Wildcat-Zirkular Nr. 27 - Juli/August 1996 - S. 48-56 [z27frkam.htm]


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Frankreich - Klassenkampf in der Postmoderne

Von Maurizio Lazzarato / aus: DeriveApprodi 9/10 Februar 1996

(leicht veränderte Übersetzung aus: »Die Beute« Nr. 10 - 2/96)

Was mich an der französischen Streikbewegung frappiert hat, ist die Geschwindigkeit, mit der sie von branchenmäßigen zu allgemeinen Forderungen übergegangen ist. Diese Verallgemeinerung ist jedoch nicht abstrakt, als eine Art Politisierung vor sich gegangen, nämlich nicht als Übergang von ökonomischen Forderungen zu politischen, wie es eine Tradition der Arbeiterbewegung will, sondern sie folgte einer Verallgemeinerung und Globalisierung, die auf die Konstitution eines neuen sozialen Zusammenhangs, einer höheren Gesellschaftlichkeit hinausläuft. Es entstand eine Kollektivität, eine Vielfalt, die »Leben« und »Zeit« dieses sich konstituierenden sozialen Zusammenhangs dem »Leben« und der »Zeit« des Kapitals entgegensetzte. Man kann in einer ersten Annäherung diese Bewegung erklären, indem man die Foucaultsche Definition der »Bio-Macht« umkehrt. Im vorliegenden Fall wird, im Gegensatz zu dem, was Foucault beschreibt, die Frage nach der »Macht zum Leben« auf radikale Art, demokratisch von unten gestellt, und sie ist nicht einfach Ausdruck statuarischer Formierung und Überwachung. Die verschiedenen Forderungen der Streikenden (Lohn, Rente, soziale Sicherheit, Bildung- und Fortbildung) können in dieser Hinsicht als ebenso viele Artikulationen der Probleme des Lebens, des Todes, der Gesundheit, des Leidens, des Wissens und der Subjektivität unter der gegenwärtigen kapitalistischen Konjunktur gedeutet werden. Die Weigerung, das eigene »Leben« den Postulaten der neoliberalen Leistungsethik zu unterwerfen, ist erstaunlich offen eher in den Parolen der Streikenden als in den Proklamationen der Gewerkschaften zum Ausdruck gekommen. Die Rentenfrage ist gleichzeitig mit der der »Zukunft der Jugend« aufgeworfen worden, denn »für sie gibt es weder Arbeit noch Rente«. Das Problem der »Arbeitslosigkeit« war mit einem Mal identisch mit der Frage des Sozialstaats und dem Problem der jüngeren Generation. Die Studenten sind gezwungen, das akademische Wissen in Beziehung zum Arbeitsmarkt, zu den Machtverhältnissen und zur Gesellschaft insgesamt zu setzen.

Der Widerstand gegen den Plan von Juppé zielt nicht nur darauf, die Erhöhung der Sozialbeiträge zu stoppen, er treibt zugleich eine Öffnung voran, die alternativen Formen des Umgangs mit dem Körper, mit der Krankheit, dem Leiden (dazu hätten die Krankenschwestern sicherlich viel zu sagen) und der Subjektivität allgemein Raum gibt. Der ökonomische Kampf tendiert dazu, eine globale Dimension anzunehmen, und zielt aufs Ganze, nicht mehr nur auf das politische Machtverhältnis, sondern auf die generellen Lebensbedingungen derer, die man bisher, in Ermangelung eines besseren Begriffs, als Proletariat bezeichnet hat.

