Wildcat-Zirkular Nr. 36/37 - April 1997 - S. 29-36 [z36renau.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 36/37] [Ausgaben] [Artikel]

Renault-Vilvorde

Ende Februar '97 kündigte Renault an, die Fabrik im belgischen Vilvorde mit 3 100 ArbeiterInnen im Juli diesen Jahres zu schließen. Die Aktienkurse des Unternehmens, das 1996 erstmals seit langer Zeit Verluste gemacht hat, schnellten daraufhin innerhalb von zwei Tagen um 15 Prozent in die Höhe. Es kam aber auch sofort zu Demonstrationen, und die ArbeiterInnen in Vilvorde traten in den Streik, besetzten die Fabrik und drohten, den Abtransport fertiger Autos oder irgendwelcher Maschinerie zu verhindern. Anfang März gab Renault auch für die französischen Fabriken Pläne zum Personalabbau bekannt. An Demonstrationen in Belgien und in Frankreich beteiligten sich auch ArbeiterInnen aus dem jeweils anderen Land und einigen anderen Renault-Standorten.

Den letzten heftigen Zusammenstoß gab es am Freitag, den 4. April, als etwa tausend Renault-ArbeiterInnen in Brüssel vor dem Gebäude der flämischen Regierung demonstrierten und die Polizei Wasserwerfer gegen die ArbeiterInnen einsetzte. Die Situation hatte sich auch dadurch zugespitzt, daß einerseits Renault angekündigt hatte, Vilvorde werde schon früher geschlossen, falls der Streik nicht beendet würde. Andererseits hatten am Freitag Gerichte in Brüssel und in Nanterre Renault die Schließung untersagt, solange kein Sozialplan ausgehandelt sei.

Das folgende Flugblatt wurde von französischen und belgischen GenossInnen der Gruppe Mouvement Communiste vor einigen Renaultwerken (Flins, Choisy-le-Roi, Douai - in Vilvorde auch innerhalb der Fabrik) und bei den entsprechenden Demonstrationen (gegen die Umstrukturierungspläne des Konzerns) z.B. in Brüssel verteilt.

Nach vielen Diskussionen mit ArbeiterInnen haben sie den Eindruck, daß die Kontrolle der Gewerkschaften über die Aktionen sehr ausgeprägt ist. Ein kleiner Kern von ungefähr 100 recht jungen ArbeiterInnen ist in Vilvorde eigenständig aktiv, aber es gibt dort auch ArbeiterInnen, die angesichts der Schließungsdrohung von sich aus Lohnsenkungen ins Gespräch gebracht haben. Solche hilflosen Versuche hat es in der BRD in den letzten Jahren auch gegeben (z.B. beim Hagener Batteriehersteller Varta mit 1.600 ArbeiterInnen, s. Zirkular 19, S. 8ff), und die Unternehmer haben solche Geschenke immer gerne mitgenommen. Geändert hat das nie etwas.

Wir haben das Flugblatt übersetzt und zum besseren Verständnis mit einigen erläuternden Fußnoten versehen.


Die ArbeiterInnen von Renault-Vilvorde müssen zum kompromißlosen Kampf übergehen, um ihre Löhne zu retten

Die Renault-ArbeiterInnen der französischen, spanischen und slowenischen Fabriken müssen sich mit den ArbeiterInnen von Vilvorde im Kampf zusammenschließen. Andernfalls werden sie ihre Niederlage mit mehr Ausbeutung und Flexibilisierung, mehr Dreistigkeit der Vorgesetzten, weniger Lohn und - früher oder später - mit noch weniger Arbeitsplätzen und weiteren Fabrikschließungen bezahlen.

Soviel ist klar, der Unternehmer geht konsequent vor: die ArbeiterInnen sollen die Krise bezahlen.

