Wildcat Nr. 77, Sommer 2006, S. 6–10 [w77_disk_oed.htm]



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»Wenn 7000 Streikende ne Kreuzung blockieren«

Bestandsaufnahme: Wo stehen wir nach den Streiks im Öffentlichen Dienst?

 

Als wir uns zum Gespräch in der zweiten Junihälfte verabredet haben, war mir nicht bewusst, wie stark der differenzierende Tarifabschluss im Länderbereich auch die Aktivisten gegeneinander aufbringt: die im (kommunalen) Krankenhaus sind stinkesauer! In den knapp dreieinhalb Monaten seit unserem Gespräch am 6. März (siehe Wildcat 76) war ne Menge passiert: Anfang April hatte sich – ver.di in Baden-Württemberg mit den Arbeitgebern auf 39 Stunden geeinigt. Mit der Annahme des Verhandlungsergebnisses für die Länder wurden am 29. Mai die ver.di-Streiks im öffentlichen Dienst beendet. Nach dreizehn Wochen Ärztestreik einigten sich der Marburger Bund und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder am 16. Juni 2006 auf einen arztspezifischen Tarifvertrag. In diesem Zusammenhang war es zu den ersten unbefristeten Streiks von Klinikärzten in der deutschen Nachkriegsgeschichte gekommen. Am Tag unseres Gesprächs (20. Juni) beschloss die große Tarifkommission des Marburger Bundes Streiks in den kommunalen Kliniken. Sowohl ver.di wie Marburger Bund haben in ihren Abschlüssen 16 Jahre nach der Vereinigung von BRD und DDR große Unterschiede in Löhnen und Arbeitszeiten zwischen Ost und West festgeschrieben – ein Umstand, auf den wir in unserem Gespräch allerdings nicht weiter eingegangen sind. Es dreht sich vor allem um zwei Fragen: warum wurde nicht effektiver gestreikt? Und wo stehen wir heute, was wird aus den im Streik entstandenen Strukturen?

 

W = Wildcat
T = Streikaktivist vom Theater
K = Streikaktivist aus dem Klinikum – alle drei Stuttgart

 

W: Der Öffentliche Dienst hat 16 Wochen lang gestreikt – man könnte meinen, es war ein Streik im Geheimdienst, so wenig ist an die sogenannte Öffentlichkeit gedrungen. Wie erklärt Ihr Euch das?

T: Man muss zwei Sachen differenzieren: Das eine war der kommunale Streik, und der kam auch in den Medien, denn da konnten die Kinder nicht in den Kindergarten, auf der Straße lag Müll rum usw. Der Streik der Landesbediensteten ist viel länger gelaufen und musste nach dem Abschluss im kommunalen Bereich alleine fortgeführt werden. Das Statistische Landesamt z.B. hat vier, fünf Wochen am Stück gestreikt, die Theater in München teilweise über 100 Tage, einige Landeskliniken ebenfalls. Darüber wurde in den Medien nicht berichtet.

W: In vielen Landesbetrieben war es ein minderheitlicher, in manchen sogar ein extrem minderheitlicher Streik, an den beiden großen Kliniken in München waren an der einen von 9000 Beschäftigten 20 im Streik, an der anderen 60 von 7000. Gerade deshalb wäre Kommunikation unter den streikenden Betrieben wichtig gewesen. Aber nach dem Abschluss bei den Kommunen stellte ver.di die Herausgabe der »Streiknachrichten« ein. Über Wochen hinweg wussten nicht einmal die Streikenden selber, wer sonst noch streikt. Relativ spät habt Ihr dann angefangen, Euch selber bundesweit zu vernetzen. Viele haben da erst gemerkt »hey, wir sind ja gar nicht alleine im Streik!«

T: ver.di war im Funktionärsapparat teilweise nicht vorbereitet und hat schlicht versagt. Auf der anderen Seite haben das die Streikenden im Länderbereich zumindest in Stuttgart zuletzt beinahe täglich getan: sich gegenseitig informiert und unterstützt.