Die Verbindung der ökonomischen und sozialen Probleme mit denen der Konstitution von Subjektivität scheint diese Streiks auszuzeichnen. Daran läßt sich die Entfernung ermessen, die sie von den klassischen Arbeiterkämpfen trennt, wo der Übergang zum Politischen den Eingriff der Organisation verlangte, die als Feind den Staat hatte, der das allgemeine Interesse vertrat, und nicht wie heute die Organisation der Bio-Macht. In dieser Hinsicht sind besonders die Erfahrungen und die Themen der Frauenbewegung in die heutigen Bewegungen eingegangen, denn hier geht es nicht nur um die Relation von Arbeitslohn und Arbeitszeit (wie in den traditionellen Arbeiterkämpfen), sondern zugleich um das Verhältnis von Lohnarbeit und »Lebens«-Zeit (in marxistischer Terminologie: um die Reproduktion). Die Frauenbewegung ist die erste gewesen, die die Logik der Bio-Macht umgekehrt hat; hier erschließt sich die Bedeutung der Kämpfe der Krankenschwestern und der Mobilisierung der Frauen im Postfordismus. In der Solidarität, die diese Bewegungen hervorbringen, findet diese globalisierende Perspektive ihre eigene materielle Kraft. Auch wer nicht unmittelbar in die Organisierung des Streiks einbezogen war, fühlte sich solidarisch, denn auf dem Spiel standen die Formen des »Lebens«, und die gehen alle persönlich an.

Dieser globale Gesichtspunkt muß nunmehr zur Voraussetzung aller Projekte und Forderungen gemacht werden. Die lebhaft geführte Debatte über die Verkürzung der Arbeitszeit und das garantierte Einkommen gewinnt eine neue Dimension, weil und soweit die Arbeitszeit als Lebenszeit wahrgenommen wird. Ein Gesichtspunkt, der den klassischen Arbeiterfiguren abgeht. Was uns stets in Verlegenheit gebracht hat, war nicht die Forderung nach kürzerer Arbeitszeit als solche, sondern ihre Verwirklichung nach dem Arbeitszeitmodell der Arbeiterklasse; eine Organisation der Zeit und der Produktion, die der Entwicklungstendenz des Kapitalismus und auch der Subjektivität nicht mehr gerecht werden. Im Gegensatz zu dem, was die bessere Gesellschaft der Intellektuellen, Politiker und Medienleute denkt, verschwindet der Konflikt im postmodernen Kapitalismus nicht, sondern nimmt eine Intensität an, die die gesamte Gesellschaft unmittelbar erfaßt und den vollen Reichtum des gesellschaftlichen Lebens der sachlichen Leere der Geldform (trotz deren unumschränkter Herrschaft) gegenüberstellt.

2. Diese Kämpfe sind auch in einem weiteren Sinne bio-politisch: Sie unterlaufen die Psychiatrisierung des Sozialen, die psychische Internalisierung der Krise als Leiden, Angst, Schuldgefühl. - Nietzsche entwirft seine Genealogie der Moral gegen die Ethik, die auf Tausch (und auf Verzicht) gegründet ist, auf der Schuldverpflichtung. Im Deutschen werden moralische Verfehlung und Geldschulden mit demselben Wort bezeichnet: Schuld. Für Nietzsche haben das schlechte Gewissen und das Ressentiment denselben Ursprung. - Heute erinnern uns Politiker und Medien daran: Wir sind, individuell und kollektiv, gegenüber dem Weltbanksystem für die nächsten sieben Generationen verschuldet. Wenn wir die Schulden nicht begleichen, zahlen wir mit Schuldgefühl, mit schlechtem Gewissen. Heutzutage wird die Schuld nicht mehr auf dem Körper gebrandmarkt, sondern zeichnet unsere Subjektivität (und belastet unser Bankkonto ebenso wie das der Nationen). Ein 35-jähriger Eisenbahner berichtet während des Streiks, daß er, seit er sich erinnern kann, von nichts anderem zu hören bekam als von der Krise und den Opfern, die zu ihrer Bewältigung nötig wären. Aber es gehört zur Krise und zu Schulden, daß sie wachsen, und das Heilmittel des Wirtschaftswachstums ist bloß eine Illusion. - Es reicht! Die Kämpfe haben die Wiedereinführung der Erbsünde (eine, die ohne Glauben und Überzeugung auskommt) durch den postmodernen Kapitalismus zurückgedrängt. Diese Bewegung ist von dem Bewußtsein getragen, daß die Krise kein vorübergehender Zustand ist und daß die Verschuldung und die Krise eine Methode sind, die Ökonomie zu lenken und die Subjektivität zu psychiatrisieren. Die Kämpfe sind weit davon entfernt, »tiefste Verzweiflung« auszudrücken, wie die weltlichen Priester und Organisatoren der verordneten dumpfen Leidenschaften - die Journalisten, Intellektuellen und Politiker - meinen. Was in ihnen zum Ausdruck kommt, ist Begehren und Spaß.

