Wildcat Nr. 88, Winter 2010 [krise kriegen in hackney]



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krise kriegen in hackney

Kampagnen, Community Politics und Mechanical Brooms



Das »historische« Sparpaket der britischen Regierung vom 20. Oktober sieht Kürzungen von 83 Milliarden Pfund in den nächsten vier Jahren vor, davon 18 Milliarden bei den Sozialausgaben. Der Etat einzelner Ministerien wird um 20 bis 30 Prozent gekürzt. Konkret heißt das unter anderem:

– im Öffentlichen Dienst werden 500 000 Stellen gestrichen; weitere 500 000 Stellen fallen infolge von Einsparungen, z.B. im Militärbereich, weg;

– das Rentenalter wird bis 2020 von 65 auf 66 Jahre erhöht;

– die spezielle Sozialhilfe für Kranke und Behinderte wird auf ein Jahr begrenzt, Mobilitätshilfe eingespart;

– das Wohngeld wird beschränkt; bei Neubezug einer Sozialwohnung wird die Miete von jetzt 30 auf maximal 80 Prozent des Mietspiegels erhöht; für Alleinstehende besteht erst ab dem 35. Lebensjahr Anrecht auf familienunabhängiges Wohngeld;

– Studiengebühren werden nicht mehr nach oben begrenzt und 40 000 Lehrerstellen stehen auf dem Spiel.

Das Sparpaket trifft die Armen am härtesten. Der Bürgermeister von London sprach angesichts der Tatsache, dass die Wohngeldreform 200 000 Menschen aus der Londoner Innenstadt vertreiben dürfte, von »sozialen Säuberungen im Kosovo-Stil«. Die Anhebung der Sozialmieten auf 80 Prozent des Mietspiegels bedeutet, dass eine Familie in London rund 54 000 Pfund im Jahr verdienen müsste, um unabhängig vom Wohngeld zu werden. Viele Freiwilligen- und Sozialverbände schreien auf, dass der Staat nicht fähig sein wird, das durch die Kürzungen entstehende Elend sozial zu verwalten.

Bisher gab es nur bescheidenen Widerstand gegen das Sparpaket. Am Tag der Verkündung zog eine Demo mit 3000 GewerkschafterInnen, swp-AnhängerInnen und Studierenden durch London, am Samstag darauf waren 1500 Menschen auf einer Gewerkschaftsdemo. In Hackney kamen Ende Oktober nur etwa 80 Linke zu einer Protestkundgebung vor dem Rathaus zusammen, zu der wochenlang mit vielen tausend Flugblättern vor Bahnhöfen, auf den Hauptstraßen und in Sozialwohnungsblocks mobilisiert worden war.

Eine erste Erklärung für den geringen Protest ist die geschickte Verpackung des Sparpakets: der Kürzungsauftrag wird in erster Linie an die Gemeinden weitergegeben, denen gleichzeitig mehr Autonomie bei der Umsetzung und Gestaltung ihres Haushalts zugestanden wird. So lud die Gemeindeverwaltung von Southwark (Südlondon) die BewohnerInnen zur ›demokratischen Mit-Bestimmung des Umbaus‹ ein, mit ›neuen Modellen von co-operative council oder Freiwilligenarbeit für die »innovative Herausforderung«. Ähnliche ›Autonomie‹ wird den Universitäten zugestanden: sie können höhere Gebühren verlangen, müssen aber nicht. Die meisten konkreten Kürzungen kommen also erst noch, und sie betreffen jeweils einzelne Gruppen oder Gegenden. Zweitens spielen die Gewerkschaften bei der lokalen Umsetzung meist verhandelnd mit: Eine Londoner Englischlehrerin für MigrantInnen berichtet, dass in ihrer Schule 16 von 200 Stellen gestrichen werden sollen. Der lokale Gewerkschaftsfunktionär blockte alle Forderungen nach Streik-Urabstimmung ab. Stattdessen müssen sich nun alle 200 Lehrkräfte einem Test und einer Begutachtung ihres Unterrichts unterziehen – mit den Ergebnissen sollen dann auf ›objektiver Grundlage‹ Kündigungen ausgesprochen werden.

