Wildcat-Zirkular Nr. 48/49 - März 1999 - S. 11-25 [z48sozst.htm]


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Die Perspektiven des Klassenkampfs liegen jenseits einer Reform des Sozialstaats

Seit der Weltwirtschaftskrise Anfang der 90er Jahre hat sich in den Industrieländern ein Konsens über den »Umbau des Sozialstaats« herausgebildet. Sämtliche bürgerlichen Parteien, Soziologen, Gewerkschaften, Unternehmer, aber auch Teile des linksradikalen Spektrums schlagen eine soziale Grundsicherung vor, deren Leistungen nicht mehr von lebenslanger Lohnarbeit abhängig sind. Während die einen damit mehr schlechtbezahlte und prekäre Arbeit durchsetzen wollen, sehen die Linken im Existenzgeld die Abkehr von der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft. Garantiertes Einkommen und Arbeitszeitverkürzung stehen im Mittelpunkt einer neuen Mobilisierung auf westeuropäischer Ebene. Entwickelt die Linke damit einen revolutionären Bezug auf die neuen Klassenverhältnisse - oder begibt sie sich in den Sog der sozialdemokratischen Wahlerfolge und beschafft den neuen Regierungen eine kritische Legitimation von links?

Nach einem Rückblick auf die bisherige Diskussion (1) wollen wir kurz die tatsächlichen Veränderungen (2) in den Klassenverhältnissen skizzieren, die die materielle Basis für den Umbau des Sozialstaats (3) bilden. Im Anschluß daran sollen die Illusionen über den Sozialstaat (4) kritisiert werden, mit denen die Linke diese Entwicklungen interpretiert, und (5) das Politikverständnis ihrer neuen Kampagne hinterfragt werden.

1. Wo stehen wir in der Diskussion heute?

In der BRD wird die Debatte um einen anderen Sozialstaat und neue Klassenverhältnisse (»neue Armut«, »Ende der Arbeitsgesellschaft«) seit Anfang der 80er Jahre geführt. Mit der ersten tiefen Nachkriegskrise 1974/75 war die Arbeitslosigkeit auf Millionenhöhe gestiegen. Zunächst schien es sich um ein konjunkturelles Phänomen zu handeln. Aber in der Krise 1980/82 stieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen dauerhaft auf zwei Millionen an. Es wurde klar, daß der Vollbeschäftigungskapitalismus zu Ende war, das Wort von der »strukturellen Arbeitslosigkeit« machte die Runde. Linksradikale Kräfte sahen in der sogenannten »postindustriellen Massenarmut« den Ansatzpunkt für neue revolutionäre Konzepte. Die Zahl der vom Kapital noch ausgebeuteten Menschen schien sich im freien Fall zu befinden und der Arbeitsgesellschaft über kurz oder lang »die Arbeit auszugehen« - was leider nicht der Fall war. Gleichzeitig wurde der »Abschied vom Proletariat« verkündet [1] und die sozialrechtliche Kategorie »arbeitslos« zu einer neuen politischen Figur stilisiert. Auf den Treffen für eine westdeutsche Arbeitslosenbewegung Anfang der 80er Jahre versuchten linke Kräfte, sich mit der Existenzgeldforderung von der Parole »Arbeit für alle« abzusetzen, um an ihrer Kritik der kapitalistischen Lohnarbeit festzuhalten. Mit dem Abschied vom Proletariat war ihnen aber das gesellschaftliche Subjekt einer Umwälzung abhandengekommen. So blieb nur die Möglichkeit, stellvertretend für die »Arbeitslosen« eine Forderung an den Staat zu stellen. [2] Die erhoffte Arbeitslosenbewegung blieb aus.

