Wildcat Nr. 76, Frühjahr 2006, S. 06–09 [w76_kollektiv.htm]



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Kollektiv: Auf ein Neues!

 

Die sozialen Zusammenhänge in einer als gemeinsam erlebten Bewegung wie in den Untergrundszenen der DDR oder in der autonomen Bewegung der 80er in der alten BRD gibt es nicht mehr. Verarmung, Zukunfts- und Existenzangst schlagen viel direkter auf die Einzelnen durch. Das hat nicht nur damit zu tun, dass einzelne sich viel stärker als früher um die individuelle Karriere kümmern. Es hat auch damit zu tun, dass Jobs seltener geworden sind und die Art dieser Jobs die Individualisierung fördert. Der Druck, sich zu behaupten, ist viel größer geworden. Die Konkurrenz untereinander schlägt bis in die politischen Gruppen durch. Die BRD-Linke ist in der sozialen Realität angekommen – aber wie verhält sie sich darin?

 

Im Gefolge von Seattle sind viele politische Prozesse entstanden. Seit den Montagsdemos und den Streiks bei Daimler und Opel regt sich auch in der BRD wieder sozialer Widerstand. Anstatt beidem die Möglichkeit zu geben sich zu befruchten, verabschiedet sich ein Teil der radikalen Linken in die Beliebigkeit von Multituden, während der andere an der Zusammenarbeit mit der Linkspartei bastelt.

»Subjektivierung« im Arbeitsprozess

Das Kapital hat viele Arbeitsprozesse so umstrukturiert, dass sie die Unfähigkeit, sich aufeinander zu beziehen, fördern – man könnte fast sagen, sogar erfordern. Das »jeder ist sich selbst der nächste« schlägt um in Angst vor Gemeinschaft. Einige Schlaglichter:

Leiharbeit heißt in der Regel, auf sich allein gestellt zu sein: Verträge werden individuell ausgehandelt, in den Betrieben fängt man immer wieder neu an, Konflikte (um nicht gezahlte Löhne, z.B.) müssen meist individuell durchgestanden werden. Oft zerreißt das soziale Umfeld der ArbeiterInnen, weil sie ständig unterwegs sind und oft den Betrieb wechseln.

Für die Festangestellten ist es stressig und frustig, immer wieder jemand Neues einzuarbeiten. Der Druck durch verschärfte Produktionsbedingungen (höhere Stückzahlen, z.B.) wird zum Konflikt zwischen Arbeitern in den unterschiedlichen Beschäftigungskategorien. Weil die Festangestellten sich abgrenzen und die Leiharbeiter nur befristet angestellt sind, werden kollegiale Prozesse erschwert.

»Dienstleistungsarbeit« ist schwer zu definieren: wenn ein Leiharbeiter das gleiche macht, was vorher ein festangestellter Industriearbeiter gemacht hat, dann ist statistisch aus Industriearbeit »Dienstleistungsarbeit« geworden. Dennoch lässt sich natürlich eine Zunahme von Dienstleistungsarbeit real feststellen (Callcenter, IT).

Viele Dienstleistungsarbeiten (Gastronomie, Frisöre) sind so kleinteilig, dass sich ein arbeitsteiliges Organisieren mit andern nicht lohnt. Meist konkurrieren diejenigen, die mit der gleichen Tätigkeit Geld verdienen, um stundenweise Anstellungen. Die räumliche und zeitliche Trennung voneinander (Hauskrankenpflege, Messebau) verlangt von den Leuten, sich individuell zu behaupten und zum eigenen »Arbeitskraftunternehmen« zu machen. Im besonderen Maße betrifft das die Selbständigen und Ich-AGs. Auf der »betriebswirtschaftlichen« Ebene ist der eigene Erfolg vom Misserfolg des anderen, des Konkurrenten, abhängig. Solidarisierung erscheint unsinnig, als Verlust des eigenen Vorteils.

Gruppenarbeit – um industrielle Produktionsprozesse politisch beherrschen zu können, muss das Kapital die ArbeiterInnen immer wieder zu Einzelnen machen und sie gleichzeitig partiell einbeziehen. Die Einführung von Gruppenarbeit zu Beginn der 90er Jahre hatte vor allem den Zweck, gewachsene Strukturen unter den ArbeiterInnen zu zerreißen. In letzter Zeit ist von Arbeiterseite des öfteren die Einschätzung zu hören, dass sich in der Gruppenarbeit auch neue Strukturen und teilweise eine Requalifizierung gebildet hätten. Die Frage, wie diese Strukturen in Kämpfen als kollektive entdeckt und gegen das Kapital gewendet werden können, steht auf der Tagesordnung.