Am wichtigsten bei der Frage, warum es bisher keine größeren Proteste gab, ist die Zerklüftung der Arbeiterklasse. Der Angriff trifft einen durch Auslagerungen und Prekarisierung unterschichteten und hierarchisierten Öffentlichen Dienst. Das wurde bereits in den Monaten zuvor deutlich, wo viele Abwehrkämpfe gegen direkte Angriffe auf dort festangestellte ArbeiterInnen selbst auf ihrem unmittelbaren Terrain ins Leere liefen.

Hackney

Im Folgenden beleuchteich die Krisenangriffe und das Verhalten der Proleten im Stadtteil Hackney im Norden von London. Hackney grenzt im Süden an das Banken- und Börsenviertel, im Norden an die Großbaustelle für Olympia 2012. Es ist arm, nach Pro-Kopf-Einkommen offiziell die zweitärmste Kommune Englands, ein Großteil seiner rund 220 000 BewohnerInnen beziehen Sozialleistungen, die Arbeitslosigkeit liegt über dem Landesdurchschnitt – das englische Neukölln. Der Staat versuchte, die Kosten für sozialen Wohnungsbau, Jobprogramme und andere Formen der Verbrechensbekämpfung zu finanzieren, indem er die zentrale Lage Hackneys und steigende Immobilienpreise »vermarktet«. Die Krise machte einen Strich durch diesen Versuch, urbane Armutsverwaltung und Gentrifizierung zu kombinieren.

Der ›öffentliche Sektor‹ ist mit Abstand der größte Arbeitgeber in Hackney. Ich habe ein paar Monate bei der städtischen Straßenreinigung und Müllabfuhr als Tagelöhner gearbeitet, in einem Depot mit rund 300 Leuten.

Die Kommune hatte im Jahr 2000 diese Abteilung privatisiert und an das multi-nationale Unternehmen Serviceteam verkauft. Die ArbeiterInnen reagierten mit unkooperativem Verhalten. Nach rund 11 Monaten gab Serviceteam auf, und die Straßenreinigung wurde re-kommunalisiert. Gewerkschafter, die sich in dieser Phase und bei einem kurzen Streik im Jahr 2002 hervorgetan hatten, wurden zu Managern befördert. Zugleich schaffte das kommunale Management die ›Bierkasse‹ ab, ein von der Gewerkschaft verwaltetes illegales Trinkgeld, das Geschäftsleute für die Abholung von nicht-deklariertem Müll direkt an die ArbeiterInnen gezahlt hatten.

Auch nach der Re-Kommunalisierung ging eine andere Form von »Privatisierung« weiter: Inzwischen sind rund 40 Prozent der Beschäftigten Leiharbeiter, sie bekommen den staatlichen Mindestlohn von 5 Pfund 80, rund halb so viel wie die Festangestellten. Sie werden auf Tagesbasis beschäftigt, d.h. ein Großteil erscheint morgens gegen 5:30 Uhr auf dem Depotgelände und wartet bis 7:30 Uhr, ob eine reguläre Arbeitskraft ausfällt. Im Durchschnitt wird etwa ein Dutzend von ihnen unbezahlt wieder nach Hause geschickt. Bei der Konkurrenz um Jobs kann das Wort eines festeingestellten Fahrers entscheiden, welcher Arbeiter nach Hause geschickt wird, und wer arbeiten darf.

Bei einer Fünftage-Woche kommt man mit 5 Pfund 80 auf rund 830 Pfund Monatslohn. Ein Großteil der ArbeiterInnen im Depot arbeitet aber sieben Tage die Woche.

