Wildcat Nr. 85, Herbst 2009, [w85_chimerica.htm]



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Alle Hoffnungen richten sich auf China

In den Jahren zwischen dem Dot-com-Crash und dem Einsetzen der aktuellen Krise hat die Weltwirtschaft vor allem dank »Chimerica«1 funktioniert: der Symbiose zwischen den USA und China. Auf der einen Seite stand die gewaltige Verschuldung der US-amerikanischen Konsumenten, die mit ihrem Geld chinesische Waren kauften. Auf der anderen Seite die gewaltige chinesische Überproduktion und das Unvermögen, die vielen eingenommenen Dollars produktiv in China anzulegen. Indem ein großer Teil der Einnahmen in US-Staatsanleihen zurückfloss, finanzierte China die amerikanischen Schulden, und der Kreis schloss sich. Damit ergab sich eine doppelte Abhängigkeit: Die USA sind von China als ihrem größtem Kreditgeber abhängig, und China ist mit seinen über zwei Billionen Dollar Devisenreserven von der Stabilität des Dollar abhängig. Dessen beständige Abwertung lässt die chinesischen Reserven schrumpfen.

Der in der Krise eingebrochene US-Konsum hat die Nachfrage nach chinesischen Exportgütern drastisch verringert. Obwohl beide Seiten zunächst das bisherige Modell zu stabilisieren versuchten, ist es damit in den Abgrund gestürzt. Alle Hoffnung ruht nun darauf, China könne sich nicht nur am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, sondern dabei noch zur Lokomotive der Weltwirtschaft werden. Aber das Land ist weit davon entfernt, zur Konsumgesellschaft oder gar in Nachfolge der USA zum Absatzmarkt für andere Länder zu werden.

Seit der Wende der Wirtschaftspolitik durch Deng Xiaoping ab Ende der 70er Jahre wurde der Export forciert. Nur so waren zweistellige Wachstumsraten möglich, die der verarmten unzufriedenen Landbevölkerung eine Perspektive bieten konnten. Das Regime löste mit dieser Flucht nach vorn eine gewaltige kapitalistische Dynamik aus: die Menschen werden durch verstärkte Ausbeutung »beschäftigt«, andererseits ist immer weiteres Wachstum notwendig, um nicht die Kontrolle über die wachsenden Bedürfnisse zu verlieren.

Das chinesische Wachstumsmodell basierte auf extrem niedrigen Reproduktionskosten der Arbeitskraft, niedrigen Löhnen und Zinsen, geringen Kosten fürs Sozialsystem, Entlastung der Unternehmen. Dies war bereits vor der Krise an Grenzen gestoßen – Billigprodukte warfen nicht mehr ausreichend Erträge ab, die ArbeiterInnen erkämpften sich Löhne, die für Branchen wie Textil-, Schuh- und Spielzeugproduktion bereits zu hoch waren. Die Krise wirkt gegen Ansätze zur Umstellung auf höherwertige Produkte. Sie führt nicht zu einem Qualitätssprung, sondern zur Fortsetzung der alten Produktionsweise unter schlechteren Bedingungen.

Die extreme Exportorientierung durch einen stärkeren Binnenkonsum auszugleichen wäre in ruhigen Zeiten ein langwieriger Prozess, ein ständiges Kräftemessen mit der Arbeiterklasse, deren Aspirationen und Wünsche das Regime beherrschbar halten muss. Das inmitten einer Krise zu bewerkstelligen, ist mehr als eine gewagte Hoffnung – es ist eine Illusion.

Kreditquantität und -qualität

Gleichwohl schienen erste Meldungen den Erfolg des chinesischen Konjunkturpakets zu bestätigen. Während »im Westen« die Kreditvergabe einbrach, konnte die chinesische Regierung den Banken vorgeben, dass und nach welchen Kriterien sie Kredite zu vergeben haben. Von Januar bis Juni wurde die Kreditmenge auf 7400 Mrd. Yuan ausgeweitet, auf mehr als 50 Prozent des in diesem Zeitraum erwirtschafteten BIP. Allein im Juni verdoppelte sie sich.