Grenzen der sozialen Bewegungen

Die Mobilisierungen – Montagsdemos und die Kämpfe bei Daimler, Opel, AEG usw. – haben ihre Grenzen vor allem darin, dass sie Abwehrkämpfe geblieben sind. Die Kündigungswelle hält an, der Niedriglohnsektor weitet sich aus. Die soziale Lage ist durch Verunsicherung gekennzeichnet, und immer mehr Menschen reagieren mit Wut, Aggressivität und einer Ya-Basta-Stimmung. Hunderttausende gingen gegen Entlassungen und Sozialabbau auf die Straße, die Streikwelle in den Betrieben reißt nicht ab. Während die Abfindung eines Opel-Arbeiters für die Mehrheit der MontagsdemonstrantInnen ein unerreichbarer Traum ist, gefährdet die Prekarität der Arbeitslosen Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen (»Draußen stehen Hunderte, die Euren Job zu den Bedingungen sofort machen würden!«). Zudem ist das Terrain der Lohnarbeit inzwischen durch -zig Spaltungen innerhalb und unter den Betrieben (Tarife, Verträge, Beschäftigungskategorien, Sonderleistungen) dermaßen zerklüftet, dass ein gemeinsamer Kampf zumindest schwierig wird. Die defensive Logik in den Mobilisierungen kann diese Spaltungen nicht »überspringen«.

Es entstehen gemeinsame Momente, aber das Miteinander kreist stark um das Abarbeiten der alten Rituale und konnte im Fall der Montagsdemos die Bewegung nicht überdauern. In den Kämpfen gegen Betriebsschließungen schlägt die »Es reicht!«-Stimmung, spätestens wenn Abfindungen angeboten werden, in individuelle Taschenrechnerakrobatik um.

Die defensive Logik und die fehlende eigene Stärke machen es Parteien und Gewerkschaften leicht, sich mit billigsten Mitteln an die Spitze zu setzen.

Krise der Repräsentanz: die WASG

Die demokratische Einbindung wird schwächer. Der Block von sozialdemokratischer Partei, Einheitsgewerkschaft und Sozialstaat, der in Deutschland spätestens seit 1918 jeden revolutionären Versuch rabiat in die Zange genommen hat, bricht auf. Aber es besteht die Gefahr, dass Spielräume, bevor sie politisch geöffnet werden können, bereits parlamentarisch wieder zugestellt werden. Nicht aus dem reaktionären Lager, sondern aus den »eigenen« Kämpfen heraus. Die WASG/Linkspartei ist politischer Ausdruck davon, dass die Mobilisierungen und Bewegungen an Grenzen gestoßen sind. Sie kanalisiert die Wut und Unzufriedenheit. Noch während die offene politische Krise zum Ausdruck bringt, dass die Herrschenden nicht mehr in der alten Weise regieren können, und dass die Massen sich nicht mehr in der alten Weise regieren lassen wollen, wird mit dem alten reformistischen Gehabe über die Suche nach politischen und gesellschaftlichen Alternativen hinweg gerotzt.

Die »sozial entpolitisierte Linke« (Dirk Hauer)

Warum spielt in dieser Phase, in der demokratische Legitimation und kapitalistische Perspektiven zerfallen und sich die »soziale Frage« mit Macht auf die Tagesordnung setzt, die »radikale Linke« keine Rolle? Verunsicherung, Überlastung und Prekarisierung haben auch unter Linken zu einem gesteigerten Bedürfnis nach Sicherheit geführt. Ein (uneingestandenes) Hoffen in die Stabilität der kapitalistischen Gesellschaftsform führt zu Theorien, in denen die Gesellschaft als stabiles System phantasiert wird. Dazu muss der historische Prozess stillgelegt und der Antagonismus ausgeblendet werden. Das hat den »Vorteil«, dass man soziale Verhältnisse in winzige Einheiten zerlegen, ausdifferenzieren und somit behandelbar machen kann (Luhmanns Systemtheorie lässt grüßen).

Diese vermeintliche »Klarheit« gibt individuelle Handlungsanleitungen – zum Verhalten in den vorgeschriebenen sozialen Gesetzmäßigkeiten. Die Gesellschaft wird in konformen Alternativen aushaltbar – um den Preis, dass kollektive Versuche mit emanzipatorischer Perspektive oder gar ein völliger Umbruch nicht mehr gedacht werden können.