Der Sozialstaat sollte alle Streikenden dafür belohnen, daß sie dazu beitragen, Psychopharmaka, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, kurz alles, was das »Leiden« verwaltet, einzusparen.

Diese Kampftage haben der Krise der Subjektivität unter den herrschenden Bedingungen von Lohnarbeit etwas anderes als ihre staatliche Reintegration über den Appell an die Nationalgemeinschaft entgegengesetzt: Sie haben den Raum geöffnet für eine Vielzahl von Möglichkeiten der Subjektbildung. In ihnen ist mehr zum Ausdruck gekommen als die Heterogenität und Vielfalt der Subjektivitäten: nämlich ein Experiment der Massen, ihre postfordistische Unterwerfung und Verknechtung (als Arbeitslose und Langzeitarbeitslose, Beschäftigte im öffentlichen Dienst und im privaten Sektor, in prekären Arbeitsverhältnissen, als Verbraucher, Studenten, Medienarbeiter, Hausfrauen usw.) abzuschütteln. Es sind die ersten Anzeichen autonomer und unabhängiger Subjektbildung. Die Einengung der neuen Formen von Subjektivierung und Individualisierung auf die unendliche Modulation der »Subjekte« der neuen Ökonomie wurde als autoritär und feindlich erfahren. Eine letzte Beobachtung betrifft den Rassismus, der die Umstrukturierungen in der Krise als neubelebte Form des Ressentiments begleitet hat. Die dreiwöchigen Kämpfe haben die Prämissen des Streits um die Immigration verschoben - was die Organisation SOS Racisme mit ihrer Ideologie der Menschenrechte, trotz der Unterstützung durch Mitterand und die Medien, nicht zustande gebracht hat.

3. Es ist ziemlich niederträchtig, wenn man die Sicherheit und die Privilegien der Staatsbediensteten dem prekären Status der Beschäftigten im Privatsektor und der Arbeitslosen gegenüberstellt. Die »Dienstleistungen« nämlich sind kein Sektor, der noch nicht in die Weltwirtschaft eingetreten wäre, wie die Intellektuellen der Macht (etwa Touraine) behaupten, sondern der moderne Typus des Produktions- und Ausbeutungsverhältnisses, dem sich auch das, was man als Industrie bezeichnet, anpassen muß. Die »öffentlichen Dienste« sind strategische Orte in der neuen Organisation der postfordistischen Produktion. Das Transportwesen gewährleistet die Flexibilität und Mobilität der Waren und der Arbeitskraft. Das Fernmeldewesen ist bereits das Epizentrum der Informationsökonomie und spielt, weil es die Informatik und die kulturelle Produktion umfaßt, eine ähnliche Rolle wie das Auto in diesem Jahrhundert. Die Bildung produziert den Rohstoff der Wirtschaft des XXI. Jahrhunderts: das Wissen. Die Sozialleistungen regulieren die »Gesundheit« des Gesellschaftskörpers, von der die Produktivität des Systems abhängt. Die Dienstleistungen, auf die dieser neue Kampf zielt, sind das Herz der neuen kapitalistischen Produktion, nicht ein veralteter, antiökonomischer Sektor. Ihre Blockade durch den Streik ist deshalb so wirksam, weil diese Dienste, weit davon entfernt, eine Organisation der Arbeit mit geringer Produktivität zu sein, die Entwicklungstendenz des Kapitalverhältnisses darstellen.

