Wildcat Nr. 87, Sommer 2010 [indien-update]



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Die Strategie der Strohhalme. Proletarische Unruhe im Industriegürtel von Delhi.

Der Film zur »Indien-Beilage« in Wildcat 82: Gurgaon, Indien: Neue Stadt, neues Glück, neue Kämpfe?

FilmemacherInnen von KanalB sind in das Industriegebiet Gurgaon gefahren Ein junges Mädchen sitzt stolz vor ihrer Hütte und erzählt, wie sie es schafft, mit ihrer Arbeit in der Fabrik Haupternährerin der Familie zu sein. Frauen und Kinder sitzen im Schlamm eines Hinterhofes und sortieren gestanzte Metallwinkel. Sie sind das letzte Glied in einer Kette, die für einen Sub-Sub-Unternehmer den Weltmarkt mit Autoteilen versorgt. Ein Aktivist verteilt vor einer großen Fabrik eine Arbeiterzeitung. Entlassene Leiharbeiter treffen sich seit Jahren jeden Sonntag im Park, um sich auszutauschen und zu beraten. Mit Gewerkschaftern haben sie schlechte Erfahrungen gemacht, nun suchen sie nach neuen Wegen. Sie beschließen eine Aktion, um ihre Wiedereinstellung zu erreichen. Ein ruhiger Film, der die Leute und das, was sie zu erzählen haben, konsequent in den Mittelpunkt stellt.

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Indien-update

In Folge des staatlichen Konjunkturprogramms seit Ende 2008 (drastische Zinssenkungen für Immobilienkredite, Reduzierung von Exportzöllen, Bail-outs für das verschuldete Mittelbauerntum und massive Konsumanreize für die Autoindustrie) ist die Inflation bis April auf über zehn Prozent gestiegen, Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und anderen proletarischen Konsumgütern lagen im Verlauf des letzten Jahres sogar bei 30 bis 40 Prozent. Ebenfalls im April wurde der staatlich festgelegte Benzinpreis erhöht. Transportpreise innerhalb Gurgaons und umliegenden Industriegebieten haben sich im letzten halben Jahr verdoppelt. Das Konjunkturprogramm konnte bisher den Absatz der Autoindustrie stützen. Nun laufen die Konjunkturprogramme aus, ihre inflationären Folgen aber werden sich nicht auf den proletarischen Konsum beschränken.
Trotz aller Versprechen, das Haushaltsdefizit von 6,7 Prozent zu senken, sieht der Staatshaushalt 2011 sogar 15 Prozent mehr Ausgaben vor. Die akkumulierten Staatsschulden betragen zur Zeit rund 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – ähnlich wie in der brd. Eine Finanzspritze hat den Binnenmarkt vor dem Einknicken bewahrt, aber die ausländischen Direktinvestitionen sanken um fünf Prozent, der Export um 4,7 Prozent und das Handelsbilanzdefizit stieg auf zehn Prozent.

Von November 2008 bis Januar 2009 gab es größere Entlassungen in Gurgaon, Faridabad, danach stabilisierte sich die Situation, es werden sogar neue Industriegebiete erschlossen. Mit den Preissteigerungen wächst der Druck von unten. Der Bundesstaat Delhi (ncr) reagierte im Frühjahr 2010 mit der Anhebung des Mindestlohns um 40 Prozent; der Lohn für Industriehelfer liegt jetzt bei 5200 Rs. Da der Mindestlohn auf »Landesebene« festgelegt wird und der Industriegürtel um Delhi sich auf drei Bundesstaaten verteilt, ist dort ein kurzfristiger gesetzlicher Lohnunterschied von 1000 Rs entstanden. Natürlich wird die Regierung in Haryana (Gurgaon, Faridabad) bald nachziehen müssen. Vor zwei Jahren folgte der offiziellen Erhöhung des Mindestlohns eine Welle von spontanen Streiks zu seiner tatsächlichen Durchsetzung auf Betriebsebene. Im April 2010 kündigen sich ähnliche Konflikte an, weil manche Unternehmen den neuen Lohn nicht zahlen oder Arbeiter in der Lohngruppe herunterstufen, Unternehmensbusse streichen, etc. Bisher gab es einige kurze Streiks in Textilfabriken und bei Autozulieferern; die Stimmung ist gespannt.
Der Streik bzw. die Aussperrung beim Auto-zulieferer Rico im Herbst 2009 war v.a. in seiner internationalen Dimension wichtig: die Belieferung von Ford- und GM-Werken in den USA und Kanada mit Rico-Teilen wurde unterbrochen, in vier Werken kamen die Bänder zum Stillstand, während die Gewerkschaft UAW gegen den Willen der Belegschaft ein Lohnverzichtsabkommen unterzeichnet hatte. Gleichzeitig strahlte dieser Streik auch innerhalb von Delhi aus, junge studentische AktivistInnen fühlten sich vom »Generalstreik« in den ihnen unbekannten Industrievororten angezogen.