Realpolitik

Dazu passt z.B. der »Offene Brief« von FelS an die WASG wie die Faust aufs Auge: Wer weder in den sozialen Bewegungen noch in der eigenen Reproduktion ein sprengendes Potenzial ausmachen kann, interveniert handfest in die große Politik, um »diskursive Räume« zu öffnen – und diskursiv soziale Realitäten zu- bzw. wegzuspitzen (»Prekariat«). Man hat gar keinen Bock mehr, sich die realen Veränderungen des Kampfterrains anzusehen, man will repräsentieren, das »Volk ver- und zertreten«, wie Marx das genannt hat.

Auch in der letzten arranca! (33) nimmt FelS davon nichts zurück, sondern versucht, eine Brücke zur Realpolitik italienischer Tute Bianche-Stadträte zu schlagen. Der Schwerpunkt der Ausgabe zur »politischen, sozialen und biologischen Reproduktion« kreist im Kern um die Frage »warum so viele mit 30+ [ihren] politischen Projekten den Rücken kehren«. Entgegen der These: »das Leben in der linksradikalen Szene bringe es strukturell mit sich, dass zwischen Politik, Ausbildung und Freizeit bzw. Privatleben kaum noch zu unterscheiden ist« (ebd.) wird in den meisten Beiträgen der Alltag – die soziale Reproduktion – nur insofern thematisiert, wie er die »Politik« behindert oder zum gruppendynamischen Problem wird. FelS positioniert sich in der (eigenen) »politischen« Debatte, aber erfasst keine sozialen Prozesse, um die politische Praxis dazu in Verbindung zu bringen.

Offenes Projekt oder identitäres Kollektiv?

Viele politische Projekte betrachten ihr politisches Engagement nicht mehr als Kampf, in dem jede/r dazulernen kann. Sie teilen sich stattdessen in Arbeitsbereiche. Wo die Eine die Buchhaltung macht, putzt der Andere das Klo, und wenn Ich die Flyer drucke, dann überlegst Du, was drauf steht. Das erspart Stress und Auseinandersetzung, aber es belässt in widersprüchlicher Weise jedeN einzelneN im Zustand dieser Gesellschaft. Eingebettet in Finanzlogiken und gebunden an öffentliche Gelder sind die Beteiligten gar nicht mehr in der Lage, sich im Projekt weiter zu politisieren und gemeinsam zu orientieren. Abgegrenzte Arbeitsbereiche geben keine kollektiven Reize. Die praktizierte Arbeitsteilung ist nur ein vermeintliches Miteinander – die Leute erleben sie als Verpflichtung, als weitere Belastung, neben »Beruf und Alltag«. Und »natürlich« ist es einfacher, schneller und anerkennungsreicher, etwas alleine durchzuziehen – dementsprechend sind dann auch die Ergebnisse.

Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass gleichzeitig das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit in vielen Bereichen anscheinend explosionsartig angewachsen ist. Sekten, religiöse und esoterische Gruppen, neoleninistische Organisationen finden Zulauf. Auf den zweiten Blick erscheint es als gespeist aus derselben sozialen und existenziellen Verunsicherung, die wir oben diskutiert haben.

Die verständliche Abwehr gegen solche Gruppen schießt aber weit übers Ziel hinaus, wenn alle kollektiven politischen Versuche sogleich mit dem Etikett »identitäre Vereinnahmung« abgelehnt werden. Oft stecken hinter einer solchen Kritik nur die oben diskutierten Unfähigkeiten, die Angst vor Verbindlichkeit.

Somit wären wir erneut am Ausgangspunkt unserer vor fünf Heften angefangenen Diskussion: ein wachsendes Bedürfnis nach Kollektivität geht einher mit einer wachsenden Unfähigkeit dazu.

Die Verhältnisse und die Ausbrüche daraus

Das bisher Entwickelte ist alles andere als motivierend. Wenn wir es als Ausdruck des Klassenkampfs von oben fassen, lassen sich dann in den alltäglichen Verhaltensweisen der Menschen, die diesem Druck ausgesetzt sind, auch Ansätze dafür finden, wie sich der Druck unterlaufen oder sogar umdrehen lässt? Wie hängen Organisationsfrage und alltäglicher Klassenkampf zusammen?