W: Selbst Riexinger hat in der bezirklichen Streikleitung bestimmte ver.di-Funktionäre und Personalräte kritisiert, weil sie im Streik eine abwiegelnde und demobilisierende Rolle gespielt haben. Sogar der Chef sagt, dass einige Funktionäre gegen den Streik gearbeitet haben. Und tatsächlich könnte einigen altgedienten ÖTV-Funktionären die große Selbsttätigkeit der Basis in diesem Streik gehörig gegen den Strich gegangen sein!

T: Gewerkschafter arbeiten mit Drohkulissen, damit machen sie Druck am Verhandlungstisch. Das soll aber eben Kulisse bleiben.

W: Genau! Da soll niemand rausspringen und selber was tun!

T: Der Apparat bei ver.di muss sich damit auseinandersetzen, dass es nicht mehr so läuft wie früher, wo oben entschieden wurde, welche Betriebe streiken und welche nicht – und die Basis folgte. 1992 hatten der Gewerkschaftsbezirksgeschäftssekretär und die Direktion des Hauses verabredet, das Theater wird drei Tage dicht gemacht, und dann sind alle drei Tage daheimgeblieben, das war der ÖTV-Streik 1992. Aber diesmal haben die Leute selber entschieden: Streiken wir? Wie lange? Streiken wir zwei Tage nicht? Wann steigen wir wieder ein. Und natürlich mussten die auch alle permanent in ihren Betrieben (und in ihrem Familienkreis) diskutieren und selber vertreten, was früher immer delegiert worden ist. – Man muss natürlich sehen, dass im Bereich Länder ganze Bereiche nicht streikfähig sind: die gesamte Ministerialbürokratie, die Regierungspräsidien, das sind die Masse von Beschäftigten im Bereich der Länder, im wesentlichen relativ gut bezahlte Angestellte, deren soziale Selbsteinschätzung eher bei Beamten liegt.

W: Diese Bereiche haben früher auch nicht gestreikt, damit lässt sich also nix erklären! Umgekehrt: sehr viele Leute haben zum ersten Mal in ihrem Leben gestreikt. Traditionell wurden Streiks im Öffentlichen Dienst von strategischen Beschäftigtengruppen geführt: Müllabfuhr, Post, Öffentlicher Nahverkehr und Flughäfen werden bestreikt und damit ist das Land lahmgelegt. 1974 stürzte die Brandt-Regierung über den dreitägigen Streik der Müllwerker und Straßenbahner, mit dem die ÖTV 11 Prozent Lohnerhöhung durchsetzte.

T: In diesem Sinne gibt es den Öffentlichen Dienst nicht mehr. Inzwischen sind alle möglichen Bereiche durch Branchentarifverträge ausgegliedert. Die Stuttgarter ver.di-Führung hat die Kollegen am Flughafen aufgefordert, wenigstens mal einen Solistreik zu machen, das wurde von den betrieblichen Funktionären schlichtweg abgelehnt.

»Wir hätten uns ganz simpel um das Häusle rumstellen können…«

W: Auf zwei Feststellungen können wir uns sicher einigen. Erstens: Der Öffentliche Dienst ist inzwischen zerlegt, zweitens: es gibt viel mehr Mobilisierung als früher. Diese Mobilisierung kann aber nur Durchschlagskraft entwickeln, wenn sie zu direkten Aktionen greift. Und das ist ein Punkt, den ich nicht kapiere: In Frankreich besetzen 16jährige streikende Oberschüler Bahngleise und wichtige Verbindungsstraßen, blockieren das Parlament usw. In der BRD läuft ein »historischer« Streik (das war auch die Einschätzung von ver.di) – und beim Aktionstag an der Wilhelma [Zoo in Stuttgart] kriegt man es nicht einmal hin, »freien Eintritt für alle« zu machen!

T: Weil das Eintrittspersonal nicht gestreikt hat.

