Wildcat Nr. 86, Frühjahr 2010 [can anyone say communism?]



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can anyone say communism?


Krise und Kritik.

Die politische Praxis dieser Verknüpfung ist der Kommunismus. Krise ist nicht Krankheit im Unterschied zu einem vorgeblich normalen Verlauf, sondern die rasche Veränderung im Krankheitsverlauf – so wie der Begriff früher in der Medizin gebraucht wurde. Sie fällt nicht immer mit einer Gelegenheit zusammen, sondern ist der Moment der Gefahr. Aber es geht nicht darum, aus dem Tunnel heraus zu kommen und weiter auf den gewohnten Gleisen zu fahren, sondern darum, den Ablauf zu unterbrechen und einen anderen Weg einzuschlagen.

Der Hochmut der Sieger.

Die Niederlage der Arbeiterkämpfe in den letzten 40 Jahren und der Ausgang des Kalten Kriegs hat die Sieger mit Hochmut erfüllt. Durch die Gleichsetzung der Moderne mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten kann sich die westliche Zivilisation als Vollendung der Geschichte ausgeben. Zum vorgeblich unbedingten Charakter ihrer politischen Werte passt einzig die Mission, der Export von Demokratie und Menschenrechten, Politik zur Durchsetzung ihrer Geschichtsauffassung. Noch immer erschrocken vom Gespenst des Kommunismus, zerstören die »Sieger« nun die Errungenschaften der Arbeiterbewegung und den Rechtsstaat selbst, der ihnen im Kampf gegen den »Totalitarismus« doch so am Herz gelegen hatte. Dabei breitet sich ihre Angst auf die ganze Gesellschaft aus und schafft eine Wahnwelt, die auf dem Begriffspaar Gefahr / Sicherheit aufbaut (Vogel-, Schweinegrippe, Tief Daisy, Nacktscanner, Vorratsdatenspeicherung, Frontex…).

Aber wenn die Hochmütigen den Rechtsstaat zerstören und den Sozialstaatsgedanken angreifen, dann ist es nicht Aufgabe der Kommunisten, diese zu verteidigen. Stattdessen müssen wir ihnen die reale Macht entgegenstellen, die sie gezwungen hat und zwingt, erschrocken gegen ihre eigenen Institutionen vorzugehen. Diese Macht hat eine Tradition und einen Namen.

Kann man Klassenkampf sagen?

Die europäischen Sozialdemokratien sind am Ende. Sie haben nur die bereits von der Arbeiterklasse eroberten kollektiven Rechte verwaltet und jetzt, da diese Rechte angegriffen werden, ist auch ihre administrative Rolle zuende. Um den autoritären Niedergang zu verhindern, hätten sie den Klassenkampf ermutigen müssen. Stattdessen haben sie eine unwahrscheinliche soziale Versöhnung propagiert. Wer den Klassenkampf ins blutige vergangene Jahrhundert verbannen will, braucht sich über die autoritäre Rückbildung des Rechtsstaats nicht zu wundern.



1. Was zur Hoelle ist Wasser?

What the hell ist water? Zwei jungen Fischen kommt ein älterer Fisch entgegen geschwommen. Er macht ihnen ein Grußzeichen und sagt: »Guten Tag, Jungs, wie ist das Wasser?« Die beiden schwimmen ein Stück weiter, dann wendet sich der eine junge Fisch fragend an den anderen: »Was zum Teufel ist Wasser?« 
Uns interessiert weniger, wer der alte Fisch war, sondern seine Frage! Die Naturalisierung der kapitalistischen Produktionsweise macht die Gegenwart zu einem ahistorischen Truggebilde, somit wird die Frage nach wirklicher politischer Veränderung - nach dem Kommunismus - undenkbar. Um revolutionäre Politik neu zu begründen, brauchen wir eine andere Auffassung von Geschichte; wir müssen sie als politische Kategorie begreifen.