Morgens früh im Depot herrscht Babylon, die gesamte Einwanderungsgeologie Englands ist am Start. Die älteren Festeingestellten sind tätowierte Cockneys, alte karibische Rastas oder bärtige Gujarati Muslims, oft der zweiten Generation. Eine Bruchlinie verläuft durch die späten 1990er. Die ArbeiterInnen mit Zeitarbeitsverträgen sind meist unter 30; ›white-british‹, oder aus dem Maghreb, dem Baltikum, aus Südafrika, Bangladesch, Polen. Der Job ist schlecht bezahlt und dreckig, aber er bietet eine geringe Chance auf Festvertrag mit substanzieller Lohnerhöhung. Und bei harter Arbeit kann man in den meisten Fällen früher nach Hause oder zum Zweitjob: eine Arbeitsweise, die durch die Phase der Privatisierung erhalten und an die ZeitarbeiterInnen weitergegeben wurde.

Das Recht, nach getaner Arbeit heimgehen zu können, schafft ein widerwärtiges Spannungsfeld. Früher konnte eine gute Kolonne ihre Runde in drei bis vier Stunden bewältigen. Aber seit Ende der 90er Jahre haben verschiedene Angriffe diese Arbeitsweise gegen den Zusammenhang der ArbeiterInnen umgedreht: Im Frühsommer 2010 wurden neun Runden der Gewerbemüllentsorgung (Restaurants, Geschäfte etc.) auf sieben zusammen gestrichen, d.h. eine schrittweise Erhöhung der Anzahl von Müllcontainern pro Runde; eine ständige Zersetzung der Kolonne durch Zeitarbeit; Verkleinerung der Kolonnen sowie Einführung von neuen Sammelcontainern und Mechanical Brooms (Hightech-Trucks für Straßenreinigung). In der Konsequenz werden heute an manchen Tagen acht Stunden ohne Verschnaufpause durchgearbeitet.

Die ZeitarbeiterInnen müssen schon deshalb in der Nähe des Arbeitsplatzes wohnen, um Transportkosten zu sparen. schrittweise Erhöhung der Anzahl von Müllcontainern pro Runde. Viele Kollegen dagegen, die sich noch an gewerkschaftlichen Einfluss erinnern können, sind aus Hackney in die Außenbezirke gezogen, wo die meisten von ihnen ein kleines Wohneigentum haben. Sie sagen, dass Hackney nicht mehr ihr Viertel ist: zu viel Migration, zu viel Verbrechen – Lower Clapton hat die höchste Straßenmordrate in England. Auch im Depot zelebrieren wir nicht täglich die Arbeitereinheit, aber immerhin kommen beim Job junge polnische MigrantInnen mit karibischen ArbeiterInnen der zweiten Generation ins Gespräch. Die Hälfte der Mechaniker in den Reparaturwerkstätten kommt aus Afghanistan, sie montieren fernab und doch verbunden mit dem imperialistischen Krieg nun in den Eingeweiden der Bestie.

Community?

Viele BewohnerInnen Hackney sind nicht nur vom Lohnstopp im Öffentlichen Dienst oder dem Einfrieren des staatlichen Kindergeldes betroffen, auch die staatlichen community-Leistungen werden gekürzt oder gestrichen. Der soziale Klebstoff, den der Staat in Form von Sozialzentren, Gewaltpräventionsprogrammen, Arbeitsmaßnahmen für Jugendliche usw. in die sich zersetzende spätkapitalistische Gesellschaft gedrückt hat, wird dünner.