In den letzten zehn Jahren wurden ständig Gewinne gemacht und in diesem Zeitraum vierzig Milliarden französische Francs [1] akkumuliert. Jede Menge »sozialer« Vereinbarungen wurden von den Gewerkschaften bereitwillig unterschrieben oder kampflos gebilligt - Werkstatt für Werkstatt, Fabrik für Fabrik, Land für Land. Sie alle hatten das Ziel, die Pausen zu kürzen, die Taktzeiten zu erhöhen, den 8-Stunden-Tag kaputtzumachen, die Einzel- und Gruppen-Produktivität zu steigern, die Löhne einzufrieren, die Jugendlichen zu Niedriglöhnen und mit Zeitverträgen anzuheuern, die Flexibilisierung der Schichtarbeit voranzutreiben usw. - um dann beim ersten Einbruch der Verkaufszahlen den ArbeiterInnen eins überzubraten. Die von Entlassung bedrohten ArbeiterInnen können sich das nicht gefallen lassen. Das ist klar ...

Die Geschäftsleitung von Renault hat jetzt Angst davor, daß die ArbeiterInnen auf angemessene Weise reagieren könnten. Sie heult und beteuert, es sei das beste, die ganze Wahrheit ungeschminkt auf den Tisch zu legen, ohne irgendetwas zu verheimlichen.

Sie informiert uns darüber, daß die Renault-Gruppe 1996 starke Verluste gemacht hat (in der Größenordnung von vier bis fünf Milliarden französischen Francs). Allerdings erklärt sie uns lieber nicht, daß über die Hälfte dieser Verluste - übrigens die ersten seit 1985 - erst durch den »Restrukturierungsplan« für Vilvorde entstanden sind. Sie vergißt auch zu erwähnen, daß ihr die Idee zur Schließung der Fabrik in Vilvorde seit mindestens zwei Jahren im Kopf herumschwirrt (und daß die französischen und belgischen Gewerkschaften bei Renault darüber informiert waren ...). Und ebenso wird sie sich davor hüten bekanntzugeben, daß die französische und belgische Regierung über die ganze Geschichte spätestens seit Anfang des Jahres auf dem Laufenden waren. Sie verheimlicht uns auch den wahren Grund dafür, warum Herr Carlos Ghosn im Juli 1996 in der Fabrik auftauchte: die aktuelle Nummer Zwei bei Renault ist Spezialist für Umstrukturierungen (lies: Fabrikschließungen und »Sozial«-Pläne aller Art) und hatte diesen beneidenswerten Schlächterposten früher bei Michelin inne.

Jetzt kommen die Schakale: alle Welt lobt die ArbeiterInnen von Vilvorde - und versteht die Geschäftsleitung von Renault ...

Die Presse der Unternehmer, der Gewerkschaften und der Regierung auf beiden Seiten der französisch-belgischen Grenze vergießt Krokodilstränen. Jeder gibt seinen Senf zu diesen tüchtigen ArbeiterInnen, deren frühere Qualitäten heute eine unerträgliche Last für das Unternehmen geworden seien, das sich in Schwierigkeiten befindet. Tatsächlich lagen die ArbeiterInnen von Vilvorde in jeder Hinsicht vorne: bei der Qualität, der Flexibilität, der Zahl von produzierten Autos pro ArbeiterIn und der Zurückhaltung bei den Löhnen. Darüberhinaus befinden sie sich auch noch am richtigen Ende der Alterspyramide.

Ist die Schließung von Vilvorde also eine anti-belgische Attacke des französischen Staates? Oder eine unglückliche Notwendigkeit angesichts der Krise? Oder sogar eine der zahlreichen unseligen Effekte des ewigen Sündenbocks »Globalisierung«?

Diese Herren lügen Euch an!

Der wahre Grund für die Schließung von Vilvorde ist so simpel, daß keiner der Herren daran interessiert ist, ihn den ArbeiterInnen gegenüber auszusprechen. Vilvorde muß geschlossen werden, weil der Kapitalismus die ArbeiterInnen immer für seine Überproduktion (gemessen an der zahlungsfähigen Nachfrage) bezahlen läßt.

