen Parolen gegen Rafsandjani und die Wahlen, und verließen die Kundgebung. Rafsandjani konnte nicht als Redner auftreten und sagte später, er würde auf einer Veranstaltung, bei der Parolen gegen den Staat gerufen werden, nicht reden. Er gilt unter den ArbeiterInnen als der Gottvater der »Liberalisierung« und der Entlassungswelle in seiner Präsidentschaftszeit.

Komitees

Im Februar 2005 entstand das Komitee für die Gründung freier Arbeiterorganisationen. In einem von mehr als 2371 ArbeiterInnen unterzeichneten Brief an das Arbeits- und Sozialministerium, »Arbeiterorganisationen der Welt« und die ILO forderten sie die Anerkennung des Rechts auf Bildung unabhängiger Arbeiterorganisationen und die Beseitigung der bestehenden Hindernisse bei ihrer Gründung. Ein zweites Komitee mit dem Namen Koordinierungskomitee zum Aufbau einer Arbeiterorganisation rief Ende April 2005 die ArbeiterInnen auf, eine Arbeiterorganisation aus eigener Kraft zu bilden. Die ILO habe »die Verpflichtung, den Vollzug dieser Übereinkommen zu überwachen und durchzusetzen«, und die Islamische Republik Iran müsse die Sicherheit der Arbeiteraktivisten garantieren. Kopien der 3029 Unterschriften gingen auch an den ICFTU und an die ILO.

Viele alte Gewerkschaftler und ein politisches Spektrum von der Tudehpartei bis zur AKPI (Arbeiterkommunistische Partei) unterstützten das erste Komitee, das letztlich eine Einheitsgewerkschaft à la BRD gründen will. Andere sehen dagegen im zweiten Komitee eine Kraft, die weiter links steht und gegen Lohnarbeit ist, mit dem Ziel, eine linke Richtungsgewerkschaft oder sogar Arbeiterräte zu gründen.

In der Theorie mögen sich beide Komitees, besonders ihre politischen Wortführer und Unterstützer, stark voneinander unterscheiden. Aber in der Praxis sieht man bisher wenig Unterschiede. Beide betreiben die Organisierung von oben, machen Unterschriftensammlungen, hoffen auf die Hilfe von Gewerkschaften im Ausland, usw. Beide haben recht bescheidene Forderungen und greifen zu symbolischen Aktionen wie 1.Mai-Veranstaltungen, deren Ablauf bezeichnend ist. Im Vorfeld des 1. Mai 2005 hatte sich der Vertreter des Koordinierungskomitees, Mohmood Salehi, an den ICFTU-Präsidenten gewandt. Dann ließ der ICFTU verlauten, dass er die Ereignisse im Iran bzw. das Handeln der Regierung bei den Mai-Demonstrationen beobachten werde. Im Gegensatz zum Vorjahr verliefen dieses Jahr alle Veranstaltungen und Demos in Teheran und anderen Städten ohne Zwischenfälle – trotz roter Fahnen und Absingen der Internationale. Aber nicht nur der Staat handelte vorsichtig, auch die Arbeitervertreter machten mit. Die Gewerkschaft der Bäcker in Sagges mit Salehi als Wortführer nahm an einer Veranstaltung mit dem »Haus der Arbeit« von Sagges teil, bei der erst der Gouverneur der Stadt, dann der Chef des Arbeitsamts und danach Salehi zu den 1500 Arbeiterinnen und ihren Familie sprachen. Je öffentlicher diese Aktivisten mit der Regierung verhandeln, desto mehr wird von selbständigen Aktionen und radikalen Auseinandersetzungen abgesehen.

Die erste legale Gewerkschaft

Die Busfahrer haben schlechte Löhne und schwere Arbeitsbedingungen. Neben dem Fahren müssen sie die Fahrscheine kontrollieren und für die die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Geschlechtertrennung in den Sitzreihen sorgen. 1970 gab es schon einmal eine Gewerkschaft der Fahrer, sie wurde aber fünf Jahre nach der Islamischen Revolution aufgelöst. Seit langem versuchen die Gewerkschaftler, diese Gewerkschaft neu zu gründen. Als sie sich zu diesem Zweck am 9. Mai 2005 versammelten, wurden sie vom islamischen Rat, der Geschäftsleitung und Sicherheitskräften angegriffen, einige Gewerkschaftler wurden verletzt. Auch der zweite Versuch einer Betriebsversammlung scheiterte am 13. Mai durch den Eingriff von Geheimpolizei, Sicherheitskräften und eines Teils des »Haus des Arbeit«. Noch am selben Tag versammelten sich 3000 ArbeiterInnen und forderten die Auflösung der Islamischen Räte. Am 3. Juni gab es wieder einen Aufruf zur Abhaltung einer Betriebsversammlung. Diesmal hinderten die Sicherheitskräfte die ArbeiterInnen, den Versammlungsort zu erreichen. Gegen Mittag versammelten sich ca. 500 ArbeiterInnen mit Transparenten.Daraufhin erhielt die Polizei den Befehl, sich zurückzuziehen. Dann wurde in einer Betriebsversammlung die Gewerkschaft der ArbeiterInnen des Öffentlichen Nahverkehrs Teheran gegründet; es sollen 5000 (von insgesamt 14000) ArbeiterInnen an der Gründung dieser ersten legalen Gewerkschaft beteiligt gewesen sein..

