Wildcat-Zirkular Nr. 39 - September 1997 - S. 27-30 [z39hollo.htm]


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Kommentar zu Joachim Hirsch: »Globalización, Capital y Estado«

John Holloway [1]

1. Ich bin seit über 20 Jahren ein Freund, Bewunderer und Kritiker von Joachim Hirsch. Ich muß wohl also kaum sagen, wie wichtig die Veröffentlichung dieses Buchs, des ersten Buchs von Hirsch auf spanisch ist. Ich gratuliere Gerardo Avalos zu seiner Herausgabe, die ihm sehr gut gelungen ist. Hirsch spielt eine extrem wichtige Rolle in der Entwicklung der Staatstheorie und in der Diskussion über die gegenwärtige Entwicklung des Weltkapitalismus, und die Übersetzung seiner Werke ins Spanische war sehr notwendig.

2. Ich will da anfangen, wo Gerardo Avalos sein Vorwort beginnt. Einleitend bemerkt er, wie wichtig Hirschs Arbeit in einer Welt ist, der es an Kritik mangelt, wobei er unter Kritik versteht, daß »Erscheinungen dem Gericht der Vernunft unterzogen werden, um ihr Wesen und deren Erscheinungsformen auszuloten« (9).

Wenn Kritik in diesem Sinne verstanden wird, dann ist klar, warum Hirschs Buch so wichtig ist. Er analysiert und synthetisiert mit der ihm eigenen Klarheit die gegenwärtigen Trends der kapitalistischen Entwicklung und ihre politischen Konsequenzen: die Globalisierung des Kapitalismus, die sich aus diesem Prozeß ergebenden Folgen für die Nationalstaaten, ihre Verwandlung in von ihm so genannte »nationale Wettbewerbsstaaten«, die zu äußersten Anstrengungen gezwungen sind, um Kapital in ihre Grenzen zu locken und es dort zu halten, die autoritären Folgen dieser Entwicklung und die daraus folgende »Aushöhlung« der Demokratie. All das wird überzeugend und klar dargestellt.

Bei aller Klarheit ist diese Darstellung problematisch. Zwar wird betont (93), daß die Globalisierung ganz und gar kein erfolgreiches und abgeschlossenes Projekt, sondern ein Projekt mit ungewissem Ausgang ist, aber es wird überhaupt nicht gefragt, worin seine Zerbrechlichkeit bestehen könnte. Zwar wird die Globalisierung als Strategie zur Lösung der Krise des Fordismus dargestellt, aber es wird nicht gefragt, worin diese Krise besteht. Zwar ist die massive Verwandlung von Produktivkapital in Geldkapital mit Sicherheit einer der wichtigsten Aspekte der sogenannten Globalisierung des Kapitals, aber das wird nirgendwo erwähnt. Die Zunahme der internationalen Bewegung des Geldes wird als Ergebnis einer bewußten Entscheidung der Nationalstaaten beschrieben (97), aber ohne daß irgendein Versuch gemacht würde, die Bedeutung des Geldes theoretisch zu begreifen. Der Staat wird in Hirschs Arbeit zwar allgemein aus dem Kapitalverhältnis abgeleitet, aber hier erscheint er eher als Staat, der das Kapital kontrolliert, denn als Moment des Kapitals. Die Frage der Überwindung des Kapitalismus wird zwar immer noch als sinnvoll betrachtet (128), aber als Weg nach vorn wird ein »radikaler Reformismus« gesehen, ein Kampf für Demokratie - für eine Demokratie jenseits von staatlichen institutionellen Strukturen, die aber die Frage nach dem Fortbestand des Kapitalismus offen läßt. Und so weiter. [2]

Alle diese besonderen Probleme weisen m.E. auf ein tieferliegendes Problem hin, das mit dem Thema zusammenhängt, das Gerardo im Vorwort zu dem Buch anspricht - die Frage der Kritik.

3. Gerardo verweist auf die Bedeutung der Kritik als Urteil oder Verurteilung - daß »Erscheinungen dem Gericht der Vernunft unterzogen werden«. Sie läßt sich aber auch anders verstehen: als Einführung des Subjekts in das Objekt, als zerstörerische, subversive, freudige Unterwanderung des Objekts (dessen was außerhalb unserer selbst steht) durch das Subjekt (durch uns selbst).