Ab Mitte der 80er Jahre setzte ein regelrechter Beschäftigungsboom ein. Die meisten Arbeitslosengruppen existierten nur dank Professionalisierung und Institutionalisierung am Gängelband von Staatsknete und ABM-Stellen weiter. [3] Für Linksradikale und Autonome wurden die Fragen von Arbeitslosigkeit und Ausbeutung uninteressant, der Staat hoffte auf eine Krisenlösung durch den neuen Boom. Aber mit der Krise '92/93 beschleunigten sich die Veränderungen in den Ausbeutungsbeziehungen und in der Zusammensetzung von Arbeitslosigkeit und prekären Ausbeutungsformen. Der Kapitalismus wurde immer offensichtlicher als Klassengesellschaft greifbar, in der sich Proletarier und Kapitalbesitzer gegenüberstehen. 1993 lösten die Thesen zur »Wiederkehr der Proletarität« eine Diskussion über neue revolutionäre Chancen dieser Situation aus. [4] Aber die Mehrheit der Linken unterwarf sich in ihren theoretischen und praktischen Anstrengungen dem Siegerlächeln des Kapitalismus. In Theorien über »Postfordismus« und »Globalisierung« entwickelte sie ihre eigene Variante vom »Ende der Geschichte« und verabschiedete sich von der Revolution (Hirsch, Altvater usw.).

Beflügelt durch Bewegungen in Frankreich, beängstigt durch neofaschistische Mobilisierungen an der »sozialen Frage« hat auch die radikale Linke seit ein, zwei Jahren den Klassencharakter der Gesellschaft wieder zum Thema gemacht. Die Rückkehr der westeuropäischen Sozialdemokratie an die Macht weist darauf hin, daß auch das Kapital nach neuen Vermittlungsformen sucht. In Abwendung vom »Neoliberalismus« wird national wie international über neue Regulierungsformen nachgedacht (von der Tobin-Steuer bis zu neuen Sozialstaatsmodellen). In diesem Fahrwasser schwimmt ein Teil derjenigen, die eigentlich den Kapitalismus kritisieren wollten, sich aber aus Verzweiflung oder falschem Realismus als kritisches Stimmchen an der Suche nach neuen Regulierungen beteiligen. Dabei käme es heute auf nichts weniger an, als die Kritik der Verhältnisse so radikal durchzuführen, daß sie der vorhandenen proletarischen Wut angemessen ist. Es würde sich dann zeigen, daß diese Welt schon einen Traum davon besitzt, was an menschlichem Leben jenseits von Staat und Kapital möglich ist.

2. Die neuen Klassenverhältnisse als politische Herausforderung

In Diskussionen über »Arbeitslosigkeit« und »Beschäftigung« wird oft unterstellt, es handele sich bei diesen Kategorien um zwei gesellschaftliche Gruppen: Die einen verfügen über ein regelmäßiges Einkommen, die anderen sind vom Arbeitsmarkt »ausgeschlossen« und müssen vom Staat unterstützt werden. Mit den wirklichen Menschen und ihren Biographien hat dieses Bild wenig zu tun. Viele arbeiten nicht, ohne »arbeitslos« zu sein (Schüler, Rentner usw.), andere sind »arbeitslos« und arbeiten (Schwarzarbeit) oder sind nicht »beschäftigt« und arbeiten doch (Hausarbeit, Erziehung usw.), wieder andere stehen dem Kapital als abrufbare Arbeitskraft im Ausland zur Verfügung und zählen daher nicht als »arbeitslos«. Wie das lebendige Arbeitsvermögen vom Kapital ausgebeutet wird, läßt sich nicht einfach den Statistiken entnehmen. Bei der folgenden Skizzierung der Klassenverhältnisse - wie sie sich in der BRD darstellen - müssen wir diese Einschränkungen im Auge behalten. Die entscheidenden Veränderungen werden wir nur verstehen, wenn wir uns selber einmischen und präsent sind.