Das staatlich verbreitete Image der »multi-cultural community« soll(te) identitätsstiftend wirken, indem es einerseits Hackneys migrantischen Charakter aufgreift, andererseits ein moralisches Element forciert, das die Bevölkerung ihrer Gemeinde – also letztlich dem Staat – verpflichtet. »Community Pay Back« steht auf den Neon-Westen der jungen Männer, die sonntags unter Aufsicht die Straße in einem Sozialwohnungsblock fegen. Eine Strafarbeitskolonne, junge Straftäter auf Sozialstunden. Aber meistens ist das staatliche Element der community subtiler, in materieller Abhängigkeit von Staatsknete, in Sozialarbeit, die aus sozialen Konflikte ›individuelle Fälle‹ macht, in Sachbearbeitern, die nicht nur Rat bieten, sondern auch das Gesetz vertreten. Solche sozialen Kontrollfunktionen werden aktuell gekürzt: an den Schulen Stellen für Pausen- und Klassenaufsichten; 3,8 Millionen Pfund beim Community Safety Department; staatliche Zuschüsse für Beratung von MigrantInnen; bei Kitas; beim Department for Housing Needs (Beratung und Hilfe für Obdachlose und Leute in temporären Unterkünften). Und zweifelsohne werden diese Sparmaßnahmen ›soziale Lücken‹ hinterlassen. Individuelles Elend, ›asoziales‹ Verhalten und soziale Spannungen werden zunehmen.

Die Mieten sind hoch, eine privat gemietete 60m² 3-Zimmer Wohnung in einem ehemaligen Sozialwohnungsblock in Hackney kostet 1000 Pfund kalt. 70 Prozent der Bevölkerung wohnen zur Miete – ein für England enorm hoher Anteil –, fast die Hälfte bekommt Wohngeld. Mit dem Wohngeld wird der private Wohnungsmarkt subventioniert, also die Trennung in ›hausbesitzende Mittelschicht‹ und ein mittelloses Serviceproletariat. Mit den angedrohten Kürzungen bei Wohn- und Sozialgeldern und einer zusammensackenden Immobilienblase knirscht es im sozialen Gefüge. Konservative Berechnungen gehen davon aus, dass auf Grundlage der neuen Wohngeldberechnung rund 2000 Haushalte in Hackney ihre Wohnung werden verlassen müssen.

Über zehn Prozent aller Wohnungen gelten als überfüllt, mehrere tausend Leute sind obdachlos oder in Notunterkünften untergebracht. Im scheinbaren Kontrast weist Hackney den höchsten Leerstand in London auf, rund 2600 Wohnungen stehen seit über sechs Monaten leer. Die Strategie des Staats besteht darin, sozialen Wohnungsbau durch privaten Immobilienerwerb zu finanzieren. Um den Einstieg von privaten Immobilienfirmen zu beschleunigen, verzögert der Staat Wartungsarbeiten und toleriert Leerstand, um die übrigen BewohnerInnen für eine ›private Wohnraummodernisierung‹ weichzukochen. Thatchers ›Right to Buy‹, das Recht, die Sozialwohnung, in der man zur Miete wohnt, von der Kommune zu kaufen, hat zwei Jahrzehnte später zu einer Durchmischung der Sozialblocks geführt. Die gekauften Sozialwohnungen sind zu Spekulationsobjekten geworden, sie werden nun mehr als doppelt so teuer vermietet. Gleichzeitig fehlen Sozialwohnungen, in Hackney stehen rund 15 500 Menschen auf der Warteliste.

Linke Kampagnenpolitik

Gegen das Sparprogamm der neuen Regierung sind in den meisten Städten ›Allianzen gegen die Kürzungen‹ entstanden. Hier kommen Trotzkisten und Anarchisten in der Hoffnung auf eine neue Anti-Poll-Tax-Bewegung zusammen. Auch in Hackney trafen sich Anfang Juli 2010 rund 50 Leute zu einem Gründungstreffen. Fast alle haben repräsentative Funktionen in Gewerkschaften, die meisten im Bereich Erziehung, sprich, sie arbeiten als LehrerInnen. Ein Großteil ist entweder in der Socialist Party (sp) oder Socialist Workers Party (swp) organisiert und tritt dementsprechend koordiniert und dominierend auf. Ein Großteil der Zeit ging bisher für die ›eigene Strukturierung‹ drauf: Wählen des Schatzmeisters und Sekretärs, Definition des Kreises in Abgrenzung zu anderen Initiativen, Wahlregeln bei Abstimmungen. Auch die politischen Vorschläge sind von der swp geprägt: Demonstrationen vor dem Rathaus während der Ratssitzungen, Stände in den Hauptverkehrsstraßen, eine öffentliche Versammlung… für letztere sollen »Vertreter des linken Flügels der Labour Party als Sprecher gewonnen werden«, denn »sie können Leute mobilisieren, die eine breite Bewegung braucht«.