Selbsthilfe oder Selbstermächtigung?

Nach zweieinhalb Jahrzehnten der Versuche, »Arbeitslose zu organisieren« lässt sich festhalten, dass dies ein äußerst mühseliges Unterfangen ist. Die individuelle Abhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen steht offensichtlich kollektiven Kampfformen und Selbstorganisierungsversuchen entgegen. Die Bezüge wurden auf den/die Einzelne/n zurechtgeschnitten, die unterschiedlichen Bezugskategorien trennten – zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosengeld lagen Welten. Festangestellte konnten praktisch nicht unter das Niveau von Arbeitslosenhilfe rutschen, die Rente sicherte den Lebensabend. In Deutschland hat der Sozialstaat bisher auf relativ hohem finanziellen Niveau individualisiert.

Hartz IV und massive Rentenkürzungen ziehen diese Ebenen weg, weite Bevölkerungskreise geraten in Bedingungen sozialer Unsicherheit, in der Regionen und Bevölkerungsgruppen im Osten Deutschlands sich seit mehr als zehn Jahren befinden: abgeschnitten von kapitalistischen Entwicklungsperspektiven, ohne Sicherung der sozialen Existenz, Angst vor Altersarmut.

Wie oft in solchen Krisenzeiten entstehen soziale Zusammenhänge, die das Überleben ermöglichen. Tauschringe, Nachbarschaftshilfen, Wohnungsgemeinschaften sind unmittelbare Antworten auf ökonomische Zwangslagen. Stecken in solch nichtkommerzieller gegenseitiger Selbsthilfe mehr als temporäre Zweckgemeinschaften?

Die Arbeitslosenorganisationen in Argentinien – die Piqueteros – haben nicht nur das Überleben organisiert sondern auch militante Kämpfe. Zanon (ebenfalls in Argentinien) und verschiedene besetzte Fabriken in Polen haben gezeigt, wie schnell in einem Kampfverhältnis ein Kollektiv entsteht. Aber diese Versuche haben ihre Grenzen in den Zwängen des kapitalistischen Markts, die Selbstverwaltung der Fabriken droht zur Selbstausbeutung zu werden. Tauschringe funktionieren nur, solange Idealismus vorhanden ist und Miete, Steuer, Krankenversicherung ausgeblendet bleiben.

Vorrangig im Osten Deutschlands gibt es Regionen, aus denen alle weggehen, die können. Es entstehen aber auch viele neue Gemeinschaften, und zwar nicht nur idealistisch aufgeladene Ökodörfer und religiöse Lebensgemeinschaften, die überteuerte Bio-Petersilie verkaufen, sondern auch immer wieder Dörfer, die auf Subsistenz und ihre eigenen Möglichkeiten setzen. Es gibt sogar viele Neuzugänge aus der Stadt, etwa Menschen mit Kindern, die dem Dreck der Stadt entfliehen und es auf dem Land ökologischer versuchen wollen. Das ermöglicht den Ausbruch aus der ländlichen Isolation, Erfahrungen stoßen aufeinander, Neues wird angepackt: selbstgebaute Internet- und Telefonvernetzungen, kollektive Betriebe, Kneipen, Radios, Festivals…

Nur kurz sei auf zwei weitere Gruppenbildungsprozesse hingewiesen, bei denen sich ökonomische Zwänge und der Wunsch nach eigener Mobilität verschränken: Jugendliche in Plattenbausiedlungen (im Osten und im Westen Deutschlands), oft Migrantenkinder, deren Cliquen die Familie ersetzen, um sich in zumeist zerrissenen sozialen Strukturen gegenüber Bullen aber z.B. auch Großfamilien behaupten zu können; oder (illegale) MigrantInnen die Kollektive benötigen, sowohl um hierher zu kommen, als auch, um hier überleben zu können.

Es ist offen, welche Entwicklung solche Notgemeinschaften nehmen. Die Linke hat in den vergangenen Jahren häufig den Fehler gemacht, eine Sache total hochzuloben, ohne genauer hinzuschauen (»Immigranten-Communities«, »Riots«) – und war dann bitter enttäuscht, wenn die Akteure nicht ihrem Bild von revolutionärem Subjekt entsprachen. Das hat dazu geführt, dass sich in letzter Zeit kaum noch jemand um eine wirkliche Auseinandersetzung bemüht hat und nationalistische oder reaktionäre religiöse Figuren Terrain gewinnen konnten. Teilweise hat das auch zu abgehobenen soziologischen und philosophischen Betrachtungen geführt – unter anderem zu den Ereignissen in Frankreich –, die die tatsächliche Auseinandersetzung mit den aktuellen Verhältnissen verhindern.