Im Gegensatz zur Meinung der »Républicains« und derjenigen Linken, die an der jakobinischen Identifikation von Staat und Gesellschaft festhalten, wird der Staat aufhören, dem garantierten Proletariat ein fordistisches Lohnverhältnis zu garantieren. Er ist auch keine Institution, die sich der Marktlogik entgegenstellt, sondern der Hauptakteur im Umstrukturierungsprozeß.

Der Staat ist es, der die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Produktion und garantiertem Einkommen, zwischen Produktion und Bildungssystem, zwischen dem Sozialen und dem Ökonomischen verändert und neu formt. Der Staat ist es, dessen Apparate die Subjekte hervorbringen. Die Deregulierung erfordert, wie man überall in der Weltwirtschaft sieht, eine neue Regulierung, die vom Staat garantiert wird. Der Gegensatz vom Staat und Markt gehört zu den zahlreichen Illusionen der Linken und der Arbeiterbewegung. Der Kampf der Staatsbediensteten ist heute deshalb so wirksam, weil er die Kritik der neuen Unterwerfungs- und Regulierungspraxis des Staates ist.

Die alte Marxsche These vom Absterben des Staates tritt wieder auf die Tagesordnung, und paradoxerweise tut sie es heute als ökonomische Notwendigkeit. Der Staat ist zu einem kontraproduktiven Unternehmen geworden. Die Reproduktion der Staatsfunktionen ist für die Gesellschaft zu kostspielig geworden. Die Besteuerung der Kapitaleinkünfte und der Spekulationsgewinne berührt aber in keiner Weise die Kontrollmechanismen und die Organisation des Wohlfahrtsstaats. Es mag nötig sein, die Staatsverschuldung zu reduzieren. Wollte man damit aber ernst machen, so müßte man der Verwaltung ihre staatliche Form nehmen und sie als demokratischen Prozeß von unten neu bestimmen. Es sind nicht die Sozialausgaben, die zuviel kosten, sondern ihre Zentralisierung und Hierarchisierung zum Zweck der Kontrolle und Unterwerfung. Das Absterben des Staates wird zu einer berechtigten Möglichkeit. Die Kämpfe dieser Wochen ermöglichen uns, die Alternative zwischen staatlich und privat zurückzuweisen. Sie verlangen, den Begriff des Öffentlichen neu zu definieren, und erlauben, eine Alternative zwischen Verstaatlichung und Privatisierung, zwischen Marktwirtschaft und Staatskapitalismus zu denken.

Aneignung der Verwaltung - den öffentlichen Dienst der Aufsicht des Staates sowie der privaten Aneignung entziehen und ihn auf demokratische Weise von unten neu aufbauen.

4. Die Streiks von 1995 sind gewiß der erste große Riß und die bisher stärkste Opposition gegen den Aufbau des postfordistischen Produktions- und Vergesellschaftungsmodells in Europa. Um sie korrekt zu entschlüsseln, schlage ich vor, sie zugleich als die Weiterentwicklung und als einen Qualitätssprung im Kampfzyklus gegen den postmodernen Kapitalismus zu deuten, der von den Studenten- und den Eisenbahnerbewegungen 1986 eröffnet wurde. Denn die Kämpfe des Pflegepersonals, die Streiks der Peugeot-Arbeiter von 1989, die Blockadeaktionen der Kraftfahrer, die Mobilisierungen der Schulabgänger gegen den CIP [1] im März 1994, die Kämpfe um die Wohnversorgung, die Kämpfe der freien Mitarbeiter im Medienbereich, die Mobilisierungen wegen der Rentenkasse (Mobilisierungen zur Verteidigung des Rechts auf Abtreibung) und die Aufstände der Banlieues verweisen auf eine Vergesellschaftung, eine Neuzusammensetzung des Widerstands und eine Radikalisierung, die zu neuen Kampf- und Organisationsformen führt. Die Mobilisierung gegen den CIP hat alle Illusionen über den privilegierten Status der Studenten und über die reibungslose Integration der Bildung in die Gesellschaft des Wissens und der Information zerstört. Die Kämpfe der Krankenschwestern haben das Problem der Aneignung des Körpers und der Kontrolle der eigenen Krankheit gegen die medizinische und staatliche Macht gesetzt und zugleich das Problem der sexistischen Arbeitsteilung aufgedeckt. Die Verkehrsblockaden der Eisenbahner und der Kraftfahrer haben die Schwächen eines Systems offenbart, das rund um die beschleunigte Rotation von Kapital, Waren und Information organisiert ist. Die Kämpfe der freien Mitarbeiter der Medien haben das Problem der Integration der Kultur in die Informationsökonomie und zugleich das Problem des Einkommens ohne festen Arbeitsplatz auf die Tagesordnung gesetzt.