W: Das interessiert doch nicht! Wir hätten uns ganz simpel um das Häusle rumstellen können, was hätte das »nichtstreikende Eintrittspersonal« denn machen sollen?

K: So was ist in Deutschland undenkbar! Jede Aktion ist darauf abgeklärt worden: »Wie stehen wir am nächsten Tag in der Öffentlichkeit da?« Die Hauptparole war: »Die Öffentlichkeit entscheidet diesen Streik!«, die veröffentlichte Presse entscheidet. Deshalb standen viele Sachen von vornherein nicht zur Diskussion. Bei einem Aktionstag sollte die Theodor-Heuss-Straße blockiert werden, da sind dann alle zügig dran vorbeigelaufen. Bei der Schlichtung wollten wir eine Aktion im Rathaus machen, da hieß es »jetzt auf keinen Fall, sonst stört Ihr die Schlichtung!« Bei einer Kundgebung auf dem Marktplatz haben Kollegen einen Riesenböller hochgehen lassen – das hat zu heller Panik auf dem Podium geführt: Man möge doch bitte immer so streiken, dass man auch morgen in der Öffentlichkeit noch gern gesehen ist!

W: Die Öffentlichkeit wurde wichtig genommen, und auf allen Streikversammlungen wurde geklagt: »warum kommen wir nicht in die Öffentlichkeit?« Warum hat man dann nicht einfach freien Eintritt bei der Wilhelma organisiert – dann wäre man ganz bestimmt in der Öffentlichkeit gewesen, sowohl bei den Leuten, als auch bei der veröffentlichten Presse!

T: Wenn 7000 Streikende auf einer Demo entschlossen wären, ne Kreuzung zu blockieren, dann kann die Gewerkschaftsführung Kopfstände machen und mit den Füßen wackeln, die Kreuzung ist blockiert! Aber die meisten haben zum ersten Mal in ihrem Leben gestreikt. Manche Kollegen waren zum ersten Mal in ihrem Leben auf ner Demo, die haben sich wahrscheinlich gefühlt wie unsereins mit 16 auf der ersten Demo. Nach acht Wochen haben die dann auch gesagt »öh, schon wieder Wandertag, da muss mal was anderes gemacht werden!« Manche Sachen haben ja geklappt, die Blockade der Müllverbrennung zum Beispiel..

W: Diese Blockade hat auch allen Spaß gemacht – man konnte sich in der Konfrontation durchsetzen, das gab ein Gefühl von Stärke. Die Kollegen vor der Wilhelma hätten den Verkehr auch richtig blockiert, wenn Riexinger nicht abgewiegelt hätte! Die Ärzte haben gezeigt, dass man auch im Öffentlichen Dienst effektiv streiken kann, dass man ein Krankenhaus schließen kann. Das war bei den PflegerInnen eine Grenze, vor der man zurückgeschreckt ist.

»Rausgekommen ist eine Fortsetzung von dem, was im Öffentlichen Dienst seit längerem läuft – die völlige Zersplitterung.«

K: Die Grenze lag viel viel früher! Wir haben nicht mal überlegt, eine Station zu schließen und die PatientInnen von dort wegzuverlegen. Die völlige Orientierung darauf, wie unser Streik in der »Öffentlichkeit« wahrgenommen wird einerseits, die feindselige Haltung der meisten Ärzte unserem Streik gegenüber andererseits, das hat den Streikenden schwer zu schaffen gemacht. Wir haben die Meinungsführerschaft der Chefärzte nicht durchbrechen können, und die standen dem Streik feindlich gegenüber. Wenn die Ärzte es wenigstens hätten laufen lassen, hätten wir eine völlig andere Beteiligung in den Krankenhäusern hingekriegt.

T: Wenn die PflegerInnen, Küchenhilfen und Hilfskräfte im Krankenhaus so konsequent wie die Heidelberger Ärzte z.B. alle PatientInnen aus dem Klinikum ins Bosch-Krankenhaus verlegt hätten, wäre der nationale Notstand ausgerufen worden!