Es gibt eine kommunistische Geschichte, die nicht ins Archiv gehört; mehrere Generationen haben immer wieder versucht, den Kurs der kapitalistischen Moderne zu unterbrechen, um eine andere Geschichte beginnen zu lassen. Diese Möglichkeit müssen wir offen halten, indem wir die Vergangenheit als unvollendet verstehen, vom Spartakusaufstand bis zu den Bauern von Müntzer. In der kapitalistischen Konfiguration nennt sich dieser Kampf Kommunismus und ist mit dem Namen »Marx« verbunden. Und weil seine Probleme leider noch immer auch die unseren sind, müssen wir das Uneingelöste dieser Anfänge immer mitdenken.

2. Den Kommunismus bestimmen.

Der Stalinismus hat auch noch die brutalsten Schandtaten der kapitalistischen Akkumulation als Etappen beim Aufbau des Sozialismus gerechtfertigt. Die Sozialdemokratie machte aus Marxens Diktum in der Deutschen Ideologie vom Kommunismus als »wirklicher Bewegung, die den jetzigen Zustand aufhebt« die Variante von Bernstein: »Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles«. Der Kommunismus als Ideal, als Ziel, das man anstrebt, das aber nicht zu verwirklichen ist.

Stalinisten und Sozialdemokraten hatten dieselbe Geschichtsphilosophie vom Fortschritt und der Entwicklung der Produktivkräfte. Dieses Verständnis, das auch die faschistischen Technokratien teilten, lebt fort in der eurozentristischen Geschichtsauffassung, die neun Zehntel der Welt als Überreste betrachtet. Auch das postmoderne Weltbild ist ein lupenreines Produkt der Moderne. Sein Nebeneinanderstellen von historischen Zeiten, von Formen bäuerlicher Sklaverei neben high tech Produktionen, erklärt nichts, sondern verschleiert und unterschlägt, dass sie vom Weltmarkt gewaltsam synchronisiert werden.

Das postmoderne Nebeneinanderstellen einer Vielfalt von in-differenten Zeiten lässt nur eine mögliche Differenz gelten: die zwischen »Moderne« und »Postmoderne«. Aber diese Verräumlichung der Zeit ist nur das Umkehrbild der härtesten Verzeitlichung des Raums. Die Postmoderne setzt die verschiedenen Zeiten in der Gleichzeitigkeit räumlich nebeneinander und reproduziert nur die Erscheinung, während die Moderne aus der eigenen Zeitlichkeit heraus die Zeiten hierarchisiert und in Konflikt zueinander stellt.

3. Zeitschichten.

Die Begegnung von Marx mit den russischen Volksfreunden und seine letzten anthropologischen Studien bringen ein Problem zum Vorschein. Die vier Entwürfe des berühmten Briefs an Wera Sassulitsch stellen zwei für das Verständnis des Weltmarkts und eine ihm ebenbürtige Politik wesentliche Fragen. Wer diese Fragen ignoriert, stellt sich in die Tradition des offiziellen Marximus, der jene Briefe als handgreifliches Zeichen »des Niedergangs von Marxens scholastischer Fähigkeit« sah.1

Die kapitalistische Produktionsweise integriert verschiedene Produktionsformen, aber ohne den Begriff des Werts bleibt dieser ganze Zusammenhang unverständlich. Die gewaltsame Integration in den Weltmarkt wirbelt bestehende soziale Verhältnisse und historische Formationen durcheinander, die aber nicht als Stadien auf einem historischen Fortschrittsbalken verstanden werden können, sondern als übereinandergelagerte Zeit-Schichten: »ebenso wie in den geologischen Formationen gibt es auch in den historischen Formationen eine ganze Reihe von primären, sekundären, tertiären etc. Typen.«2 Wenn man die historischen Formen nicht entlang eines Zeitstrahls von der Vergangenheit zur Gegenwart anordnet, sondern wie »geologische Formationen«, in denen das schon Gewesene neben dem Jetzt existiert, wird die gemeinsame Anwesenheit von Zeitlichkeiten auf einer Oberfläche denkbar. Hat man einmal die Perspektive des historischen Flatlands verlassen, werden verschiedene pathways sichtbar. Und zwar nicht, weil die unterschiedlichen historischen Zeitlichkeiten voneinander unabhängig sind, sondern im Gegenteil, weil sie zwangsweise synchronisiert werden und sich dieser Synchronisierung widersetzen.