Die Kehrseite davon ist die schlechte Kreditqualität: Bei solch einem Kreditvolumen, noch dazu auf staatliche Anweisung, ist absehbar, dass viele Kredite platzen und eine Welle von Kreditausfällen den Staatshaushalt erschüttern wird. Bereits jetzt geht man davon aus, dass der Staat mit 50 bis 60 Prozent des BIP verschuldet ist (offiziell 17,7 Prozent), dazu kommen die neuen Kredite für die Infrastrukturprojekte. Das Haushaltsdefizit wird sich 2009 wahrscheinlich auf 10 Prozent des BIP erhöhen. Und obwohl schon eine Billion Yuan in Bad Banks überführt wurden, liegen bei den Banken noch 400 Mrd. Yuan faule Kredite.

Mit diesen gewaltigen Geldmengen wurde ein katastrophal geringes Wirtschaftswachstum erzielt. Ein großer Teil der Kredite floss in Immobilien- und Börsenspekulation. Die chinesischen Aktien sind schätzungsweise um 50 bis 100 Prozent überbewertet, und die Hälfte der Immobilienkäufe (sie lagen von Januar bis Juli um 65 Prozent höher als im Vorjahr) dient als spekulative Anlage. Der größere Teil davon sind Landkäufe durch staatliche Unternehmen. Verschuldete Regionalbehörden versuchen durch solche Transaktionen, Gewinn zu machen. Da die Preise über dem liegen, was man für entwickeltes Land bekommt, sind das absehbare Minusgeschäfte. Viele internationale Anleger haben den Braten gerochen und ziehen sich aus dem unsicheren chinesischen Immobilienmarkt zurück.

Die chinesische Politik steckt in einem Dilemma: Ausweitung der Kreditvergabe führt zu Blasenbildung und Inflation, ihr Zurückfahren würgt das Wachstum ab und führt zum Aktien- und Immobiliencrash. Zudem neigen ausländische Investoren zu Panik und ziehen in einem solchen Fall die Gelder ab, wie man das in den letzten Wochen beobachten konnte. Diese Zwickmühle erklärt das Hin und Her: Im Juli verpflichtete die Regierung die Banken auf höhere Eigenkapitalquoten und schärfere Kriterien bei der Kreditvergabe, woraufhin diese in einem Monat um 75 Prozent zurückging. In Reaktion darauf brachen im Juli und August mehrfach die Börsenkurse ein, ausländische Investoren zogen ihr Geld ab. Die Regierung versicherte daraufhin, die Kreditvergabe weiter aufrecht zu erhalten. Sie wird nun den Geldhahn weniger merklich zudrehen oder mit einer stop-and-go-Politik die Blasenbildung mildern.

Das Problem der Binnen-Nachfrage

Um den Konsum in China zu stärken, müssten die Steuern gesenkt und die Löhne erhöht werden, in der Krise passiert aber genau das Gegenteil. Den entscheidenden Anteil am Wirtschaftswachstum haben die Investitionen, nicht der Konsum. Sie machten in der ersten Hälfte 2009 sogar 88 Prozent des BIP aus – in den drei Jahren zuvor 40.

Die globalen Ungleichgewichte sind Ausdruck einer weltweiten Arbeitsteilung, die nicht einfach zurückgedreht werden kann. Die Löhne in China sind für manche Industriebranchen bereits jetzt zu hoch. Auf der anderen Seite des Pazifik ist die hohe Privatverschuldung in den USA Ausdruck davon, dass die ArbeiterInnen ihren Lebensstandard notfalls mit Krediten verteidigen.

Ein Großteil des chinesischen Konjunkturpakets, das nicht in der Spekulation landete, ging an große, finanzstarke Unternehmen. Weniger als fünf Prozent der Kredite ging direkt an kleine und mittlere Unternehmen, die aber 75 Prozent der Jobs in den Städten ausmachen. Staatsfirmen und staatliche Stellen finanzieren damit Infrastrukturprojekte, meistens den Ausbau von Transportwegen. Das Schienennetz soll um ein Viertel erweitert werden, 12 000 km neue Autobahnen sollen gebaut werden; mit den lokal geplanten Autobahnen zusammen wäre das eine Verdreifachung von bisher 60 000 km auf 180 000 km – bei 38 Millionen PKW. In den USA kommen auf 230 Millionen PKW 75 000 km Autobahnen. Außerdem sind eine ganze Reihe neuer Flughäfen geplant, teilweise in direkter Nähe zu anderen Flughäfen.