W: Was ist dabei rausgekommen?

K: Rausgekommen ist eine Fortsetzung von dem, was im Öffentlichen Dienst seit längerem läuft: Flexibilisierung, Spartentarifverträge, weitere Differenzierung, mehr Arbeit. Seit dem TVöD waren Bundes-, Länder- und Kommunalbeschäftigte getrennt. Jetzt sind die einzelnen Länder auch noch für sich, die einzelnen Kommunen sind für sich, und die einzelnen Beschäftigtengruppen in einem Bundesland sind gegeneinander differenziert – die völlige Zersplitterung.

T: Die Zersplitterung ist größer geworden. Die war durch den TVöD und durch die künftige Leistungsentlohnung schon groß, das geht ja in die einzelne Belegschaft rein. Man darf aber nicht vergessen, dass durch den Abschluss auch ein über zweijähriger tarifloser Zustand beendet worden ist. Und »tariflos« hieß oft: Diktatur der Arbeitgeber, das ist keine Gewerkschaftspropaganda! Du kannst vollkommen frei verhandeln über deine Arbeitszeit, komischerweise setzt sich aber immer der Arbeitgeber durch! Dass die Tarifverträge ganz stark differenziert sind, dass diejenigen Länder belohnt wurden, die in der tariffreien Zeit am unverschämtesten zugelangt haben, gerade Baden-Württemberg und Bayern, ist klar. Aber an den Unis z.B. arbeiteten schon 50 Prozent der Beschäftigten länger, und die werden am 1. November runtergesetzt, in Bayern und Baden-Württemberg je zwei Stunden. Im Schnitt kommt trotzdem ne Arbeitszeitverlängerung für die Beschäftigten raus.

Die Lohnrunde 2008 ist im Länderbereich schon fertig, in den Kommunen steht sie bevor. Dafür ist die Arbeitszeitfrage in den Ländern offen, die Arbeitgeber können auf Ende 2007 die Arbeitszeitvereinbarungen erneut kündigen.

W: Dann habt Ihr aber schon wieder einen defensiven Kampf zu führen! Ich fand in den letzten Wochen im Streik offensive Wortmeldungen ermutigend: »wir müssen auch mal was fordern! wir brauchen zehn Prozent mehr Lohn, die Mieten, die Energiekosten … alles wird teurer.«

K: Der Impuls war da! Aber der Abschluss bei den Landesbeschäftigten hat dem einen Dämpfer versetzt. In den kommunalen Bereichen hatten sich Leute zusammengesetzt und wollten die Tarifauseinandersetzung um die Löhne vorbereiten: was haben wir an Löhnen alles verloren durch die nicht-tabellen-wirksamen Einmalzahlungen, was ist an Preissteigerungen dazugekommen, Mehrwertsteuererhöhung usw. - das war im Beginnen, dann kam der Abschluss der Länder: 2,9 Prozent im Jahr 2008, und die betrieblichen Funktionäre haben das sofort als Obergrenze des Erreichbaren ausgegeben. Dabei wären mit einer offensiven Forderung wesentlich mehr KollegInnen zu mobilisieren, aber wenn jetzt schon die Bremse reingehauen wird, bevor Leute dazu kommen, sich selber Gedanken zu machen … die totale Demobilisierung! Es gibt nicht nur keine gemeinsamen Punkte, wo man zusammenkommen könnte, das blockiert sich sogar gegenseitig!

W: Welche Kampfziele sind bei einem schlechten Kräfteverhältnis wichtig? Die 39 Stunden für alle im kommunalen Bereich hatten eine gewisse Attraktivität, auch wenn das nicht so pralle ist, neun Wochen gestreikt zu haben für eine halbe Stunde Arbeitszeitverlängerung. Aber es gleicht die Bedingungen wieder an und macht zukünftige Kämpfe führbar. Das andere Modell wäre das, was im Länderbereich gelaufen ist, oder was der Marburger Bund vertritt: die Starken holen raus, was sie rausholen können – wer nicht in der Lage ist zu kämpfen, selber schuld!