Das städtische linke Uni-Milieu steht unter verschärftem Druck: einerseits durch Privatisierungen, neue Examens-Modelle und mangelnde akademische Zukunftsaussichten, andererseits wird es im Rahmen der staatlichen Aufstandsbekämpfung gegen die maoistischen Bewegungen und ihre »städtischen Sympathisanten« eingekreist. Die Repression hat nach der Attacke am 6. April, als die Guerilla 75 Hilfspolizisten tötete – es sei erwähnt, dass diese einen Monatslohn von rund 2500 Rs beziehen, also die Hälfte des Mindestlohns für Industriehelfer in Delhi – nochmal deutlich zugenommen. So gab es z.B. Verhaftungen auf dem Campus auf Grundlage von »Terrorismusverdacht«.
Dominiert wird die Diskussion über die maoistischen Bewegungen auf dem Land von einer Position, die die operation greenhunt (staatliche Mobilmachung von 100 000 bewaffneten Kräften) als Teil der »ursprünglichen Akkumulation« im Auftrag der großen Minen- und Stahlkonzerne betrachtet.
Die letzten Bullenangriffe am 12. und 14. Mai 2010 auf die Widerstandsbewegungen gegen den Bau von Tata (Kalinganagar) und Posco (Jagatsinghpur) Stahlwerken verliefen blutig, es gab Tote und Verletzte. Die (indigene) Adivasi Bevölkerung im »Roten Korridor« oder tribal-belt (West-Bengalen, Chattisgharh, Orissa, Madhya Pradesh) hat sich schon lange gegen Versuche gewehrt, ihre dörfliche Land- und Waldnutzung zu enteignen. Die maoistische Guerilla fungiert laut dieser Position als Teil und Weiterentwicklung der bisherigen Widerstandskämpfe. In ihrem Bezug auf die »lokalen communities« erinnert das ein wenig an die »Zapatisten«-Romantik. Die wohl prominenteste Figur dieser Position ist die Journalistin Arundhati Roy. Innerhalb dieses Lagers der »ursprünglichen Akkumulation« gibt es einen kleineren Flügel, der den »militärischen« Kampf der Maoisten kritisiert und sich auf die »populären« Kampfformen der Adivasi bezieht (Straßenblockaden, Nicht-Kooperation mit den in ihren Gebieten stationierten Polizeikräften). Ein noch minoritärerer Flügel versucht sowohl, die »Klassenzusammensetzung« der Adivasi-Gebiete zu verstehen, als auch zu analysieren, welche »Verallgemeinerungslinien« auf Klassenebene entstehen können, jenseits der klassischen »Organisationssolidarität«.1 Die Adivasi-Gebiete sind weitestgehend in den (Tropenholz-, Tabak, Lohnarbeits-) Markt eingebunden. Die »Kollektivwirtschaft« wurde weitestgehend durch individuellen und hierarchisierten Landbesitz abgelöst. Die »Dorfgemeinschaften« könnten eine komplette maoistische Einkreisung auf Grund ihrer Abhängigkeit vom Außenhandel gar nicht überstehen. Die Maoisten selbst stellen mittlerweile nur in seltenen Fällen die »Landfrage«, die meisten ihrer bewaffneten Sozialaktionen unterstützen Lohnforderungen, üben Rache an Vertretern der mafiösen Holzindustrie oder setzen staatliche Sozialprogramme durch. Der soziale Inhalt der bewaffneten Bewegung tritt bei der militärischer Eskalation zunehmend in den Hintergrund.