Mit solchen Projekten werden das Konsumvermögen und der Lebensstandard höchstens indirekt unterstützt. Besser funktioniert bisher die Stimulierung des Konsums durch Kaufanreize und Sozialprogramme. Bis August stiegen die Autoverkäufe im Vergleich zum Vorjahr um 82 Prozent auf 1,4 Millionen (davon 858 000 PKW). Aber im gleichen Zeitraum wurden mehr als sieben Millionen Autos produziert, von denen niemand weiß, wer sie kaufen soll – dabei waren die Fabriken nur zu 80 Prozent ausgelastet! Durch die Krise ist in fast allen Bereichen das Einkommen gesunken, bei der Mittelschicht um 30-50 Prozent, und auch hier wächst die Arbeitslosigkeit. Die Haushalte auf dem Land sind durch sinkende Preise für landwirtschaftliche Produkte und die ausbleibenden Überweisungen der WanderarbeiterInnen besonders stark betroffen. Die Regierung steuert gegen mit verbilligten Krediten, Subventionen und der Einführung einer rudimentären Krankenversorgung.

China: Exporte, Protektionismus, Überkapazitäten...

Bekanntermaßen ist offiziellen Statistiken nicht zu trauen: Die Meldung, das BIP-Wachstum im ersten Halbjahr 2009 habe mit 7,9 Prozent genau die angepeilte Ziellinie erreicht, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, denn im ersten Quartal war der Stromverbrauch in China um 4,3 Prozent gefallen und das BIP-Wachstum hatte angeblich 6,1 Prozent betragen. Auf der Bahnstrecke zwischen Guangzhou und Shenzhen ging im ersten Halbjahr 2009 das Frachtvolumen um 23 Prozent zurück.

Die Exporte sinken weiter stark, im Juli und August um je 23 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Importe schrumpfen nicht mehr so stark, sie sind im Mai um 25, im Juli um 15 und im August um 17 Prozent gesunken.

Weil China verstärkt Rohstoffe kauft, steigen die Preise auf dem Weltmarkt und tragen zur Illusion von »Bodenbildung« und Erholung bei. Dahinter steht aber keine nachhaltige Entwicklung. Die wachsenden Einfuhren aus anderen asiatischen Ländern, z.B. Rohstoffe aus Indonesien und Maschinen aus Südkorea, haben die Vorstellung genährt, China werde zum Konjunkturmotor der Region. Die Kupferimporte z.B. sind 150 Prozent höher als vor einem Jahr, auch die Importe von Kohle, Aluminium, Eisenerz und Öl gingen hoch. Die Zahlen spiegeln aber vor allem wider, dass im Rahmen des Konjunkturprogramms neben Straßen- und Schienenbau die Kapazitäten der Exportproduktion ausgeweitet und die Materialläger aufgefüllt werden – ohne dass es einen Absatzmarkt gibt. Es ist entscheidend, wie »Wirtschaftswachstum« entsteht, kreditfinanzierte Investitionen können es nur kurzfristig hochtreiben und durch den weiteren Ausbau der Produktionskapazitäten wird die Stärkung des Binnenkonsums noch schwieriger. Es wird irgendwann zu Stilllegungen der ungenutzten Kapazitäten kommen müssen, die dann Entlassungen nach sich ziehen.

Oder die wachsende Überproduktion muss exportiert werden. China hofft auf die anderen Schwellenländer als rettende Absatzmärkte – so wie die Welt auf China hofft. Chinesische Importe führen dort aber zu Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit, und das bei desolaten Sozialsystemen. Syrien z.B. hat Importzölle erlassen wegen Fabrikschließungen, zwei Drittel der kleinen und mittleren indischen Unternehmen leiden unter den chinesischen Importen.

Mit den wachsenden Überkapazitäten wächst der Protektionismus. Mitte September hat Obama die Schutzzölle für Reifen, die bei vier Prozent lagen, auf 35 Prozent erhöht und damit womöglich einen für deflationäre Krisen typischen Handelskrieg in Gang gesetzt. Die Zölle werden den Wert der chinesischen Exporte um eine Milliarde Dollar reduzieren.

Als es Aufregung in chinesischen Webforen gab, reagierte die chinesische Regierung harsch und drohte ihrerseits mit Zöllen auf US-Exporte von Autoteilen und Hühnerfleisch, die sich ebenfalls auf eine Milliarde Dollar belaufen .