Nach dem Krieg sinkt die Arbeitslosenquote erst ab 1961 unter ein Prozent. Als 1975 im Jahresdurchschnitt eine Million Arbeitslose gezählt werden, ist der kurze Traum der Vollbeschäftigung zu Ende. Die moderne Arbeitslosigkeit ist kein dauerhafter Zustand für die einzelnen Proletarier, sondern ein Wechseln zwischen verschiedenen Jobs mit Unterbrechungen. Im Laufe des Jahres 1975 waren insgesamt 4,6 Millionen ArbeiterInnen einmal arbeitslos, allerdings durchschnittlich nur 12 Wochen lang.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus war der Staat gezwungen, den Arbeitslosen ein existenzsicherndes Einkommen zu zahlen, und die Arbeitslosigkeit funktionierte nicht mehr wie früher als lohndrückende industrielle Reservearmee. Das Proletariat entdeckte sehr schnell die angenehmen Seiten. Viele nutzten Arbeitslosengeld oder Umschulungen, um aus der verhaßten Fabrikarbeit herauszukommen. Die revolutionäre Linke propagierte den »glücklichen Arbeitslosen«. Nach der Niederlage der offenen Kämpfe wird die Arbeitslosigkeit zum Auffangbecken - gerade auch für viele der kämpferischen ArbeiterInnen. Die Reallöhne stiegen weiter an und die ersten Experimente zur Umorganisierung der Produktion blieben stecken. Ebensowenig gelingt es, die eingewanderten ArbeiterInnen aus Südeuropa weiterhin als mobile Arbeitskraftreserve zu benutzen. Nach dem Anwerbestopp von 1973 steigt die ausländische Wohnbevölkerung deutlich an.

In der folgenden Krise von 1980 bis 1982 stieg die Arbeitslosigkeit über die Zwei-Millionen-Grenze, die Rotation auf dem Arbeitsmarkt beschleunigte sich. Die Hälfte der wieder in Arbeit vermittelten wurde nach einiger Zeit erneut arbeitslos, d.h. prekäre und unstetige Ausbeutungsformen weiteten sich aus. Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 wurden neue Möglichkeiten für befristete Verträge und Leiharbeit geschafffen. Der Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung wurde zum Einstieg in die Flexibilisierung und Intensivierung der Arbeit. In der finanziellen Absicherung der Arbeitslosen wurde ein Zick-Zack-Kurs gefahren. Als Mitte der 80er Jahre immer mehr Arbeitslose aus dem Leistungsbezug herausfielen, wurden zuvor gekürzte Ansprüche wieder heraufgesetzt.

Von 1985 bis 1992 entstanden drei Millionen neue Jobs. Industrielle und schlecht bezahlte Arbeitsplätze konnten mit Zuwanderern aus dem Osten besetzt werden, deren Zahl seit 1987 stark zunahm. Kurz vor der »Wiedervereinigung« entwickelte sich eine neue Konfliktualität in den Betrieben. In der Metallindustrie setzten die ArbeiterInnen Nachschlagszahlungen durch, an den Krankenhäusern erzwang eine unabhängige Bewegung bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne. Im Vereinigungstaumel von 1990 konnte die Regierung keine sozialen Kürzungen durchsetzen, sondern heizte die Konjunktur mit einer gigantischen Staatsverschuldung an. Der Kriseneinbruch, der weltweit 1990 einsetzte, wurde durch die »Sonderkonjunktur« zwei Jahre hinausgezögert - schlug dann aber 1992/93 um so heftiger zu. In Ostdeutschland war die Beschäftigung bis 1992 von 10 auf 6 Millionen zurückgegangen, wodurch die gesamtdeutsche Arbeitslosigkeit auf drei Millionen angestiegen war. In der Krise stieg sie auf über vier Millionen, und in der konjunkturellen »Erholung« danach ist ein Bruch mit bisherigen Entwicklungstrends zu erkennen: [5]

Jobs: Trotz Konjunkturaufschwung steigt die Zahl der Arbeitslosen bis 1997 kontinuierlich an, die Jobs mit Sozialversicherung gehen in gleichem Maß zurück. Statistisch gesehen entstehen neue Jobs nur in Form von geringfügiger Beschäftigung, Schwarzarbeit, Scheinselbständigkeit, usw.

Löhne: Zum ersten Mal sinken die Reallöhne dauerhaft. Sie sinken auch im Verhältnis zur Produktivität, d.h. die Lohnstückkosten gehen zurück. Die Lohnquote rutscht zum ersten Mal unter die 70-Prozent-Marke.

Soziale Sicherung: Durch drastische Kürzungen fallen seit 1993 immer mehr Arbeitslose aus dem Leistungsbezug heraus und sind ganz oder teilweise auf Sozialhilfe angewiesen. Die Abgrenzung zwischen Versicherungsleistungen und Fürsorge wird brüchig.