Die von Marx geschätzten russischen »Volksfreunde« wie Tschernischewski verspürten keine romantische Nostalgie für die alten Formen der bäuerlichen Gemeinschaft. Sie suchten nach der Möglichkeit von historischen Sprüngen: Russland muss nicht erst die Phase der »Auflösung der Gemeinde der russischen Bauern« durchlaufen, wenn sich die unterschiedlichen Situationen, die nebeneinander liegenden »geologischen Formationen« befruchten.

4. Zeitspruenge und Anachronismen.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchte Ernst Bloch mit dem Bild des Multiversums über kapitalistische Ungleichzeitigkeiten nachzudenken, die vom Marxismus als historische Überbleibsel behandelt und zum Treibstoff des Nationalsozialismus wurden. Bereits der späte Marx hatte damit begonnen, sich die historische Zeit neu zu erarbeiten, als Antwort auf das Scheitern sowohl der Pariser Commune wie des Revolutionsmodells des 19. Jahrhunderts vom Aufsetzen der proletarischen Revolution auf den Fortschritt durch die bürgerliche Revolution. In seinen Anmerkungen über die Urgemeinschaften liegt keinerlei Nostalgie oder Romantizismus. Eine Rückkehr zur altertümlichen Gemeinschaft ist weder möglich noch erstrebenswert. Dort war der Gemeinbesitz an Land mit einer rigiden Arbeitsteilung verbunden. In einer »höhern ökonomischen Gesellschaftsformation« geht laut Marx das Eigentum nicht in die Hand der ganzen Gesellschaft oder gar des Staates über, nicht einmal in die Hände aller gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen! Diese sind nicht Eigentümer, sondern nur Besitzer der Erde. Die Menschen als ihre »Nutznießer haben sie … den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«3

Das verbesserte Hinterlassen ist nur möglich, weil der Kommunismus am aktuellen Stand vergegenständlichter Arbeit ansetzt, sowohl in Bezug auf ihre produktiven wie in Bezug auf ihre destruktiven Potenzen. Der Kommunismus ist der kapitalistischen Produktionsweise in jedem Punkt entgegengesetzt.

5. Sittlichkeit.

»Wenn die kommunistischen Handwerker sich vereinen, so gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc. als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich dadurch ein neues Bedürfnis, das Bedürfnis der Gesellschaft an, und was als Mittel erscheint, ist zum Zweck geworden. Diese praktische Bewegung kann man in ihren glänzendsten Resultaten anschauen, wenn man sozialistische französische ouvriers vereinigt sieht. Rauchen, Trinken, Essen etc. sind nicht mehr da als Mittel der Verbindung oder als verbindende Mittel. Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit der Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen…«4 Das Mittel als Zweck. Die kommunistische Ethik des Gemeinsamen verbindet sich mit einer Anti-Teleologie der Geschichte. Der Verein, die gemeinsame Praxis der kämpfenden Arbeiter, ist kommunistische Vorwegnahme. Die in dieser Praxis enthaltenen Beziehungen werden ihrem Wesen nach bereits als das zu erreichende Ziel begriffen. Der Stalinismus war das Gegenteil kommunistischer Sittlichkeit. Der Personenkult, der noch immer in der Begeisterung für starke Führer fortlebt, rechtfertigt die heute begangenen Abscheulichkeiten mit der zukünftigen Herstellung des Reichs der Freiheit. Eine politische Organisation, die einem Einzelnen eine Führungsposition zuerkennt und politische Aktionen durchführt, die lediglich ihren Bekanntheitsgrad steigern sollen, vertagt den »Kommunismus« in eine nicht zu erreichende Zukunft. Was unterscheidet einen Führer, der beschließt, welcher Militante im Zuge einer politischen Aktion geopfert werden kann, vom faschistischen Parteifunktionär oder vom Vorarbeiter, der entscheidet, welche Arbeiter einen mit Giftgas verseuchten Tank zu reinigen haben?

Revolutionäre Praxis kann nicht mit einem äußerlichen Kriterium beurteilt werden, weder dem einer noch zu verwirklichenden Zukunft noch dem einer zu zerstörenden Welt. Es muss der Praxis selbst innewohnen, so wie »die glänzenden Resultate der sozialistischen französischen ouvriers«, von denen Marx spricht. Das Glück ist keine »Beute, die an den Sieger fällt«, sondern bereits »im Klassenkampf zugegen«.5 Diese kommunistische Vorwegnahme stellt das Bestehende in Frage: die Herrschaft der Sieger und einen jeden ihrer gegenwärtigen oder vergangenen Siege. Diese Vorwegnahme fassen wir in Anlehnung an Hegel6 als Kommunistische Sittlichkeit.