Die Reaktionen waren weitreichend und von Nervosität geprägt. Der Kautschukpreis fiel nach der Entscheidung schlagartig, Thailand als weltgrößter Kautschukproduzent fürchtet katastrophale Einbrüche. Die Angst vor einem Handelskrieg führte sofort zum Absturz der Börse.

Drei Beispiele für Überkapazitäten

In der Zementindustrie waren die Kapazitäten letztes Jahr nur zu 70 Prozent ausgelastet, dennoch stiegen die Investitionen in der ersten Hälfte 2009 um zwei Drittel.

In der Solarindustrie gibt es mittlerweile weltweite Überkapaziäten, ein Drittel der Kapazitäten würde genügen, um die Nachfrage zu decken. Die Branche steckt in Preiskampf und Deflation. In China kann man etwa 30 Prozent billiger produzieren als in der BRD, wo fast alle Hersteller im Jahr 2009 in die roten Zahlen rutschten.

In der Stahlindustrie werden nach den Boomjahren in der Krise die weltweiten Überkapazitäten deutlich. Die EU hat Ende Juli Zölle auf Stahlrohr verhängt, eins der wichtigsten Stahlprodukte, und zwar zum ersten Mal aufgrund einer drohenden Benachteiligung, nicht einer bereits eingetretenen. Die europäische Stahlindustrie ist stark eingebrochen (um 43-57 Prozent bis Februar 2009) und sieht einen Grund dafür in der »aggressiven chinesischen Verkaufspolitik«. Der chinesische Stahlverband rechnete im März mit einem Rückgang der Stahlexporte um 80 Prozent für 2009. China trägt übermäßig zu den weltweiten Überkapazitäten bei, die chinesische Stahlproduktion ist im Jahr 2008 deutlich weniger zurückgegangen als im weltweiten Durchschnitt, und erreicht mittlerweile aufgrund des Konjunkturpakets neue Rekorde: Sie ist seit Oktober 2008 um 42 Prozent gestiegen! Die chinesische Regierung will auch aufgrund rapide sinkender Gewinne die Überkapazitäten reduzieren, schon länger sind Fusionen in der Diskussion, nur fünf große Stahlwerke sollen in zwei Jahren übrig bleiben. Aber schon früher waren ähnliche Vorhaben nur schwer gegen Fabrikbosse und Arbeiter durchzusetzen.

... neue und alte Arbeiterklasse

Die neue Arbeiterklasse ist in die Defensive geraten. Vor Krisenbeginn drehten sich die Kämpfe der WanderarbeiterInnen um bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn, seit den massiven Fabrikschließungen um ausstehende Löhne und Abfindungen. Daraus wurden bisher keine übergreifenden gemeinsamen Kämpfe oder welche mit anderen Schichten zusammen. Allerdings legte die Regierung aus Angst vor Aufständen ein massives Beschäftigungsprogramm auf und übernahm teilweise ausstehende Löhne und Abfindungen. Ein großer Teil der WanderarbeiterInnen hat sich nicht langfristig aufs Land zurückgezogen, sondern ist wieder auf der Suche nach Arbeit, v.a. in kleineren Städten oder auf dem Bau. Gleichzeitig werden etwa in Guangdong dringend WanderarbeiterInnen gesucht, allerdings zu niedrigeren Löhnen.

Im Juli und August stoppten die Arbeiter die Privatisierung von zwei Stahlwerken in den Provinzen Jilin und Henan. Im Tonghua-Werk in Jilin gab es schon länger Unzufriedenheit über ein angekündigtes Rationalisierungsprogramm. Bei Protesten gegen die Übernahme durch einen privaten Konzern, an denen bis zu 30 000 Arbeiter beteiligt waren, wurde der neue Manager getötet und 100 Menschen verletzt. Eine andere Fabrik in Henan blieb lange unverkauft und wurde schließlich zu 20 Prozent des Ausgangspreises verkauft. Die nachfolgenden fünftägigen Streiks und Riots bezogen sich mit Plakaten direkt auf die Proteste in Jilin. Auch hier wurde am Ende die Privatisierung gestoppt und die Arbeiter bekamen einen Lohnzuschuss. Der Kampf der Stahlarbeiter ist ein Echo aus den 90er Jahren, als es massiven Widerstand gegen die Umstrukturierungen der Staatsbetriebe gab. Die »alte Arbeiterklasse« wendet noch einmal die früher vom Staat propagierten Ideen von kollektivem Eigentum gegen die Regierung und macht die Rationalisierung in der Krise schwieriger.