T: Das Auseinanderfallen stimmt. Aber niemand hindert die Gewerkschaftsbasis daran, die Gewerkschaftsführung vielleicht mal dazu zu bringen, den Mantel zu kündigen, oder sich vorzustellen, wieviel Lohnerhöhung man braucht. Die Gewerkschaftsführung kann die Basis nicht dran hindern, vor jeder Lohnrunde eine kräftige Forderung aufzustellen – die nachher nicht erfüllt wird.

W: Kommen angesichts einer Gewerkschaft, die sich die Hände bindet, wilde Streiks auf die Tagesordnung, weil selbst Lohnforderungen, um den Reallohnverlust ausgleichen, mit der Gewerkschaft nicht durchzusetzen sind? Mehrwertsteuer, Energiepreise, Abschaffung der Pendlerpauschale… da sind doch zweistellige Lohnforderungen angesagt!

T: Ich bin mir durchaus nicht sicher, ob die Situation so ist, dass es zu massenhaften wilden Streiks kommen würde. Auf der anderen Seite ist für mich noch nicht völlig raus, ob innerhalb des Öffentlichen Dienstes eine Dynamik entstanden ist, die von der Basis her die Führung unter Druck setzt. Das drückt sich erstmal in möglichst hohen Tarifforderungen, in möglichst starken Arbeitszeitverkürzungen u.a. aus – wenn man auf ner gewerkschaftlichen Ebene ist, drückt sich das eben in der Logik von Gewerkschaften aus.

W: Den hinter uns liegenden gewerkschaftlichen Streik haben Aktivisten und harte Kerne, aktive Minderheiten getragen. Und diesen Kernen wurde von den Funktionären immer gesagt: »Ihr seid toll! ABER: auf die Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaft könnt Ihr Euch nicht verlassen, deshalb seid Ihr alleine und solltet mit Euren Forderungen nicht zu weit gehen«. Diesen Kernen stellt sich doch die Frage, ob sie mit oder ohne Gewerkschaft mehr erreichen können. Am Theater seid Ihr 30 bis 40 Leute, die in der Lage sind, selbständig zu handeln, am Krankenhaus eher mehr. In Heidelberg haben 30 oder 40 Ärzte ne ganze Klinik geräumt. Das können doch n paar hundert Streikende auch!

K: Wir hatten in diesem Streik freie Hand von der Gewerkschaft, wir konnten tun, was wir wollen. Das war enorm wichtig. Wir haben zwar alles selber beschlossen, aber dann haben die meisten KollegInnen doch auf den Aufruf von ver.di gewartet. Und das gilt für die Zukunft erstmal genauso. Im Moment erleb ich bei vielen KollegInnen einen Frust: in so einer Aufbruchstimmung gewesen zu sein, andererseits doch nix hingekriegt zu haben, und jetzt kommt schon der Dämpfer mit der Lohnrunde, wo am Ende des Streiks sich immer mehr Hoffnungen drauf gerichtet hatten.

T: Bei uns ist die Stimmung »Oettinger soll sich trauen, die Arbeitszeit zu kündigen! Dann werden sie ihre nächste Niederlage erleiden.«

W: Die Arbeitgeber haben Grenzen aufgezeigt gekriegt, aber sie haben keine Niederlage erlitten!

T: Unsere Forderungen sind am Theater alle durchgegangen – natürlich von einer defensiven Position aus. Die Grenze ist insbesondere in baden-württembergischen aber auch in den niedersächsischen Großstädten und in ein paar Landesbetrieben aufgezeigt worden; vor allem dort, wo breite Arbeiterbereiche sind, da würde ich auch die Krankenhäuser dazu rechnen.