Alle Zugeständnisse der ArbeiterInnen an die Logik des Unternehmens, an seine Regeln und Erfordernisse bringen nicht viel, denn das Kapital schafft es nicht mehr, sich in einem gleichmäßigen Rhythmus auszudehnen. Die Zugeständnisse bringen den ArbeiterInnen noch weniger, wenn das Kapital nicht mehr wächst oder schlimmer noch, sich verringert. Die ArbeiterInnen von Vilvorde hatten in den Augen des Unternehmers viele Qualitäten, als es darum ging, immer mehr in immer kürzerer Zeit zu produzieren. Aber da der Markt jetzt nicht mehr mithalten kann, zählen nur noch die relativ höheren Lohnkosten und rechtfertigen den Rausschmiß der ArbeiterInnen.

Heute ist Vilvorde dran, aber es gibt schon Gerüchte, daß morgen dasselbe Schicksal die Fabriken in Choisy-le-Roi (Vorort von Paris), Dieppe, Batilly oder vielleicht auch Sandouville treffen könnte ... Und im gesamten westeuropäischen Automobilsektor stehen außerdem schon Volkswagen-Forest in Brüssel, Ford-Halewood und Peugeot-Ryton in England oder sogar Peugeot-Villaverde in Spanien auf der Abschußliste.

In der Zwischenzeit werden weitere kleine oder große »Sozial«-Pläne abgeschlossen, wie der für die französischen Renaultfabriken, dem 2700 bis 3800 Arbeitsplätze zum Opfer fallen werden; oder der Personalabbau in den spanischen Niederlassungen.

Wenn es sich in Wirklichkeit so verhält, dann drängen sich einige Überlegungen auf:

Dieselben Unternehmer - dieselben Kämpfe, auf beiden Seiten der Grenze

Ein paar Ideen, wie der Kampf geführt werden müßte:

Nur ein kompromißloser Kampf auf der Grundlage proletarischer Selbstorganisation zahlt sich aus!

7. März 1997, Mouvement Communiste
(Alle Zuschriften, ohne weiteren Vermerk, an:
B.P. 1666, Centre Monnai, 1000 Bruxelles 1, Belgique)


Fußnoten:

[1] 100 französische Francs sind ungefähr 30 DM.

[2] Für belgische Verhältnisse ist dieser hohe Organisationsgrad nichts besonderes. Da die Gewerkschaften in Belgien stark in die Sozialversicherungen eingebunden sind (z.B. zahlen sie das Arbeitslosengeld aus), besteht ein hoher Organisierungsanreiz. (Genaueres dazu im Artikel zu den Streiks bei VW-Forest in der Wildcat 63/64).

[3] Das bedeutet also eine Anhebung der wöchentlichen Flexibilität der Arbeitszeit von 32-40 Stunden auf 27-45 Stunden!

[4] Schweitzer kriegt inzwischen Druck von den französischen Konservativen, weil er mit seiner abrupten Schließungsankündigung die »Würde seiner Angestellten« nicht »respektiert« habe, sprich: es wäre besser gewesen, behutsamer vorzugehen, um die ArbeiterInnen nicht zu provozieren - die letzten großen Streiks der Eisenbahner, im öffentlichen Dienst und der Fernfahrer stecken der französischen Regierung wohl noch in den Knochen...

[5] Unter den französischen Premierministern Balladur und Juppé gab es beim Kauf eines Neuwagens eine Staatsprämie für die Verschrottung des alten.

[6] Siehe dazu die Kritik an den protektionistischen Parolen von Kommunisten und Sozialisten in Frankreich bei Charles Reeve, Sturmwarnung, in: Wildcat-Zirkular Nr. 25.

[7] Im Staatsbesitz befindliches Stahlwerk in Südbelgien, das gerade geschlossen wird. Die Europäische Kommission hat weitere Subventionen abgelehnt. Am 28. Februar blockierten Arbeiter des Werks die Autobahn Brüssel-Paris und griffen die Bullen mit Planierraupen u.ä. an. Schöne Bilder ...

[8] Mittlerweile berichtete die Presse, daß die Verkäufe von Renault in Belgien im März um 20 Prozent zurückgegangen seien.

[9] Am 21. März haben z.B. ArbeiterInnen in Frankreich ein Auslieferungslager mit fertigen Renaults gestürmt und die Autos teilweise zerstört.


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] Zirkular: [Nr. 36/37] [Ausgaben] [Artikel]