Jeder dieser Kämpfe in den Jahren seit 1986 ist ein demokratisches Experimentierfeld gewesen, auf dem nicht-hierarchische Organisierungen und Mobilisierungen erprobt wurden und wo jedesmal mehr oder weniger starke Zusammenstöße mit der Logik der Apparate stattfanden. Im Gegensatz zu dem, was uns Politiker und Medien glauben machen wollen, die angesichts der Kämpfe verzweifelt nach einer vermittelnden Kraft suchen, sind die Koordinationsausschüsse deshalb verschwunden, weil sie trimphiert haben. Um nicht noch mehr Macht zu verlieren, mußten sich die Gewerkschaften den horizontalen und demokratischen Organisationsformen beugen. Sie haben sich teilweise der Organisation der Streikenden angepaßt und sind Objekt einer Instrumentalisierung von unten geworden. Es handelt sich also nicht um eine Neulegitimierung der Gewerkschaften, sondern um die Bildung neuer radikal demokratischer, antiautoritärer und antistaatlicher Organisationsansätze.

5. Das neue soziale Subjekt, das da in sehr kurzer Zeit hervorgetreten ist, ist in Wirklichkeit das Produkt eines langen Restrukturierungsprozesses und der Widerstands- und Selbstorganisationsformen der letzten zwanzig Jahre.

Diese Bewegung zeigt nämlich, daß die Transformation der fordistischen Fabrik, der Arbeiterklasse und der Arbeit den »gesellschaftlichen Arbeitstag« nicht verkürzt, sondern im Gegenteil verlängert hat, indem sie alle Arten von Tätigkeit der Logik des Kapitals unterordnete. Die nostalgischen Appelle an eine Arbeiterklasse, die für die Produktion und die Politik nicht mehr die Schlüsselrolle wie früher spielt, dient daher allein dazu, die reale Wirkung der gegenwärtigen Bewegung zu verschleiern.

In den aktuellen Kämpfen artikuliert sich ein neues produktives Subjekt. Es als »Arbeiterklasse« zu bezeichnen, würde nur Verwirrung und Mißverständnisse ohne Ende stiften und in keiner Weise den Prozessen von Subjektkonstitution, die im Gange sind, gerecht werden. Die Organisation der Verwertung und der Ausbeutung bleibt das Kardinalproblem der kapitalistischen Gesellschaft, sie findet aber unter veränderten Formen und Bedingungen statt. Die Ausbeutung schließt die Sektoren der Dienstleistung, des Wissens, der Kommunikation ein und betrifft die Organisation des Lebens insgesamt. Wenn sich die Arbeit außerhalb der Fabrik verändert hat, so hat sie sich auch für »historische« Sektoren der alten Arbeiterklasse verändert (zum Beispiel die Lohnabhängigen der Pariser Verkehrsbetriebe RATP und die Eisenbahner) und die Subjektivität, die sie ausdrücken. War es bis zum Fordismus die Fabrik, die sich die Gesamtheit der sozialen Verhältnisse und ihre Produktivität unterwarf, so ist die kapitalistische Verwertungsmaschine heutzutage abstrakter. Die (radikal veränderte) Fabrik dient ihr nur noch als Knoten, als Agentur ihrer »Produktions«formen. Die Bedeutung, die Sektoren wie das Verkehrswesen, die öffentlichen Dienstleistungen oder die Schule in den Streiks erhalten haben, hat ihre Ursache nicht nur darin, daß die Lohnabhängigen des produktiven beziehungsweise »privaten« Sektors der Erpressung durch die Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind, sondern in der Tatsache, daß die bestreikten Bereiche