6. Der Buergerkrieg als Regel.

»Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.«7

Hier wird ein wichtiger Perspektivwechsel vollzogen. Der Kampf um den Arbeitstag wird zunächst vom Standpunkt des Rechts aus betrachtet: Gleiche Rechtssubjekte, die sich in einem symmetrischen Verhältnis zueinander befinden, kaufen und verkaufen die Ware Arbeitskraft. Jeder bemüht sich, seine Ware so teuer wie möglich zu verkaufen und so billig wie möglich zu kaufen. Die Gesetze des Marktes werden respektiert und es kommt zu keinerlei Ungerechtigkeit. Weil die Ungerechtigkeit vom Recht verdeckt wird. Eben darin besteht seine Funktion. Steigt man aber hinab in die Stätten der Produktion, dann »verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.«8 Die Prosa des Kapitals ändert sich: Die Neutralität des Rechts weicht der »Neutralität« der Reports der Fabrikinspektoren. Marx reiht Zitate aus den Reports aneinander und ergänzt sie um Kommentare, die der Gruselkammer des Kapitals entstammen: Überall hausen Vampire und Werwölfe. Der Abstieg in die Stätten der Produktion zeigt, dass es im Klassenkampf nicht einfach um etwas mehr Geld geht, sondern um einen Kampf auf Leben und Tod – bei dem es aber nicht nur um das physische Überleben geht, sondern um ein wirkliches Leben.

Die Produktionsverhältnisse zeigen sich als das, was sie sind – als asymmetrische Verhältnisse. Verkauft ein Subjekt seine Arbeitskraft, dann hat es damit sein eigenes Leben verkauft, das Gebrauchsrecht über den eigenen Körper und Geist. Die Asymmetrie tritt als die Wahrheit des vom Recht verdeckten Verhältnisses hervor. Das Rechtswesen zeigt sich als das, was es in Wirklichkeit ist: als Bürgerkrieg. Nur, dass man die »Geschichte der kapitalistischen Produktion« nicht dadurch überwindet, dass man diesen Bürgerkrieg gewinnt. Denn es gibt keinen »gerechten Lohn«; als gerecht kann nur die Zerschlagung des Lohnverhältnisses, also des beständig zwischen den Klassen ausgetragenen »Bürgerkriegs« gelten. Der Proletarier ist nicht einfach der Ausgeschlossene, der verlangt, in eine neue Ordnung miteinbezogen zu werden, sondern er ist derjenige, der, weil er kein Proletarier sein will, die Ordnung zerstören muss, die aus Menschen Proletarier macht.

7. Staat, Recht, Klasse

Nichts hat die (deutsche) Arbeiterklasse mehr korrumpiert als die Vorstellung, mit dem Strom schwimmen zu können, d. h. mit dem Fortschritt. Walter Benjamin hat diesen Gedanken zum Zeitpunkt einer entsetzlichen Gefahr artikuliert: zu dem Zeitpunkt nämlich, als der Nationalsozialismus, die Sozialdemokratie und der Stalinismus konzertiert auf die Liquidierung des Klassenkampfes für den Kommunismus hinarbeiteten. Tatsächlich ist die Idee des Fortschritts der des Kommunismus unmittelbar entgegengesetzt: Sie erzeugt vor allem die falsche Vorstellung, aus den Kämpfen für die Anerkennung bestimmter Rechte, also aus der »natürlichen Entwicklung« der Zivilisation des Rechts könnten bessere Arbeitsbedingungen, garantierte soziale Rechte und kollektive Arbeitsverträge hervorgehen, die Vorstellung also, die kapitalistische Produktionweise lasse sich zwar nicht endgültig überwinden, aber doch schrittweise zähmen und zivilisieren. Aber nur wenn die Klasse als Kollektivsubjekt mit einem ihr eigenen Recht auf Gewaltanwendung auftritt,9 können soziale und kollektive Rechte dem Normalzustand der kapitalistischen Produktionsweise entgegengesetzt werden, also der Atomisierung, die mit individuellen Rechten und Verhandlungen einhergeht.