Kollektive

Kollektivität heißt, hier und jetzt ein Verhältnis zueinander herzustellen, in dem wir gemeinsam lernen, uns schulen, diskutieren, uns ausprobieren und verändern, unsere Bedürfnisse weiter entwickeln. Dazu müssen wir die Mechanismen bekämpfen, die uns von einer freibestimmbaren Reproduktion trennen und uns zu Lohnabhängigen machen. Als Kollektiv geben wir uns ganz andere Möglichkeiten. Gemeinsam ist es leichter, Jobs hinzuschmeißen, gerade wenn sie uns fertig machen. Gezielt können wir aber auch dort arbeiten, wo sie uns nicht haben wollen. Dort sind wir nicht erpressbar, wenn wir das Maul aufmachen. Wir müssen nicht am Job kleben, weil er uns ein Selbstwertgefühl gibt, sondern können mit Leuten zusammenkommen und gemeinsam revoltieren.

Die Schule, die Fabrik, das Büro als Kampfverhältnis zu verstehen, ist leichter gesagt als getan: Wir haben oben dargestellt, dass die berufliche Sozialisation immer wieder kollektive Prozesse verhindert. Diese Gegebenheit auszublenden, wäre dumm. Vielmehr können wir genau hier ansetzen, Fähigkeiten zu suchen, die wir im Arbeitsprozess, an den Unis und Schulen für den Ausbeutungsprozess erlangen, die aber auch gegen die Ausbeutung gewendet werden können.

Zunächst einmal, indem wir die Orientierung am beruflichen Fortkommen knacken und den Rahmen sprengen, in dem viele durch ihre einseitige Spezialisierung und Ausbildung – gerade die schnell durchgeschleusten Uniabsolventinnen – stecken. Wir wollen die individuelle Kreativität und Schaffenswut, unser Wissen befreien und sie unabhängig von profitorientierten Interessen entfalten und kollektivieren. Gleichzeitig können wir uns kollektiv mitten in die kapitalistische Akkumulation begeben – die Arbeit als Mittelpunkt der Auseinandersetzung sehen und nicht zwischen den »eigenen Bedürfnissen« und einem »revolutionären Prozess« eine neue Lebensweise »entdecken«.

Sich zu kollektivieren ist die Grundlage für revolutionäre Ansätze. Die Arbeitsverhältnisse überhaupt wieder als Kampf gegen die Lohnarbeit in den Mittelpunkt zu rücken, die Methode. Wie das Produktionswissen – unsere eigenen Fähigkeiten – uns sowohl als Kollektiv stärken kann, als auch dem Kapital »den Hahn zudrehen könnte«, müssen wir untersuchen und in den Mittelpunkt weiterer Überlegungen stellen.

Die ganze Scheiße umstürzen

Ohne ein Kollektiv im Rücken kann niemand ernsthaft von Revolution reden. In dieser Gesellschaft, in der wir ohnmächtig, vereinzelt und permanent konkurrierend existieren, sind wir ohne einen verbindlichen Bezug zueinander nicht in der Lage, Teil der gesellschaftlichen Umbrüche zu sein, geschweige denn die Angst vor einer »nachrevolutionären« Situation zu überwinden. Wir müssen ausprobieren, experimentieren, nicht resignieren, sondern »die Scheuklappen ablegen«, um im Kontext des weltweiten Aufbegehrens handlungsfähig zu werden. Unser Rückhalt erlaubt es uns auf die Suche zu gehen.

Dem Arbeits-und Verwertungsprozess gebührt dabei eine besondere Aufmerksamkeit, weil hier sowohl die ArbeiterInnen alltäglich zusammenkommen (Kollektive), als auch in ihren Kämpfen ihre vom Kapital auferlegte Identität als LohnarbeiterInnen in Frage stellen. Aber natürlich lohnt es sich auch in Defensivkämpfen gegen weitere Verschlechterungen (Streiks im Öffentlichen Dienst) oder in Mobilisierungen wie der in Frankreich nach neu entstehenden Zusammenhängen zu suchen, in denen die Menschen selber handlungsfähig werden.



aus: Wildcat 76, Frühjahr 2006



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