6. Die neuen Raum- und Zeitdimensionen der Kämpfe. Der Streik nimmt unmittelbar die Stadt und die Territorium als Organisationsraum. Der Arbeitsplatz wird von Besetzern und Streikposten blockiert, und er funktioniert als »Relais« für die Ausbreitung des Kampfes in der Stadt und dem Umland. Die Mobilisierung ist nicht mehr ausschließlich an den Arbeitsplatz gebunden, wie es in der dominanten Tradition der Arbeiterkämpfe der Fall war. Im allgemeinen gewannen diese erst soziale Tragweite über Stufen der Politisierung, deren Fluchtpunkt der Generalstreik war. In gewisser Weise machen sich die gegenwärtigen Bewegungen die Erfahrungen und das Wissen der Arbeiter im Umgang mit dem ihnen von der Kapitalverwertung vorgesetzten Organisationsraum zunutze, aber in einer sozialen und territorialen Dimension. Während die Arbeiterkämpfe eine Abteilung oder ein Fließband blockierten, um den Streik in der Fabrik zu initiieren, so haben die Blockaden der Verkehrsmittel heutzutage einen Kaskadeneffekt, der sich in der Stadt und darüber hinaus auswirkt. Die wirksamsten Kampfformen (vor allem in der Provinz) waren, wenn der Streik an den strategischen Verkehrsknotenpunkten organisiert war, die Blockaden der Autobahnen und die Massenversammlungen in den städtischen Zentren. Es gibt Kontinuität zur Geschichte der Arbeiterklasse, aber es gibt auch Brüche. Der gegenwärtige Kampf hat die Mobilisierungsformen der Studenten gegen den CIP wieder aufgenommen. Die Demonstration in der Stadt wird zum zentralen Moment der Vergesellschaftung und zur Triebkraft der Neuzusammensetzung. Die Kämpfe gegen den CIP haben die stark territoriale Mobilisierung (in den Groß- und zugleich in den Provinzstädten) der heutigen Streiks vorweggenommen. Die jakobinische Zentralisierung des Staates, die die Klassenbewegungen zwingt, ihn spiegelbildlich dazu zu durchqueren, ist von diesen Streiks stark erschüttert worden. Sie sind nicht ohne historisches Gedächtnis, auch was die Zeiten und Mobilisierungen betrifft, die die Entstehung und Konstitution des Proletariats gekennzeichnet haben. Walter Benjamin erinnert an die Aufständischen der Revolution von 1830, die auf die Uhren der Hauptstadt schossen, um die Zeit anzuhalten.

Das heitere und sinnliche Gefühl der »stillgestellten Zeit« und der Erwartung einer anderen Zeitlichkeit schwebte während des gesamten Streiks über Paris. Der Bruch mit der uniformen Zeit des Kapitals und ihre Aufsprengung haben das neue Koordinatensystem geliefert für die Vervielfältigung von Subjektivitäten.