Die Arbeiterklasse ist das einzige Subjekt, dem es mit dem Streikrecht gelungen ist, sich ein Recht auf Gewaltanwendung parallel zum Staat und gegen ihn zu erkämpfen. In diesem Szenario ist der Staat nicht der geschäftsführende Ausschuss einer Klasse, sondern ein Bekämpfer des Klassenkampfs. Er kann sich durchaus auch genötigt sehen, die Interessen des Proletariats oder eines Teils der Bourgeoisie gegen andere Interessen zu verteidigen. Da sich der moderne Staat aber nur zu atomisierten Rechtssubjekten verhält, geht er gegen jede Form kollektiver Rechte vor und eignet sich, sobald er kann, das Recht auf Gewalt wieder an, das ihm die Arbeiterklasse entrissen und entgegengesetzt hatte. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Staunen über die autoritäre Implosion des Rechtsstaates mit dem Staunen des Fischs vergleichen, der, nach der Wassertemperatur befragt, zur Antwort gibt: »What the hell is water?« Eben: Die Hölle. Die Verrechtlichung, die in den Kämpfen um Anerkennung der verschiedensten Ansprüche angestrebt wird, begleitet und produziert die Entpolitisierung des Sozialen, und damit auch die Herrschaft einer Gewalt, der »demokratisch« nicht widerstanden werden kann.

8. Maschinen und Wissen.

»Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist […].«10 So schafft die kapitalistische Produktionsweise die Grundlagen für das gesellschaftliche Individuum, eine neue Gesellschaftsformation und eine neue Anthropologie.

Im Maschinenfragment versucht Marx, ein Wörterbuch für den Kommunismus zu erarbeiten. Das »gesellschaftliche Individuum« und das »gesellschaftliche Hirn« sind Produkte dieser Produktionsweise, weisen aber zugleich über sie hinaus. Mit dem Ausdruck »gesellschaftliches Hirn« verweist Marx auf die Potenzialität des Gattungswissens, das Hirn ist nicht mehr nur der Inhalt eines einzelnen Schädels. Die aktuelle Krise der Wissenszweige und des gesamten Bildungssystems ist ein Symptom dieses Prozesses, durch den das Wissen zunehmend gesellschaftlichen Charakter annimmt. In der Seefahrt sind heute andere Kenntnisse erforderlich als jene, über die ein Segler einst verfügen musste. Viel davon ist in elektronischen Geräten und nautischen Unterlagen objektiviert; niemand könnte das eigenständig leisten. Obwohl viele auf die »ganze Technik« schimpfen und »einfacher leben« wollen, würde niemand ernsthaft das heutige kollektive Wissen gegen das eines antiken Steuermanns eintauschen wollen. Die Objektivierung des Wissens erreicht inzwischen den Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Einzelne erscheint in den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen womöglich unwissender als ein Hochschulabsolvent aus dem letzten Jahrhundert. Wenn man aber nicht nur auf Individuen und individuelle Hirne blickt, sieht die Sache ganz anders aus. Vom Standpunkt der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit aus betrachtet ist das Wissen nicht verkümmert, sondern es hat sich ausgeweitet. Was romantisierend als Kulturverlust beklagt wird, ist in Wirklichkeit ein Schritt zur Produktion kulturell individualisierter Subjektivität im globalen gesellschaftlichen Wissen. Von diesem in Form von Informationen objektivierten Wissen ist mehr erhältlich, und es steht mehr Menschen zur Verfügung, als noch vor zwanzig Jahren. Kulturell steht heute ein Jugendlicher aus Singapur, Mailand oder Taiwan einem aus Tokio, New York oder Paris näher, als vor fünfzig Jahren ein Einwohner Schwabings einem Gleichaltrigen aus Mecklenburg. Aber dieses objektivierte Wissen muss neu angeeignet werden, sonst bleibt es Ausdruck kapitalistischer Herrschaft und bringt nicht gesellschaftlichen Reichtum, sondern Elend hervor. Die Analyse der neuen Formen der Produktion und des Wissens muss also gleichzeitig Wissenschaftskritik sein.