Die Zusammensetzung und Ausrichtung des Treffens in Hackney ist repräsentativ für viele dieser Allianzen. Eine qualifizierte und politisch organisierte Schicht der offiziellen Arbeiterbewegung, die in den letzten zwei Jahrzehnten in der Klemme steckt zwischen ständig scheiternden Versuchen der Einflussnahme auf die Sozialdemokratie einerseits und Realitätsverlust im Hinblick auf die tatsächliche Zusammensetzung der Arbeiterklasse andererseits. Die aktuellen Niederlagen der organisierten Kerne dieser Schicht, z.B. die Streiks bei der Royal Mail (Post) oder im Transportwesen erklären sich aus den Grenzen ihrer Zusammensetzung – und erst in zweiter Linie und davon abgeleitet aus ›gewerkschaftlichen Begrenzungen‹ oder dem ›Verrat der Führung‹. Weil Auslagerungen, Zeitarbeit und weitere Umstrukturierungen die materielle Basis untergraben haben, setzen die Repräsentanten dieser alten Zusammensetzung noch stärker als zuvor auf ›politische Einflussnahme‹… schaffen es aber nicht, sich auf ›Kürzungen‹ und tägliche Konflikte im Arbeitsalltag zu beziehen, auch weil diese Dinge sich nicht fürs Aufstellen eines allgemeinen Gegenprogramms eignen. Die traditionelle Linke hat zu den Kürzungen ein im negativen Sinne ›politisches‹ Verhältnis, aus Sicht der Proleten ein oberflächliches und taktisches.

Linke Stadtteilarbeit

Verschiedene post-anarchistische Gruppen, z.B. die London Coalition Against Poverty (lcap) versuchen, direkte Aktionen zur Verbesserung der Lage in Hackney durchzuführen. Die meisten AktivistInnen leben selber im Stadtteil und haben vor allem in Sozialblocks mit hohem Leerstand größere Hausbesetzungen organisiert. Z.B. wurden im Winter 2009/10 von einer Mischung aus osteuropäischen ArbeiterInnen und eher anarchistischen jungen Menschen mehrere Wohnungen im King's Crescent Estate besetzt. Die BesetzerInnen bemühten sich sehr um die zu den Nachbarn. Trotzdem blieb das Verhältnis zu ihnen gespalten, für die AnwohnerInnen ist die Besetzung auch ein Zeichen, dass der Staat sich aus der Verantwortung für die Instandhaltung ihrer Wohnungen stiehlt – die Selbstaktivität der BesetzerInnen kommt dem neoliberalen Staatsgedanken entgegen.

Der Staat umging den schwierigeren Weg der Räumungsklage mit einem Platzverweis wegen ›asozialem Verhalten‹. Nach Ablauf der Frist sparte sich die Kommune die Kosten für ein Räumkommando – eine bezahlte Truppe zerschlug die Wasserleitungen im oberen Stockwerk und flutete die BesetzerInnen bei Minusgraden aus den Wohnungen.Nach der Räumung unterstützten die lcap-Leute einen Teil der ›OsteuropäerInnen‹ auf dem Wohnamt. Dort sind sie bereits bekannt und gelten als juristisch geschult und penetrant.