K: Die Katastrophe ist, dass es bei den KollegInnen so ankommt: in den Kommunen ist der einzige Erfolg, dass wir einheitliche Bedingungen aufrechterhalten haben, 39 Stunden für alle – das ist was, wo sich die KollegInnen auch ein Stück weit identifiziert haben, und was die Gewerkschaft zum Abschluss auch nach außen gestellt hat: Solidarität zahlt sich aus, wir halten zusammen. Jetzt merken die Leute: wenn man sich ä bissele unsolidarisch verhält, ich übersetz das jetzt mal frei, so wie im Länderbereich, und man sagt: »ha, wir, die gestreikt haben, wir bleiben bei 38,5 und der Rest soll doch 42 oder mir egal wie lang arbeiten!«, dann kommt man weiter. Das wird darüber transportiert. Eine Gewerkschaft, die solche Abschlüsse macht, ist sich doch bewusst darüber, dass es genau das transportiert: die Solidarität ist was Schönes, so lange man darüber schwätzen kann. Aber nur wer seine Ellenbogen richtig einsetzt, kommt auch vorwärts.

Kämpfen lohnt sich

T: Auf der anderen Seite sind wir uns ausnahmsweise mit der Gewerkschaftsführung einig: Kämpfen lohnt sich! In manchen Bereichen kriegt man was besseres hin, und zwar nicht, weil ver.di so gut verhandelt hat, sondern weil dort gestreikt worden ist. Natürlich ist das objektiv ein Differenzierungs- und Entsolidarisierungsprozess. Aber »Solidarität« hat früher darin bestanden, dass alle die von den Müllwerkern und Straßenbahnern erkämpften Lohnerhöhungen gekriegt haben. Heute ist die Argumentation der Gewerkschaft: wir machen eigene Leichtlohngruppen, dann ist es für die Arbeitgeber zumindest kostenneutral, die Leute im Öffentlichen Dienst zu lassen.

W: Das ist wie die Fangreuse beim Thunfischfang! Indem man dieser Argumentation folgt, treibt man die Flexibilisierung selber voran. – Eigentlich ist doch klar, was zu tun ist: Erstens waren wir beim Streik alle begeistert davon, wie stark Kerne in der Lage waren, selbständig zu handeln und wie weitgehend sie in aktive Minderheiten eingebettet waren (wenn ich zum Beispiel an Streikversammlungen von 100 und mehr Leuten im Krankenhaus denke, die alles gemeinsam diskutiert und beschlossen haben). Zweitens sind die Leute wütend über den Abschluss. Also müssen wir eine gemeinsame Debatte mit ihnen führen, um zu verhindern, dass sich die Kerne in Demoralisierung auflösen und um rauszukriegen, wie's weitergehen kann.

K: Im Moment ist es nicht so einfach, allerdings denk ich, dass nach einem so langen Streik auch klar ist, dass die Luft raus ist und die Leute das erstmal verarbeiten. Am Klinikum sind zum ersten Mal seit langem wieder Vertrauensleutewahlen durchgeführt worden, vorher waren ausschließlich die gewählten Personalräte automatisch Vertrauensleute. Die Wahlen sind noch mit einem relativ großen Enthusiasmus gelaufen. Sowohl auf Klinikumsebene wie auf den örtlichen Ebenen gibt es jetzt Vertrauensleutesitzungen usw. Auf diesen Sitzungen läuft auch so was wie eine kollektive Aufarbeitung des Streiks.

T: Vertrauensleutewahlen stehen bei uns noch an, und die waren bei uns noch nie eine Formalie. Ich denk, da werden sich auch Leute aktivieren, oder die kann man aktivieren, die durch den Streik dazu gekommen sind.

»Es gibt ein ganz anderes Mobilisierungspotential als früher!«

W: Ihr habt keine Bedenken, dass Ihr den Elan Eurer KollegInnen jetzt wieder in die üblichen gewerkschaftlichen Vertretungsstrukturen einbaut? Was macht denn ein Vertrauensmann letztenendes? Er überredet Leute, in die Gewerkschaft einzutreten.