7. Die Verallgemeinerung der Kämpfe und die Neuzusammensetzung, die tendenziell einen solchen kollektiven Zusammenhang konstituieren, haben augenscheinlich gemacht, daß die traditionellen politischen Organisationen (sowohl der Linken als auch der Rechten) außerhalb der Dynamiken der Kämpfe stehen. Das Organisationsproblem besteht zwar weiter, aber es ist den Konstitutionsprozessen des Gesellschaftskörpers komplett untergeordnet. In diesen Kämpfen, die die Erfahrungen der sozialen Bewegungen von 1968 in sich aufgenommen haben, ist der Zusammenstoß mit dem Staat nicht etwas, was erreicht werden müßte, sondern unmittelbar gegeben. Denn der Staat ist zugleich Unternehmer und Organisator der Macht über das Leben. Die Verallgemeinerung der Bewegung stellt sich also anders und betritt von Beginn an die eigene Konstitution. Dennoch sind viele Fragen offen: Wie kann man kollektive Instrumente von Organisation und Auseinandersetzung schaffen, die die Heterogenität und Vielfalt der Akteure, der Subjekte und der Wünsche zusammenfassen, ohne sie in einer Vermittlung zu nivellieren, die nichts als eine Abstraktion wäre? Wie gelangt man zu Organisations- und Ausdrucksformen die die Spaltungen und die Hierarchisierung aufheben, mit denen der Kapitalismus und der Staat fortwährend der Bildung eines solchen kollektiven Zusammenhangs entgegenwirken? Diese Bewegungen stellen sich das Problem der Macht und der Politik in radikal anderer Weise als die Tradition der Arbeiterbewegung (zumindest in der leninistischen Tradition und allen ihren Varianten, die wie andere Archaismen des 19. Jahrhunderts bis heute überlebt haben). Man kann endlich die Marxsche Auffassung der Politik »neuentdecken«, nach der das Ziel der Organisation nicht darin besteht, Staat zu werden, um die Staatsmacht zu erobern, sondern darin, eine andere gesellschaftliche Konstitution zu verwirklichen.

Die Ursache für den Bruch zwischen Staat, politischen Organisationsformen und Gesellschaft ist nicht ein Kommunikations- und Repräsentationsdefizit, sondern die Existenz von zwei unterschiedlichen Konstitutionsprinzipien, die zwei radikal entgegengesetzte Legitimations- und Existenzweisen haben. Das eine, reich an produktivem Wissen und an Formen der Subjektivität, Materie des neuen, im Widerstand und in der Selbstbehauptung konstituierten neuen Körpers, stellt sich dem leeren Prinzip des Geldes und seiner Formen von Unterwerfung entgegen. Zwischen diesen beiden Prinzipien ist keine Vermittlung mehr möglich, keinesfalls läßt sich ihr Gegensatz noch durch die »Arbeit« überbrücken, die in der Nachkriegszeit den »Pakt« zwischen Gewerkschaften, Unternehmern und Staat sicherstellte.

Ihr werdet sagen, daß ich phantasiere und Dinge erfinde, die es nicht gibt. Aber ich behaupte, wir sind für die Zeittendenzen noch immer blind. Je mehr wir uns der Jahrhundertwende nähern, um so dringlicher wird eine radikale und unversöhnliche Kritik am Kapitalismus, an seinen Unternehmern und seinem Staat. Der Fall der Mauer hat die neuen Formen des Klassenkampfs nur beschleunigt, indem er uns von den grotesken, lächerlichen und repressiven Bildern des »Sowjetkommunismus« befreit hat. Dieses Gespenst ist lange genug in Europa umgegangen. Heute müssen wir uns die Hypothese von der Aktualität eines vollen und mächtigen Zusammenhangs zu eigen machen, einer gesellschaftlichen Konstitution, die in der Lage ist, die Vorgeschichte der Menschheit zu beenden.

Das bedeutet das Ende der Täuschung, daß sich die Humanität diesseits der anachronistischen Trennung des Menschen vom Arbeiter und Staatsbürger verwirklichen lasse.


Fußnoten:

[1] Vertrag zur beruflichen Wiedereingliederung. Der CIP hätte den Betrieben erlaubt, junge Leute mit einem Anfangslohn einzustellen, der nur 80 Prozent des SMIC (gesetzlich festgelegter nationaler Mindestlohn) hätte betragen müssen. Zu den Kämpfen gegen den CIP vgl. Wildcat-Zirkular 3.


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