Die Regierung kommt mit »Verschweigen« nicht mehr durch. Über die Proteste in Jilin wurde drei Tage nichts veröffentlicht, Hinweise darauf in Foren wurden schnell gelöscht. Die offiziellen Medien berichteten erst, nachdem die Informationsflut im Netz nicht mehr aufzuhalten war.

Im August veröffentlichte die Regierung Daten über die wachsende Kluft in der Einkommensverteilung, nach denen 0,4 Prozent der Bevölkerung 70 Prozent des Reichtums besitzen – und dass ein großer Teil der Reichen Kinder ranghoher Kader sind. Weil das einen Sturm der Entrüstung auslöste, wurden die Daten von der Regierung für ungültig erklärt.

USA: Immobilienkrise und Bond-Bubble

Nachdem in den USA die Privatverschuldung zusammengebrochen ist, hat der Staat die Verschuldung übernommen und sogar noch ausgeweitet: im laufenden Finanzjahr bis Ende September haben die USA einen Finanzierungsbedarf von 1580 Mrd. Dollar. Werden alle Schattenhaushalte einberechnet, liegt die Verschuldung bei ca. 350 Prozent des BIP. Ein guter Teil der Schulden wird über die Notenpresse finanziert, was das Vertrauen in den Dollar unterhöhlt. Die gesamtwirtschaftliche Nettoersparnis (Bruttoersparnis abzüglich Abschreibungen) ist auf minus 2,8 Prozent des Bruttonationaleinkommens2 gefallen. Es findet also keine Kapitalakkumulation statt, der Kapitalstock schmilzt sogar.

Viele Städte und Kommunen stehen vor dem Bankrott, das Rentensystem ist völlig marode (schon vor der Krise gab es Fehlbeträge von 87000 Dollar pro Teilnehmer). Staatliche Sozialleistungen werden weiter gekürzt, die Arbeitslosigkeit hat sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt, Anfang September lag die Arbeitslosenquote offiziell bei 9,7 Prozent in der breitesten offiziellen Abgrenzung sogar bei 16,8 Prozent. In Kalifornien liegt sie offiziell bei fast 12 Prozent, wenn man »Unterbeschäftigte« dazuzählt, sind es fast 18 Prozent. Aber auch wer Arbeit hat, wird ärmer, das Einkommen aus lohnabhängiger Beschäftigung ist auf das Niveau von Anfang 2001 gefallen (die Einkünfte aus Unternehmenstätigkeit sogar noch darunter). Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist im Vergleich zum Vorjahr um 3,4 Prozent gesunken. Die Konsumausgaben gehen zurück; selbst die Ausgaben für kurzlebige Konsumgüter gehen runter. Solche Artikel des täglichen Bedarfs waren in bisherigen Rezessionen stabil geblieben.

Unwahrscheinlich also, dass die US-Konsumenten langfristig viel Geld ausgeben. Es wird höchstens kurzfristige Aufschwünge geben, etwa durch Abwrackprämien oder bei steigenden Inflationserwartungen. Auch im zweiten Quartal 2009 gingen die Importe um 15,1 Prozent zurück.

Was kommt nach Chimerica?

Das Ungleichgewicht von US-Verschuldung und chinesischem Export abzuwickeln, würde eine Koordination der Anpassungsprozesse auf beiden Seiten voraussetzen: steigende Sparquote in den USA, sinkende Sparquote und wachsender Konsum in China. Die USA fangen mittels staatlicher Verschuldung zum Teil den Rückgang des privaten Konsums auf, aber die damit gewonnene Zeit wird für China nicht reichen, sich stärker auf den Binnenkonsum zu orientieren. Dafür müsste China zunächst eine steigende Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen – und hier sitzt der größte Knackpunkt! Je mehr aber China seine Produktionskapazitäten noch weiter ausbaut, und je weniger die Prozesse in beiden Ländern zusammenpassen, umso stärker wird der Rückgang der Weltwirtschaft ausfallen.