T: Diese Vertrauensleutekörper haben auch einen Sinn als gewerkschaftliche Basisorganisation über die Stärkung des Organisationsgrades hinaus. Das kollidiert nicht mit einer vernünftigen Arbeit im Betrieb. Es könnten durchaus Situationen entstehen, wo dieser ganze Apparat dir zum Klotz am Bein wird, aber im Moment ist das meistens nicht die Frage, die sich stellt.

K: Ich seh im Klinikum, wie die Diskussion in Vertrauensleutestrukturen geführt wird. Die Gewerkschaft hat großes Interesse daran, die Kontrolle darüber zu kriegen. In der Betriebszeitung werden kritische Beiträge zum Streikabschluss nicht abgedruckt. Bei den Vertrauensleutesitzungen sind immer die zuständigen GewerkschaftssekretärInnen oder die üblichen Personalräte dabei und achten drauf, dass in Richtung »Stärkung der Gewerkschaften« diskutiert wird; »wir haben nicht mehr durchkriegen können, weil wir nicht mehr Mitglieder haben!«, so diesen ganzen Sermon; und dass das der einzige Weg ist, wie man weiterkommen kann. Das frustriert Leute, die im Streik sehr aktiv waren – allerdings nicht in die Richtung, dass sie außerhalb der Gewerkschaft was probieren würden. Es gibt gegenüber allem, was nicht Gewerkschaft ist, sehr große Vorbehalte. Das ist erstaunlich, weil es während des Streiks gar nicht so war. Sobald der Streik aber vorbei war, ist das wie abgeschlossen.

W: Wenn die Gewerkschaft die Diskussionen über den Streik und den Abschluss zu deckeln versucht, dann muss man den Leuten ein Mikro hinhalten und sie fragen, was sie zu sagen haben: »Was für Hoffnungen hattest Du im Streik? Wie beurteilst Du den Abschluss? Was hat sich bei der alltäglichen Arbeit verändert?« Und daraus vielleicht ein vierseitiges Flugi machen? Ohne da selber Parolen vorzugeben. Soviel Vertrauen kann man in die Leute doch auf jeden Fall haben!

K: Das ist aber schwierig zu organisieren. Das musst du über ne Art Parallelstruktur machen. Da sind wir die ganze Zeit am Überlegen. Der Schritt weiter ist sehr schwierig, und da wissen wir nicht, wie wir das aufknacken können, außer bei einzelnen zeitweilig.

T: Es geht nicht drum, im Betrieb kontinuierlich »Politik zu machen«, sondern dass sich gezeigt hat, dass es ein ganz anderes Mobilisierungspotential als früher gibt. Die Leute gehen mit anderem Selbstbewusstsein an solche Fragen wie Arbeitszeit, Schichtpläne usw. ran. Man geht nicht mehr unbedingt zum Personalrat oder zum Chef vom Chef, um sich zu beschweren. Sondern man schreibt was auf, diskutiert das mit den Kollegen und dann unterschreiben 20 oder 30. Mehr Leute überlegen von sich aus, wie sie sich wehren können.

K: Das denk ich auch, das wird sich relativ schnell zeigen. Auch bei uns im Krankenhaus stehen große Auseinandersetzungen an. Wir haben den ganzen »Defizit-Abbau«-Käse an der Backe1, den die Geschäftsführung in einen massiven Arbeitsplatzabbau umsetzen will. Wir haben da jetzt eine komplett andere Grundlage – und das ist natürlich ein Erfolg des Streiks –, in solche Auseinandersetzungen reinzugehen. Wir müssen aber sehen, inwieweit die Leute dann in die Auseinandersetzungen mit eigenen Vorstellungen reingehen, oder ob sie die üblichen, vorgegebenen Positionen »wir müssen die Verschlechterung verlangsamen« mitmachen. Das wird spannend!