Aber wie kann sich der »städtische« Klassenkampf auf die tieferliegende Unruhe in den Aufstandsgebieten beziehen? Und umgekehrt, welchen weitergehenden Zusammenhang gibt es zwischen der »Strategie der Spannung auf dem Land« und der urbanen Unruhe in Zeiten der allgemeinen niedrigentlohnten Überhitzung?

Um die Klassenlinien zwischen Stadt und Land freilegen zu können, müssen wir die moderne Arbeitskraft neu begreifen ohne die alte Setzkastenlogik von formell/informell, städtisch/ländlich. Dazu ein paar Thesen zur Untersuchung:

Die regionale Klassenzusammensetzung in Gurgaon (Auto-, Textil-, Call Center-ArbeiterInnen) ist in den Weltmarkt integriert. Globale Währungsschwankungen oder Absatzkrisen in den usa haben sofortige Auswirkungen. Während des Crashs im Oktober 2008 waren verschiedene Schichten von ArbeiterInnen betroffen, die aus ihrer Sicht ›wenig gemein‹ haben. Es gab Entlassungen und Lohnkürzungen in der IT-Branche, in den Metall-Betrieben, in den Sweat Shops der Textilindustrie. Ein explosives Zusammenkommen von englischsprachigen Telefonagents und in 16-Stunden-Schichten arbeitenden Fabrikarbeitern schien möglich zu werden.

• Die lokale Kooperation ist Teil der globalen Arbeitsteilung. Maruti Suzuki in Gurgaon ist die drittgrößte Autofabrik weltweit, die Montagebänder der Endfertigung sind verbunden mit der Slum-Klitschenökonomie der Umgebung. Größere Zulieferbetriebe wie Delphi oder Bosch fertigen in Gurgaon für die internationale Autoindustrie. Software-Büros und Call Center kooperieren mit Zweigstellen in Übersee. Die Export-Textilindustrie lagert Arbeitsschritte in Heimarbeit aus, in vielen tausend Fluren in den Arbeitersiedlungen nähen Frauen für den Weltmarkt.

• Die überwiegend migrantische Arbeitskraft in Gurgaon pendelt zwischen Stadt und Land. Die Löhne in Gurgaon sind meist zu niedrig, um eine ganze Familie zu ernähren, daher bleibt diese im Dorf zurück. Ohne Arbeitslosenversicherung bleibt das Dorf sowohl zweites Standbein wie Zukunftsillusion: 16-Stunden-Schichten kann man nur in der Hoffnung aushalten, nach ein paar Jahren die Arbeiterexistenz gegen eine Position im dörflichen Geschäftsleben eintauschen zu können.

• Seit Mitte der 1990er Jahre werden Festverträge durch Leiharbeit ersetzt. Großangriffe wie die Aussperrung bei Maruti Suzuki im Dezember 2000 beschleunigten diesen Prozess. Heute sind drei Viertel der Arbeitskraft im Industriegürtel temporär und mobil; sie haben kein Interesse an Tarifverträgen mit langer Laufzeit oder Betriebsrenten, ihre Wut und ihre Leidenschaften sind direkter.

• Ihr Feind ist nicht der einzelne Boss, sie stecken in einem vielgesichtigen Ausbeutungszusammenhang. Der Immobilienboom hat ehemalige Bauern zu Vermietern und Arbeitsvermittlern gemacht, die zusammen mit lokaler politischer Klasse, Bullenapparat und bezahlten Privatschlägern eine Front gegen jede Äußerung proletarischen Unmuts bilden – und durch das gesichtslose Regime des multinationalen Investitionsmanagements und die Politik der Zentralregierung ergänzt wird.