Jedes ernsthafte Nachdenken über Alternativen zum Kapitalismus muss die globale Ebene in die Perspektive nehmen, ja muss von ihr ausgehen! Nationalistische oder regionalistische Abkopplungen wie Keynesianismus und Freigeld sind faktisch unmöglich. Keynesianismus war historisch die Hochphase technokratischer Entwicklungspolitik von oben, eine bewusste Strategie zur Zerstörung von Basisinitiativen, die erst von den Aufständen und Klassenkämpfen in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts gestoppt wurde.11 Freigeldtheorien haben eine Affinität zu antisemitischen »Krisenerklärungen«.

9. Weltmarkt / globale Arbeiterklasse.

Die Musik spielt heute global! Im Kriseneinbruch Anfang der 90er Jahre hat KH Roth das mit seinen Proletaritätsthesen herausgearbeitet: es findet eine globale Nivellierung statt bei gleichzeitiger Verschärfung der Klassengegensätze und der sozialen Ungleichheit.12 Das ist heute offensichtlich geworden und springt in die Augen. Zum ersten mal geht die Hauptstoßkraft der Klassenkämpfe nicht mehr Richtung Entwicklung, die KPs haben ausgedient.13 Zum ersten mal ist eine globale Arbeiterklasse in der Lage, den kapitalistischen Fortschritt zu kritisieren und damit wirklich den Kommunismus – und nicht den »Aufbau des Sozialismus« – auf die Tagesordnung zu setzen. Und zum erstenmal ist eine globale Arbeiterklasse gleichzeitig von einer kapitalistischen Weltwirtschaftskrise betroffen.14

10. Kommunismus.

Nur die aus dem Kapitalverhältnis heraustretende Arbeiterklasse kann die aktuellen Probleme der Menschheit lösen. Nur von der globalen produktiven Kooperation ausgehend können die Probleme von Technikkritik, Hunger, Umweltzerstörung usw. angegangen werden. Die Aneignung der ungeheuren Masse an vergegenständlichter Arbeit und das Umdrehen der produktiven Kooperation zeigen den Weg. Hier ist Benjamin gegen die üblich gewordene Verflachung seiner Geschichtsthesen in Schutz zu nehmen; er sah nicht nur in der Klasse das einzig mögliche »Subjekt historischer Erkenntnis«, sondern er rückte auch mit Marx die Grundverbohrtheit der Sozialdemokratie zurecht, die bereits im Gothaer Programm die Arbeit als »Quelle alles Reichtums und aller Kultur« vergöttert hatte.15 Kommunismus ist Abschaffung der Arbeit. Aus Akkumulation um ihrer selbst willen und (Zwang zur) Arbeit wird freie Tätigkeit. ■

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Fußnoten:

[1] Vgl. H. Wasa, Marx and revolutionary Russia, in: T. Shanin (Hg.), Late Marx and the Russian Road. Marx and »the peripheries of capitalism«, New York, Monthly Review Press, 1983, Seite 42.

[2] Marx an Wera Sassulitsch, in MEW 19, S. 386ff.

[3] K. Marx, Das Kapital, Band III, MEW 25, S. 784.

[4] K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW 40, S. 553-4.

[5] W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Schriften, Frankfurt am Main 1982, Bd. I/2, S. 694.

[6] G.W.F. Hegel: »Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit…« in Grundlinien der Philosophie des Rechts § 142; zur Kritik an Kants Begriff von Sittlichkeit vgl. auch § 135.

[7] Marx, Das Kapital, Bd. 1, 23, S. 249.

[8] Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 191.

[9] M. Tomba, Another kind of Gewalt: Beyond Law. Re-Reading Walter Benjamin, in: Historical Materialism 17 (2009), S. 126–144.

[10] K. Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 244.

[11] Vgl. Gabriel Kolko: Main Currents of American History, 1984

[12] Karl Heinz Roth, Die Wiederkehr der Proletarität, Köln 1994

[13] Vgl. Loren Goldner, Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft. In Wildcat-Zirkular Nr. 46/47

[14] Vgl. Wildcat 82, August 2008: Was nach der Bauern-Internationalen kommt

[15] Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O.



aus: Wildcat 86, Frühjahr 2010



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