Gewerkschaften: Innerhalb der Großbetriebe brechen die Dämme, Gewerkschaften und Betriebsräte beteiligen sich an den geplanten »Produktivitätssprüngen«. Lohnbestandteile werden von Produktivität und Krankenstand abhängig gemacht, geltende Tarifverträge unterlaufen.

Ostdeutschland: Hier entsteht mit der völligen Umstrukturierung der Produktion ein Experimentierfeld für neue Ausbeutungsstrategien. Die versprochene Angleichung der Löhne wird gestoppt, in einem bisher unbekannten Ausmaß wird untertariflich bezahlt.

Die Krise 92/93 markiert einen Umbruch, der die Diskussion über Krise und Reform des Sozialstaats anheizt. Zwanzig Jahre Massenarbeitslosigkeit sollen endlich als Druckmittel für die Verschärfung der Ausbeutung funktionieren. Gleichzeitig hat sich das Ideal der lebenslangen Vollzeitbeschäftigung auf seiten der Klasse weiter zersetzt. Der normierte Arbeitsalltag ist verhaßt und die ArbeiterInnen suchen einzeln nach Auswegen. Die Zunahme von Scheinselbständigkeit und Schwarzarbeit beruht auch auf den illusionären Hoffnungen vieler Proletarier, irgendwie aus dem Arbeitstrott herauszukommen. Die 1994 wiedergewählte Regierung Kohl war nicht in der Lage, aus dem Gemisch von Angst und Hoffnung die Legitimation für einen radikalen Umbau des Sozialstaats zu formen. Zu offensichtlich hatte sie das Unternehmerinteresse im Auge und war mit ihren »Reformen« vor die Wand gelaufen. Die rot-grüne Regierung verkündete sofort nach Amtsantritt im Namen des »Wirtschaftsaufschwungs« und der »Arbeitslosen« viel drastischere Umbaupläne.

3. Umbau des Sozialstaats: Flankierung der neuen Klassenverhältnisse

In den Programmen sämtlicher Parteien findet sich heute die Forderung nach einer sozialen Grundsicherung. [6] Damit reagieren sie darauf, daß immer mehr Menschen in neuen Beschäftigungsformen aus dem Netz der Sozialversicherungen herausfallen. Andererseits herrscht Einigkeit darüber, daß nur noch mit solchen Jobs die Beschäftigung ausgeweitet werden kann, da hier die Lohnkosten geringer und die Arbeitskräfte flexibler einsetzbar sind. Es geht bei dieser Diskussion nicht um die absoluten Kosten des Sozialstaats, sondern um seine Wirksamkeit bei der Absicherung der Ausbeutung. Wenn höhere Ausgaben in einigen Bereichen (z.B. Frühverrentung oder Mindesteinkommen) gesamtgesellschaftlich zum Anstieg des Arbeitsvolumens und der Mehrwertmasse führen, rechnen sie sich im kapitalistischen Sinne. Selbst die dauerhafte Freistellung einiger Störenfriede von Arbeit kann sich insgesamt in einer höheren Produktivität niederschlagen.

Kanzlerberater Hombach hat die Umbaupläne auf den Punkt gebracht: Bisher habe man versucht, die Beschäftigungsverhältnisse dem Sozialsystem anzupassen. Nun müsse der Sozialstaat den neuen Realitäten auf dem Arbeitsmarkt angepaßt werden: »Alle Versuche, die Flexibilisierung am unteren Ende des Arbeitsmarkts produktiv zu nutzen, sind vergeblich, wenn es uns nicht gelingt, die sozialen Sicherungssysteme von den Normalitätsannahmen der lebenslangen Vollzeiterwerbstätigkeit und der 'Normalfamilie' - mit erwerbstätigem Vater, Hausfrau und Kindern - abzukoppeln. (...) Und die Nutzung 'irregulärer' Beschäftigung für neue Brücken in den Arbeitsmarkt wird nur gelingen, wenn die Arbeitsaufnahme für einen Sozialhilfeempfänger nicht die Konfiszierung jeder selbst dazuverdienten Mark durch leistungsfeindliche Anrechnungsvorschriften der Sozialhilfe bedeutet, sondern der Zuverdienst ein echter Anreiz wird.« [7]