Konflikte und Spaltungen zwischen Mittelschicht und ProletarierInnen, aber auch solche innerhalb der Klasse lassen sich nicht einfach überspringen, indem man sich auf die ›community‹ oder die ›AnwohnerInnen‹ bezieht. Das wird noch deutlicher an einem weiteren Beispiel von community Arbeit, den Friends of Hackney Nurseries (fhn), die die massiven Kürzungen bei kommunalen Kitas zurückkämpfen will. Es gibt vier Arten von Kitas: direkt von der Stadt geleitete; von non-profit Unternehmen auf ehrenamtlicher Basis geführte; private; und schließlich selbstständige Tagesmütter. Der Staat hat die Zuschüsse für die ehrenamtlichen Kitas massiv gekürzt. fhn versteht den gemeinsamen Kampf von »DienstleistungsarbeiterInnen« und »NutzerInnen« als Teil des »Kampfs um den Soziallohn«. Ihre Aktivitäten bestehen vor allem aus Unterschriftensammlungen, Petitionen und Demos. Die Kita-Beschäftigten unmittelbar zusammenzubringen ist schwierig, weswegen vor allem die Leiterinnen der ehrenamtlichen Kitas als Bündnispartner gegen die Pläne der Kommune auftauchen. Damit gerät die Initiative in eine Zwickmühle, denn jede Forderung nach besseren Bedingungen für Beschäftigte (und Kinder) würde die Zusammenarbeit mit den LeiterInnen gefährden. Ein paar der AktivistInnen äußern ihren Frust, dass sie zu einer »pr-Abteilung der Kita-Leitungen« geworden sind.

Ich wollte ArbeiterInnen einer städtischen Kita interviewen, die jahrelang mit Tagesverträgen beschäftigt waren und jetzt ihre Festeinstellung eingeklagt hatten. Sie befürchteten aber, ein Interview würde sie bei zukünftigen Kita-Arbeitgebern in einem schlechten Licht erscheinen lassen.

Der Begriff der ›Nutzer‹, mit dem die Initiative hantiert, ist problematisch. Für Kinder unter zwei Jahren kostet ein Kita-Platz rund 50 Pfund am Tag, das ist mehr als der staatliche Mindestlohn. Eine niedrig entlohnte Berufstätige würde Zuschüsse bekommen, eine Arbeitslose nicht; die Kita-Nutzung ist also bereits jetzt viel stärker ›klassifiziert‹, als der Begriff ›NutzerInnen‹ es nahelegt. Über solche Widersprüche versucht die fhn mit Organizing-Techniken hinwegzukommen: Wer kann ein Verbündeter sein? Wer ist Hauptadressat? Wo sind Schwachstellen der Gegenseite? Man will einen vorzeigbaren Erfolg produzieren, um anderen Initiativen Beispiel und Anregung zu geben, dass man zusammen etwas erreichen kann.

Auch wenn im Sprachgebrauch der Linken in England die »Arbeiterklasse« noch präsent ist, sind ihre Vorgehensweisen denen in der brd durchaus ähnlich: politische Kampagnen einerseits, Ansetzen an (einem Gegenbegriff von) community andererseits. Angesichts einer scheinbar gesichtslosen Arbeiterklasse, die sich, abgesehen von den übriggebliebenen Kernbelegschaften, in einem Meer prekärer Arbeit und Unterbeschäftigung auflöst, ist das nachvollziehbar. Aber mit dem Wegzug eben dieser ›Kerne‹ ist der Stadtteil nicht mehr der Ort, wo Produktionsmacht und proletarische Reproduktion zusammenkommen, und community wird zum Hebel des Stadtteilmanagements. Somit laufen Initiativen wie die von lcap Gefahr, sich im Verhältnis ›individueller Proll‹ vs. (Sozial-)Staat als ausgelagerte Sozialarbeit zu entpolitisieren und lediglich die Lücken zu füllen, die der Staat hinterlässt.