Die ArbeiterInnen bewegen sich

1997 hatten 2000 Ölarbeiter in Teheran vor dem Ölministerium demonstriert. Die Bewegung war vom Regime niedergeschlagen worden, mehr als 100 Arbeiter waren verhaftet und viele Arbeiteraktivisten entlassen worden. Aber seitdem reißen die Streiks und spontanen Demos nicht mehr ab. Besonders die TextilarbeiterInnen kämpfen für Arbeitsplätze und die Auszahlung ausstehender Löhne. Mehr als 80.000 ArbeiterInnen in etwa 1400 Fabriken beteiligten sich an Streiks, Hungerstreiks in der Fabrik, Straßenblockaden, spontanen Demos vor den Verwaltungen und dem Parlament, bis zu Revolten in den Städten, die meist durch den Einsatz der Staatsgewalt beendet und niedergeschlagen werden.

Ein Beispiel: Shahr Babak

Im Januar 2004 hatten die Arbeiter der Kupferminen und -Verarbeitung von Khatoon-abad in der Provinz Kerman gegen ihre Entlassung protestiert und tagelang mit ihren Familien vor den Minen Sitzstreiks organisiert. Die Spezialkräfte greifen an und schießen. Einige Arbeiter und Familienangehörige werden verwundet und festgenommen. Gegen diesen Angriff entsteht in der Stadt Shahr Babak, wo viele Arbeiter aus den Kupferminen wohnen, eine große Protest- und Soldarisierungswelle. Die Einwohner demonstrieren auf den Straßen und werfen Steine auf Banken und Verwaltungen. Auch aus Hubschraubern wird das Feuer auf sie eröffnet. Mindestens vier Arbeiter werden getötet, und viele verwundet und verhaftet.

Es gibt auch neue Formen Arbeiterwiderstand: einzelne Arbeiter töten ihre Betriebschefs mit der Waffe, Sabotage in der Fabrik usw..

Das Detroit des Mittleren Ostens

Seit Mitte der neunziger Jahre wächst der iranische Automarkt um rund 30 Prozent jährlich und damit schneller als der chinesische. Der Ausstoß von PKWs wird in diesem Jahr auf etwa 1 Mio gesteigert. Die Produktion des ersten nationalen PKWs - des berüchtigten Peykan - wurde jetzt nach 38 Jahren eingestellt. Nach dem Joint-Venture mit Renault sollen ab 2006 in den Fabriken von Iran Khodro und Saipa insgesamt 300.000 Logan vom Band rollen. Der Vizechef von Iran Khodro, der größten Autofabrik des Landes, sagt, Iran werde »das Detroit des Mittleren Ostens«. Aber die Produktionsprozesse gelten im internationalen Vergleich noch als veraltet und unproduktiv. Der Boom wird aus den Knochen der Arbeiter herausgeholt. Sie bezeichnen Iran Khodro in Teheran als Schlachthof. Im letzten Jahr sind dort mindestens acht Arbeiter durch Arbeitshetze und Arbeitsunfälle ums Leben gekommen. Die Firma ist der größte Fahrzeughersteller im Mittleren Osten und mit mehr als 30.000 Beschäftigten der größte Betrieb im Iran. Seit 1997 wurden keine Arbeiter mehr fest eingestellt, es werden nur befristete Arbeitsverträge geschlossen. Die Subunternehmen und Dienstleistungsbetriebe, die für die Firma arbeiten, zahlen sehr niedrige Löhne. Die Firma nötigt die Arbeiter zu Arbeitstagen von mehr als zehn Stunden und streicht die Feiertage. Immer mehr Arbeiter werden durch Unfälle, die schwere Arbeit und Überstunden getötet. Daraufhin gab es Arbeiterproteste und begrenzte Arbeitsniederlegungen, obwohl Versammlungen und Streiks verboten sind.

Zu Neujahr (21. März 2005) hat die Firmenleitung alle ArbeiterInnen aufgefordert, während der Ferien und am Wochenende am Arbeitsplatz zu erscheinen, um ihre Kündigung zu verhindern. Die Jahresprämie wurde gestrichen. Die Beschäftigten der Montagelinie 1 wurden wegen der Stilllegung der Produktion des Peykan gekündigt.

Die ArbeiterInnen griffen zu Protesten und Streiks. Am 12. April wurde der Strom in den Montage- Abteilungen 1 und 3 abgeschaltet und die Produktion für einige Stunden unterbrochen. Ein Montagearbeiter (Parviz Salarwand, der an den Protesten beteiligt war) wurde entführt und im Keller der Fabrik durch den Harasat (Werkschutz) verhört, später an einen unbekannten Ort verschleppt. Er wird beschuldigt, gegen die niedrigen Löhne der Zeitarbeiter protestiert zu haben. Nach drei Wochen wurde bekannt, dass gegen den geständigen Parviz Salarvand wegen »vorsätzlicher Abschaltung der Elektrizität und Sabotage« Haftbefehl erlassen wurde. Das Koordinierungskomitee unterstützte ihn in einer Mitteilung vom 18. Mai 2005, lehnte aber Sabotageaktionen ab als »abenteuerliche Methoden gegen die Interessen der ArbeiterInnen«.

Laut Mitteilung einer Gruppe ArbeiterInnen von Iran Khodro wurde er nach 40 Tagen in Folge der Proteste seiner KollegInnen und der Bemühungen ausländischer Institutionen frei gelassen. Aufgrund der Arbeiterproteste musste die Firmenleitung dieses Jahr den 1. Mai zum arbeitsfreien Tag erklären.

 
 
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