Ein weiteres, oft unterschätztes Argument für die Umstellung auf Grundsicherung ist die Entwicklung der Nicht-Arbeit im Alter. Die Rentenzahlungen sind insgesamt doppelt so hoch wie die Ausgaben für Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe zusammen. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung und des relativen Rückgangs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung müßten entweder die Beitragssätze steigen oder die Renten gekürzt werden. Daher plädieren immer mehr Experten für die Einführung einer steuerfinanzierten Mindestrente - was sich im Rahmen eines allgemeinen Mindesteinkommens leichter durchsetzen ließe.

Warum sollte es rot-grün gelingen, einen so weitgehenden Umbau des Sozialstaats durchzusetzen, wenn die Kohl-Regierung daran scheiterte? Im Unterschied zu den des »Neoliberalismus« verdächtigen Christdemokraten greift rot-grün die verbreitete Kritik an neoliberalen, sprich US-amerikanischen, Verhältnissen auf und propagiert ihre Modelle als bewußte Kritik an den neoliberalistischen Übertreibungen. [8] Bei der unvermeidlichen Modernisierung der Wirtschaft solle ein Mindestschutz für die Proletarier gesichert werden, damit es nicht so schlimm wie in den USA kommt. Das ist nicht bloße Rhetorik, es gibt reale Unterschiede zwischen dem sogenannten »rheinischen Kapitalismus« und dem »neo-amerikanischen« Modell. Soziale Absicherung und gewerkschaftliche Regulierung galten der deutschen Exportwirtschaft als entscheidender Produktivitätsfaktor, auf den sie nicht verzichten will. Aber die Aufteilung zwischen staatlicher Absicherung und privater Vorsorge soll neu bestimmt werden.

Indem uns diese Politik vor dem Horror des Neoliberalismus bewahrt, schafft sie angeblich die Grundlagen eines »neuen Gesellschaftsvertrags«. Das »Bündnis für Arbeit« ist eine Form, um diesen Konsens herbeizuführen (das Aufgreifen der aus der Arbeitskritik hervorgegangenen neuen Ideologie von Subsistenzwirtschaft und Alternativbetrieb eine andere!). Im Rahmen der Bündnisgespräche sind z.B. die Gewerkschaften bereit, über die Subventionierung von Billigarbeit zu reden, was sie beim Kombi-Lohn-Modell der letzten Regierung noch ablehnten. [9] Im selben Gespräch äußerte sich der IG Metall-Chef auch ungefragt zum notwendigen Zwang, mit dem Arbeitsangebote, insbesondere für Jugendliche, verbunden sind: »Wenn es ausreichende Angebote gibt, kann es auf Dauer keine Wahlfreiheit geben zwischen der Ablehnung von Lehrstellen und dem Empfangen von Sozialleistungen. Wir (!) müssen jenen Jugendlichen, die sich diesem Angebot verweigern, wohl oder übel die Sozialhilfe streichen.«

Im Moment kann niemand genau sagen, wie sich welche sozialrechtlichen Änderungen auf das Verhalten der Unternehmer und der Proletarier auswirken. Selbst die Chefökonomen gestehen ein, daß sie die weltweite Krise des Kapitalismus nicht mehr verstehen. Woher sollen da Sozialpolitiker wissen, was zu tun wäre. Aufgrund der Offenheit der Situation kann sich ein (ehemals) linksradikaler Diskurs mit eigenen »realistischen« Forderungen an den Sozialstaat einbringen.

4. Illusionen über Sozialstaat und Klassengesellschaft

Aus dem Bauch heraus ...