• Angesichts dieser Klassenstruktur enden die meisten gewerkschaftlichen Kämpfe der Minderheit der fest angestellten ArbeiterInnen in Niederlagen. Das letzte Beispiel war die Aussperrung beim Benzinpumpenhersteller Denso im März 2010. Denso hatte sich auf die Suspendierung der 30 Gewerkschaftsvertreter vorbereitet und mittels Teilelieferung aus dem Denso-Werk in Thailand Extralager eingerichtet. Auf die Suspendierung folgte die Aussperrung mittels der Forderung nach »individueller Einverständniserklärung, den Betriebsfrieden zu wahren«, was der Gewerkschaftsdachverband ablehnte. Die ausgesperrten ArbeiterInnen wurden durch Leihkräfte ersetzt, die 24 Stunden am Tag in der Fabrik blieben. Die Ausgesperrten warteten Wochen vor dem Werk, die Gewerkschaft organisierte zahnlose Demonstrationen. Gleichzeitig gab es einen Lohnkonflikt bei Denso in Polen, in dessen Verlauf Denso-Arbeiter sich bei den Forderungen auf die Lohnerhöhungen bei Fiat Polen bezogen. Getrennt vom Konflikt bei Denso waren ArbeiterInnen eines weiteren Maruti-Zulieferers im benachbarten Faridabad im Ausstand – ohne direkte Bezugnahme. Nach einem Monat nahmen die ArbeiterInnen trotz fortbestehender Suspendierung von 13 Gewerkschaftsvertretern die Arbeit wieder auf. Das Denso-Management schickte die entmutigten, hochqualifizierten jungen FacharbeiterInnen eine Woche zur Yoga-Schulung in ein benachbartes Management-Ashram (»World Spriritual University«).

• Bei der Fabrikbesetzung bei Hero Honda, den Kantinenbesetzungen bei Honda hmsi, den wilden Streiks bei Delphi usw. haben junge LeiharbeiterInnen in den letzten Jahren Kampferfahrungen gemacht, die einige Antworten auf die oben genannten Probleme geben. Das waren keine »spontanen Kämpfe«, sie haben eine Vorgeschichte – und sie werfen neue Fragen auf2

• Wir brauchen Treffpunkte in den Industriegebieten, um zusammen mit den ArbeiterInnen ihre (subversiven) Organisierungserfahrungen und den sozialen Produktionsprozess zu analysieren: in den Fabriken, den Zulieferketten, in den Lebenszusammenhängen der Hinterhöfe bis zur Realität der entfernten Arbeiterdörfer. Teil dessen ist der Aufbau einer Struktur von gegenseitiger Hilfe und Koordinierung.

Das versuchen die GenossInnen des Faridabad ArbeiterInnenkollektivs in diesem Moment. In den letzten Jahren hatten sie sich auf die Herausgabe und Verteilung der Zeitung und auf die Aufrechterhaltung eines Anlaufpunkts in Faridabad beschränkt. Seit Ende April gibt es in Okhla (Delhi), Faridabad, Gurgaon und Manesar vier weitere »Arbeitertreffpunkte« in angemieteten Zimmern innerhalb der Arbeitersiedlungen. Ein junger Arbeiter wurde finanziell »freigestellt«, um den Treffpunkt in Okhla sieben Tage die Woche rund um die Uhr offenzuhalten; mit der Option, die »freien Tage« in Zukunft mit anderen ArbeiterInnen zu teilen; die anderen Treffpunkte werden anfänglich nur abends und sonntags geöffnet sein. In Okhla gab es bereits ein produktives Treffen mit Leiharbeitern eines Auto-Zulieferers (Kiran Industries), die für die Durchsetzung des neuen Mindestlohns auf Betriebsebene kämpfen wollen. In Manesar ist durch die Idee der »koordinierten Treffen« ein engerer Kontakt zu einem jungen casual worker bei Honda entstanden. Es besteht Hoffnung, dass ein, zwei Studenten mit mehr Zeit einen regelmäßigeren Austausch zwischen den Treffpunkten gewährleisten können. Die Genossen in Faridabad sprechen von einem »Schritt ins Nichts«, einem risikobehafteten Versuch in riskanten Zeiten. Internationale Diskussion ist notwendig. ■


www.gurgaonworkersnews.wordpress.com
www.faridabadmajdoorsamachar.blogspot.com






aus: Wildcat 87, Sommer 2010



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