Der Ofen ist noch nicht aus.

Die Lage ist uneinheitlich. Aber sie ist keinesfalls hoffnungslos. Wir müssen nur endlich aufhören, uns in die Zeiten der alten Klassenzusammensetzung zurückzuträumen.

Es geht um mehr als quantitative Kürzungen am Soziallohn oder bei Arbeitsplätzen. Arbeit auf Abruf, Siebentagewoche usw. krempeln alle Lebenszusammenhänge um. Bei der Post und der Müllabfuhr ging es vor allem um die ›Zustimmung zur Modernisierung‹, sprich zur weiteren Umschichtung der Arbeitskraft. Im Betrieb sieht diese Umschichtung so aus, dass neue Maschinerie (mechanisierte Sortiermaschinen) und Arbeitsteilung (neue Rundensysteme bei der Abfuhr) weitere Arbeitsverdichtung und Prekarisierung ermöglichen. ›Garantierte Kernbelegschaften‹ haben nur noch in sehr seltenen Fällen alleine die Macht, sich zu verteidigen, und communities im segregierten Stadtteil lassen sich nicht durch guten Willen in Kampfgemeinschaften umdrehen. Die Auseinandersetzungen um Kitas, Sozialwohnungsblocks, Stellenstreichungen, Arbeitsverdichtung usw. sind Teil des Kampfs um die gesamte proletarische Reproduktion. In diesen Kämpfen müssen wir eine ›Sprache‹ entwickeln (und entdecken!), um diese verdeckten Krisenauswirkungen als Teil des allgemeinen Angriffs und Verschärfung des Widerspruchs von gesellschaftlicher Produktivität und Verarmung darzustellen.

Revolutionäre Linke diskutieren bisher zu wenig darüber, wie gegen diese partiellen Angriffe vielleicht auch neue Linien von Verallgemeinerung entstehen können. Zum Beispiel: Könnten die prekären ArbeiterInnen in arbeitsorganisatorischer Nähe zu den ›garantierten Überbleibseln‹ die homogenisierende Mitte zwischen den zwei großen Flügeln der derzeitigen ›Anti-Kürzungsmobilisierung‹ (ArbeiterInnen des Öffentlichen Diensts und ›Studies‹) sein? Also die Jungen, die jetzt sowohl beschissenere Bedingungen auf Arbeit haben, als auch ihre zukünftigen Ziele kaputtgehen sehen? Bisher war ihre Perspektive ›nach ein paar Jahren jobben in England eine gute Zukunft in Polen‹, oder ›mit vier Jahren Call Center das Studium finanzieren‹ oder ›nach vier Jahren Überstunden kann man an Hauskauf denken, bis dahin überlebt man irgendwie im Wohnklo‹…

Ob die ›alten Kerne‹ ausbrennen oder neuen Zündstoff liefern, wird sich jedenfalls erst im Zusammenhang beantworten. Immerhin: Anfang Oktober wollte die Gemeindeverwaltung von Hackney die Kündigungsklauseln in ihren Arbeitsverträgen ändern, die Gewerkschaft unison mobilisierte dagegen, und obwohl die Gemeindeverwaltung daraufhin zurückzog, kam es im Anschluss zur größten Gewerkschaftsversammlung seit zehn Jahren. Die Streiks gegen Entlassungen bei der Londoner U-Bahn waren ebenfalls recht solide.

Die spontane Besetzung der Parteizentrale der Konservativen Partei auf der Studi-Demo am 10. November war Ausdruck davon, dass sich neue Formen des Protests entwickeln, aber die ›Bewegung‹ das kalte Wasser erstmal nur mit den Zehen prüft. Mehrere tausend StudentInnen waren von der Großdemo abgebogen, schmissen die Scheiben der Zentrale ein und besetzten Foyer und Dach - der Großteil applaudierte vor dem Gebäude. ■



aus: Wildcat 88, Winter 2010



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