Nach wie vor fließt viel Geld nach China, im ersten Halbjahr 2009 aber nicht mehr von US-Konsumenten recycelte Dollars unter Kontrolle der Zentralbank, sondern Gelder von Privatanlegern, die auf steigende Aktien- und Immobilienpreise in China spekulierten. Dieses Geld kann sehr schnell wieder abfließen, wenn z.B. die chinesische Wirtschaft ihren vermeintlichen Wachstumskurs nicht aufrecht erhalten kann.

Andererseits legt auch China seine Reserven weiterhin in den USA an, u.a. am Immobilienmarkt. Dort steigen die privaten Immobilienkäufe in den letzten Monaten wieder, weil der Staat sie massiv bezuschusst. Der Markt hat sich nicht erholt, im Gegenteil ist die Zahl der Hypotheken, für die die Raten nicht gezahlt werden können, zur Jahresmitte auf Rekordhöhen gestiegen. Mit Auslaufen der staatlichen Kaufanreize Ende November und steigenden Hypothekenzinsen drohen neue Ausfälle. Bei den Gewerbeimmobilien steht der Absturz überhaupt erst bevor, und er wird auch die Banken mit ihren hypothekenbesicherten Papieren treffen. Dagegen will der staatliche chinesische Investmentfonds CIC direkt in diesen Markt einsteigen. Gewerbeimmobilien sind in der Krise billig geworden, somit könnte die Investition Gewinn bringen – vor allem aber soll sie neue Einbrüche verhindern. China kauft sich Zeit für die eigene Umstellung – und hilft beim Aufpumpen der Blasen in den USA (»ganz nebenbei« werden dabei natürlich auch strategische Positionen aufgebaut!).

Noch immer ist die Außenpolitik der USA auf den Erhalt der globalen Währungsordnung ausgerichtet, aber die Bedingungen haben sich drastisch verändert. Noch vor ein paar Jahren war die Drohung eines Ölstaats, in Euro statt in Dollar zu handeln, ein Kriegsgrund. Heute müssten die USA die halbe Welt mit Krieg überziehen: Russland und China wollen den Handel mit Südamerika ohne den Dollar abwickeln, die Mercosur-Länder untereinander ebenfalls. Das ALBA-Bündnis (Venezuela, Kuba, Bolivien, Nicaragua, Honduras, Ecuador, Antigua, Barbuda, St. Vincent und die Grendaden) plant sogar eine eigene Gemeinschaftswährung. Auch Diskussionen um eine arabische Währung tauchen wieder auf.

Ein Wertverlust des Dollar ist momentan durchaus im Sinne der USA: der Export läuft dann besser, die eigenen Schulden werden abgewertet – aber der Status als Leitwährung muss auf jeden Fall verteidigt werden, was angesichts der Krise und der militärischen Schwierigkeiten der USA immer problematischer wird. Bisher war es ein Vorteil der USA, dass es bei geostrategischen Krisen zu einer Flucht in den Dollar als sicherer Anlage kam. Die starke US-Verschuldung im Ausland könnte zu einer gegenteiligen Reaktion führen, dann würde eine außenpolitische mit einer Finanzkrise zusammenkommen. Große Kreditgeber könnten ihre eigenen Interessen durchsetzen mit der Drohung, eine große Menge Staatsanleihen zu verkaufen. Wenn klar wird, dass die USA eine starke Abwertung des Dollar nicht mehr verhindern wollen oder können, kann es zu einer Dollarflucht kommen. Um das zu verhindern, müssten die Zinsen hochgesetzt und die Staatsausgaben gekürzt werden. Beides hätte verheerende Folgen für die absackende US-Wirtschaft. Noch gefährlicher wäre eine gleichzeitige Krise der US-amerikanischen Staatsanleihen (bond bubble). Dann wäre ein Crash unvermeidlich.

Fußnoten:

[1] Siehe auch den Artikel in Wildcat 84: Chimerica

[2] Bruttonationaleinkommen: alle von Inländern erwirtschafteten Einkommen (egal, ob im Inland oder Ausland erzielt); Bruttoinlandsprodukt: alle im Inland erwirtschafteten Einkommen (egal, ob von Inländern oder von Ausländern erzielt).



aus: Wildcat 85, Herbst 2009



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