In diesem zweiten Sinne benutzte Marx den Begriff »Kritik«. So stellt er in der Einführung in die Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosophie klar, daß die Kritik der Religion nicht in der Verurteilung der Religion oder einem Urteil über sie besteht, sondern im Begreifen, daß die Menschen Gott schaffen, daß das, was scheinbar außerhalb unserer selbst und über uns steht, nämlich Gott, unsere Schöpfung ist. Durch diese Kritik hört die Kategorie Gott nicht auf zu bestehen, aber in ihr wird eine Bombe gelegt. Wir verstehen, daß in der Kategorie Gott das Subjekt verborgen ist: der Schöpfer und mögliche Zerstörer Gottes, wir selbst, die Menschheit. Jetzt begreifen wir Gott, der ewig schien, als zerbrechlich und instabil. Sobald sie kritisiert ist, wird die Kategorie ein Vulkan [3]: außen ist sie ruhig, aber in ihr schlummert die Möglichkeit einer Explosion; äußerlich ist sie ein Objekt, aber ihre Existenz hängt völlig vom schöpferisch-zerstörerischen Subjekt ab, von uns.

So ist es auch mit der Marx'schen Kritik des Werts, des Geldes und des Kapitals. Die Kritik besteht nicht darin, das Kapital zu verurteilen (es dem Gericht der Vernunft zu unterwerfen), sondern darin, zu verstehen, daß der Wert (und daher das Geld und das Kapital) von der menschlichen Arbeit konstituiert werden. Scheinbar herrscht der Wert/das Geld/das Kapital (der Gott der kapitalistischen Gesellschaft), aber er ist vollkommen abhängig von seiner Schöpferin und möglichen Zerstörerin, der menschlichen Kreativität - der kreativen Menschheit. Das Kapital existiert natürlich weiter, aber jetzt begreifen wir, daß es nicht ewig ist, wie es erschien, sondern daß seine Existenz selbst instabil, zerbrechlich, vulkanisch ist und daß wir das schöpferisch-zerstörerische Feuer sind, daß in seinem Innern brennt. Genau um diese vulkanische Spannung zwischen dem Kapital, das herrscht, und der menschlichen Arbeit, von der es dennoch abhängt, geht es im Kapital.

Kritik heißt, daß die Kategorien selbst explosiv sind, daß sie Vorstellungen eines eingedämmten, aber nicht eindämmbaren Widerspruchs sind, daß die Identität die vulkanische Hülle der Nicht-Identität ist. Die Kategorien sind explosiv, weil wir uns in ihrem Innersten befinden. Das Kapital ist explosiv (und gewalttätig), weil wir die subversive, chaotische Kraft in seinem Innersten sind. Kritik - die Aussage, daß das Objekt vom Subjekt geschaffen ist - bedeutet nicht die Verurteilung des Objekts sondern eine Hymne auf die Macht des Subjekts, selbst wenn das Subjekt gefangen, eingesperrt und entfremdet ist. Unsere Hoffnung liegt in der schöpferischen (und daher zerstörerischen) Macht des Subjekts, der Arbeit. Die Möglichkeit, realistisch über eine Welt nachzudenken, in der es keine Käfige gibt, liegt im Wissen, daß wir selbst unseren Käfig schaffen und ständig neu erschaffen.

4. Was hat das mit Hirsch zu tun? In diesem zweiten Sinne, im marxistischen Sinne ist Hirschs Theorie nicht kritisch. Bei Hirsch gibt es kein schöpferisch-zerstörerisches Subjekt und daher auch keine explosive Kraft im Innersten des Kapitalismus. Seine Kategorien sind nicht vulkanisch, sein Kapitalismus ist stabil. Das Kapital ist das Subjekt seiner Welt, aber kein Kapital, dessen Existenz, dessen Produktion und Reproduktion von der Arbeit (der menschlichen Kreativität) abhängt, kein Kapital, dessen Ordnung ständig von der chaotischen Anwesenheit des Subjekts in seinem Innersten unterwandert wird. Die Arbeit (die menschliche Kreativität) erscheint (falls sie überhaupt erscheint) nur als etwas, was außerhalb der alles einhegenden Bewegung des Kapitals stattfindet, nicht als unermüdliche Aufsässigkeit, die das Kapital überhaupt erst in Bewegung bringt, nicht als Widerspruch, der bedeutet, daß die Existenz des Kapitals in permanenter Flucht besteht.

Daher hat das Kapital bei Hirsch alles unter Kontrolle. Daher erscheint die Globalisierung als bewußte Strategie und nicht als brutale und verzweifelte Flucht. Daher wird die Unkontrollierbarkeit des Geldes verschwiegen. Daher werden die Verwandlung von Produktivkapital in Geldkapital und die enorme Ausweitung des Kredits - beides klare Anzeichen für die Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeit - nicht erwähnt. Daher beschränkt sich die politische Perspektive letztenendes auf die Fortsetzung des postfordistischen Kapitalismus.

