Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 - Februar 1999 - S. 19-20 [z46exist.htm]


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Can't buy me love ...

Seit der Mobilisierung der Arbeitslosen in Frankreich im Winter 1997/98 stellen sich auch hier wieder mehr Leute aus dem linken Spektrum die Frage, wie sich aus Arbeitslosigkeit, Verarmung und verschärfter Ausbeutung heraus eine Bewegung gegen das kapitalistische System entwickeln kann. Im Frühjahr 1998 gelang es einer bis dahin recht unbekannten »gewerkschaftlichen Koordinierungsstelle« für Arbeitslosengruppen, monatliche Aktionen vor den Arbeitsämtern anzukurbeln. Einige linksradikale Gruppen beteiligten sich an solchen Aktionen und versuchten, sie zu radikalisieren. Denen wurde schnell deutlich, daß es keine Bewegung von unten war, sondern medienwirksame Aktionen, die meist nur einen kleinen Kreis der haupt- und ehrenamtlichen Träger von Arbeitslosengruppen und Gewerkschaftsgruppen vor den Arbeitsämtern zusammenbrachte. Als das eigentliche Ziel der Kampagne, nämlich die Sozialdemokratie wieder an die Macht zu bringen, erreicht war, wurde sie in gleicher Weise von oben ausgeknipst, wie sie zuvor eingeschaltet worden war.

Aber war es in Frankreich nicht gelungen, Arbeitslose und Prekäre zu mobilisieren? Sollte das über geeignete Forderungen nicht auch hier möglich sein? Um diese Fragen kreisen seitdem eine Reihe von linken Diskussionen, Treffen und Kongressen. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Forderungen: Ein garantiertes Mindesteinkommen (hierzulande meistens als »Existenzgeld« bezeichnet) und eine weitere Arbeitszeitverkürzung. Auch im »Bündnis für Arbeit« (»und Wettbewerbsfähigkeit«!) der rot-grünen Regierung werden diese Forderungen eine wichtige Rolle spielen.

Die linken und teilweise »antikapitalistisch« orientierten Gruppen diskutieren die Forderungen unter verschiedenen Gesichtspunkten: als taktische Mittel für die Massenmobilisierung; als Übergangsforderungen, die über die aktuelle Gesellschaft hinausweisen; als materielle Verbesserungen, mit denen die Voraussetzungen für neue Kämpfe geschaffen werden; oder schlicht als Wohlfahrt für die Armen. Es geht also nicht nur um die Forderungen, sondern auch um unser Verständnis vom Staat, von seiner besonderen Ausprägung als Sozialstaat, um den Charakter dieser Gesellschaft und nicht zuletzt um die Frage nach unserer Rolle.

In den achtziger Jahren haben wir uns schon einige Male mit der Forderung nach einem Existenzgeld und den Illusionen der tariflichen Arbeitszeitverkürzung auseinandergesetzt und dabei den grundlegenden Zusammenhang von sozialstaatlicher Sicherung und Reproduktion der kapitalistischen Klassenverhältnisse herausgearbeitet. Durch die weiter gestiegene Arbeitslosigkeit und die Umstrukturierung der Produktion haben sich die materiellen Hintergründe der Debatte verändert, was in der Betonung der sogenannten »Prekarisierung« auf dem Arbeitsmarkt anklingt, aber kaum ernsthaft untersucht wird. Seither hat sich aber auch der theoretische Kontext verschoben. Anfang der 80er Jahre ging es in der Debatte zumindest teilweise noch um den Versuch einer revolutionärer Theoriebildung (z.B. in der Zeitschrift »Autonomie/Neue Folge«). Die riots in britischen und französischen Vorstädten und die gegen die Spardiktate des IWF gerichteten Brotrevolten in Afrika oder Lateinamerika hielten die Idee einer globalen Revolution am Leben. Heute lastet der »Endsieg« des Kapitalismus nach 1989 schwer auf allen theoretischen Anstrengungen. Das linke Denken flüchtete zur französischen Regulationsschule, die mit dem Zauberwort »Postfordismus« schon zu wissen meint, wohin die weitere Reise des unüberwindbaren Kapitalismus geht. Und philosophisch untermauert wurden die bescheiden gewordenen Denkversuche mit den Theoremen der Postmoderne, die mit ihrer allumfassenden »Dekonstruktion« sozialer Wirklichkeit nur noch »Ambivalenzen« entdecken können. Irgendwie ist alles falsch und alles richtig - Hauptsache, wir lassen uns nicht festlegen.

Die bisherigen Beiträge zur neuen Debatte um Existenzgeld und Sozialstaat und die unterschiedlichen, daran beteiligten Gruppen lassen sich aber nicht über einen Kamm scheren. Das Spektrum reicht von Politiker spielenden Studenten, die nicht zu unrecht schon als die Jusos der 90er Jahre bezeichnet worden sind, bis hin zu Gruppen junger Militanter, die sich die Frage stellen, wie sich hier revolutionäre Bewegungen entwickeln können. Wir drucken daher im folgenden drei Beiträge zu der Debatte aus unseren eigenen Reihen ab, die sich auf verschiedenen Ebenen bewegen: das erste ist eine kurze Polemik, die sich fragt, was hinter der gedankenlosen Art einer Konferenzvorbereitung steckt; der zweite Text arbeitet den Zusammenhang zwischen Existenzgeldforderung und einer bestimmten Sichtweise der Gesellschaft als Summe vereinzelter Individuen heraus; der dritte schließt an unsere Auseinandersetzung mit der Gruppe Blauer Montag im Wildcat-Zirkular Nr. 40/41 an und zeichnet weitere Stationen eines bedauerlichen Zerfalls nach.


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