 


Fußnoten:
1 Vertrag zwischen Stadt, ver.di, Personalvertretung und Geschäftsführung, das Krankenhaus nicht zu privatisieren, aber in den folgenden Jahren kontinuierlich Defizite abzubauen;

 


 

Die Abschlüsse von ver.di im Öffentlichen Dienst:

I kommunal

Hamburg: ca. 20 000 Beschäftigte – abgeschlossen am 1.03.06

Arbeitszeit: von 38,5 auf 38 bis 40 Std./W.; differenziert nach Alter u. Entgeltgruppe; weitere Differenzierung: Leute mit Kindern bis 12 arbeiten 0,5 Std./W. weniger; Umsetzung durch Einführung von AZ-Konten.

Niedersachsen: ca. 120 000 Beschäftigte – abgeschlossen am 15.03.06

Arbeitszeit: Beibehaltung der 38,5 Std./W. für Beschäftigte in Kindertagesstätten, Krankenhäusern und Betriebsdiensten sowie für Leute, die in Hannover arbeiten; 39 Std./W. für alle anderen; Beschäftigte mit 38,5 Std./W. müssen auf Verlangen des Arbeitgebers unbezahlt an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen; Öffnungsklauseln zur Erhöhung der AZ und zur »wettbewerbsfähigen Eingruppierung« Neueinzustellender und »Zukunftssicherung der Krankenhäuser« und »Notlagen-TV für Krankenhäuser«; »Meistbegünstigungsklausel« bleibt unberührt.

Baden-Württemberg: ca. 200 000 Beschäftigte – abgeschlossen am 5.04.06;

Arbeitszeit: von 38,5 auf 39 Std./W. für alle; keine 1 zu 1 Umsetzung des Abschlusses zum Stellenabbau, sondern Nutzung der längen AZ zur Verbesserung der Qualität kommunaler Dienstleistungen; Meistbegünstigungsklausel bleibt unberührt.

 

II Länder (ohne Hessen und Berlin), 847 000 Beschäftigte (inkl. Hessen und Berlin) abgeschlossen am 19.05.06

Einführung einer einheitlichen Entgelttabelle für Arbeiter und Angestellte ab 1.11.06. Nach 11 Nullmonaten (Februar bis Dezember 2005), Pauschalzahlungen von 150/100/50 Euro im Juli 2006, 310/210/60 Euro im Januar 2007, 450/300/100 Euro im September 2007, 2,9 Prozent aufgerundet auf volle 5 Euro (= 3,0 Prozent im Durchschnitt) ab 1.01.08 West bzw. ab 1.05.08 Ost, Laufzeit bis 31.12.08. Einführung eines zusätzlichen Leistungsentgelts ab 2007.

Arbeitszeit: von tariflicher 38,5 Std./W. (einzelvertragliche Vereinbarungen von bis zu 42 Std./W.) auf AZ zwischen 38,7 (Schleswig-Holstein) und 39,73 (Bayern) abhängig von Bundesland, Laufzeit bis 31.12.07, danach Kündigung durch jedes Bundesland einzeln möglich. Beibehalt der 38,5 Std./W. für bestimmte Gruppen (im wesentlichen der Bereiche, die gestreikt hatten) und der 40 Std./W. im Osten.

Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld werden zusammengefasst und nach Entgeltgruppe gestaffelt: von 95/71,5% für E 1-8 bis 35/30% für E 14-15 eines ME, jew. West/Ost. Angleichungsschritte für 2006/2007 für in der tariffreien Zeit Eingestellte. Nach Erreichen der vollen Angleichung Kündigungsmöglichkeit der einzelnen Länder und Möglichkeit zur Vereinbarung landesbezirklicher Regelungen.

Gesonderte Vereinbarung für die Bereiche Unikliniken, Ärzte/Ärztinnen, WissenschaftlerInnen und LehrerInnen.

 


 

Zum Weiterlesen: Interview mit ehemaligem SUD-Aktivisten.



aus: Wildcat 77, Sommer 2006



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