Wenn man nicht vom Kapital als (verurteiltem, aber nicht kritisierten) Subjekt des Kapitalismus ausgeht, sondern von einem kritischen Begriff des Kapitals als einem gesellschaftlichen Verhältnis, das von der Arbeit produziert ist und von ihr abhängt, dann erscheint die Globalisierung in einem anderen Licht. Im Kern ist die sogenannte Globalisierung die brutale, aber verzweifelte Flucht des Kapitals vor der Arbeit, der brutale, aber verzweifelte Kampf des Kapitals, die Unterwerfung der Arbeit neu zu strukturieren und neu durchzusetzen. Die Krise des Kapitalismus (die Hirsch als Krise des Fordismus bezeichnet) ist die Krise der Fähigkeit des Kapitals, die Arbeit ausreichend zu unterwerfen, um die Profite herzustellen, die das Kapital zu seiner Reproduktion braucht. Angesichts dieser Krise besteht die Lösung des Kapitals nicht darin, sich hinzusetzen und sich eine Globalisierungsstrategie auszudenken, wie Hirsch meint. Seine Reaktion ist weitaus weniger würdevoll und weitaus effektiver: Es flieht. Die typische Waffe des Kapitals ist nicht die Verschwörung, sondern die unkoordinierte Flucht. Angesichts der Schwierigkeit, Profite durch die produktive Ausbeutung der Arbeit zu erzielen, verwandelt sich das Kapital in Geld und zieht durch die Welt auf der Suche nach neuen Ausbeutungsmethoden und neuen Menschen, die es ausbeuten kann. Die Gewalt dieser Flucht haben wir Bewohner Mexikos in den letzten zweieinhalb Jahren alle intensiv miterlebt. Sie ist gewalttätig, aber trotzdem eine Flucht. Das massenhafte Bestehen von Kapital als Geld in Bewegung läßt sich nur als Flucht vor der Unfähigkeit des Kapitals verstehen, die Arbeit so weit unterzuordnen, daß sie den Mehrwert produziert, den es braucht, trotz aller sehr realer Umstrukturierung des Arbeitsprozesses in den letzten paar Jahren.

Die »Globalisierung« ist ein gewalttätiger Angriff des Kapitals auf die Arbeit, auf die Menschen dieser Welt, aber sie ist keine bewußte, kontrollierte Strategie, und sie ist viel instabiler, als Hirsch meint. Wir sind diese Instabilität: unsere Aufsässigkeit, unser Kampf darum, Menschen zu sein, unser Kampf um Würde. Eben weil die gegenwärtige Phase (und nicht nur »Strategie«) des Kapitalismus so gewalttätig und so instabil ist, und weil wir die treibende Kraft dieser Instabilität sind, müssen wir nicht nur eine Politik innerhalb des und gegen den Kapitalismus machen, sondern eine Politik, die über den Kapitalismus hinausweist, keine Politik des radikalen Reformismus, sondern eine Politik der Würde.


Fußnoten:

[1] Dieser Text ist eine Rede, die ich im Zusammenhang mit der Vorstellung von Hirschs Buch in Mexico-Stadt am 30. Mai 1997 gehalten habe. Hirschs Buch vereinigt eine Sammlung seiner neuesten Aufsätze mit einem Kurs, den er im Dezember 1995 an der UAM-Xochimilco in Mexico-Stadt gegeben hat. Dies ist das erste Buch mit Schriften von ihm auf spanisch: Joachim Hirsch: Globalización, Capital y Estado, Edicion y Prólogo de Gerardo Avalos Tenorio, Mexico-Stadt: UAM-Xochimilco, 1996.

[2] Dieser Kommentar verdankt einem unveröffentlichten Artikel von Werner Bonefeld viel: »Postfordismus, Globalisierung und die Zukunft der Demokratie: Zu Joachim Hirschs 'Der nationale Wettbewerbsstaat« [siehe die vorstehende Übersetzung dieses Beitrags, Anm.d.Ü.].

[3] Wir Einwohner von Puebla sind von Vulkanen besessen. Seit die Zapatisten am 19. Dezember 1994 die mexikanische Armee ausmanövrierten, ohne einen einzigen Schuß abzugeben, stößt der Popocatepetl Rauch und Asche aus, und wir leben mit der ständigen Möglichkeit eines Ausbruchs - in der Natur und in der Gesellschaft.


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