Die Auffassungen vom Sozialstaat, die in den Diskussionen über das Existenzgeld unterstellt werden, beruhen in erster Linie auf den eigenen Erfahrungen und dem Umgang mit Sozialleistungen. Die in den 70er Jahren entwickelte Kritik des Sozialstaats gerät darüber in Vergessenheit. Der Sozialstaat wird weder historisch noch tagespolitisch in Bezug zum Klassenverhältnis und zum Klassenkampf gesehen, sondern an den eigenen Möglichkeiten zu einem Leben mit möglichst wenig Arbeit gemessen. Mit dem Scheitern der proletarischen Kämpfe in den 70er Jahren war die Strategie des kollektiven Kampfs gegen die Arbeit durch das individuelle Verhalten und die Lebensweise der Verweigerung der Arbeit ersetzt worden. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Bafög oder gelegentliches Jobben bei hohen Stundenlöhnen, verschafften den Subjekten der »neuen sozialen Bewegungen« die freie Zeit für ihre politischen Aktivitäten. Die Ablehnung regelmäßiger Lohnarbeit wurde zu einem verbreiteten Lebensgefühl in diesen Bewegungen, aber es gab keine Verbindungslinien mehr zum Kampf gegen die Arbeit in der Produktion. »Autonom« wurde zu einem Ausdruck der Abtrennung von den Konflikten in der Ausbeutung. Bis auf den Streß auf den Ämtern und die ständigen Sparmaßnahmen erschien der Sozialstaat als eine ganz passable Einrichtung.

... wird der Charakter des nationalen Sozialstaats vergessen ...

Dem entsprachen zwei gängige Vorstellungen: Sozialleistungen seien arbeitsfreies Einkommen und dies sei möglich, weil der Sozialstaat von der Arbeiterbewegung »erkämpft« worden sei. So wurden die Illusionen reproduziert, mit denen der Sozialstaat das Klassenverhältnis verschleiert.

Historisch betrachtet war der Sozialstaat zuallererst ein Bollwerk gegen die revolutionäre Drohung. Die »soziale Frage« wurde vom Bürgertum seit dem Vormärz thematisiert, als »die gefährlichen Klassen« die Gesellschaftsordnung bedrohten. Mit dem Ausdruck »soziale Frage« wurde der Klassenantagonismus begrifflich entschärft und seine prinzipielle Lösbarkeit durch Sozialreform unterstellt. Ein staatlicher Schutz sollte garantieren, daß die Proletarier ihre Arbeitskraft dauerhaft zur Verfügung stellen - ohne zu revoltieren und ohne wegzusterben.

Es gab auch andere Modelle: das Bürgertum forderte die Arbeiter auf, Rücklagen für Notzeiten zu bilden, woraus die Sparkassen entstanden. Die Organisationen der Arbeiterbewegung richteten eigene Hilfskassen ein, um die Solidarität zu fördern. Sie kritisierten die Einführung staatlicher Kassen und sahen in ihnen eine Enteignung ihrer eigenen Kassen. Während in Deutschland Bismarck eine rein staatliche und gegen die Arbeiterbewegung gerichtete soziale Sicherung durchsetzte, wurden in anderen Ländern die gewerkschaftseigenen Kassen durch den Staat bezuschußt. Auch darüber wurde die Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat eingebunden, aber das Festhalten an der Kontrolle über die eigenen Kassen enthielt noch das Bewußtsein vom Gegensatz zwischen Arbeiterklasse und staatlich geregelter Reproduktion.

Denn die Einführung sozialer Leistungen ist stets mit der Kontrolle und Überwachung der proletarischen Individuen verbunden: wer Sozialleistungen beansprucht, muß als Staatsbürger registriert sein, er muß seine bisherigen Arbeitsverhältnisse und Ausbildungen offenlegen usw. usw..

Die sozialstaatlichen »Errungenschaften« sind Verhinderungsmittel von Selbstbewußtsein und kollektiven Kämpfe. Der Staat tritt an die Stelle unserer Selbsttätigkeit, atomisiert uns durch das bürgerliche Recht und individuelle Geldzahlungen. Der Kapitalismus beruht darauf, daß wir ständig von neuem von dem Reichtum abgetrennt werden, der auf unserem gesellschaftlichen Zusammenwirken beruht. Der Sozialstaat sorgt dafür, daß wir das hinnehmen und uns als vereinzelte Individuen verhalten.

Erst der Sozialstaat vollendete das Projekt der Nation. Zunächst hatten die Proletarier tatsächlich kein »Vaterland« - mit dem Anspruch auf soziale Leistungen von »ihrem« Staat wurden sie zu »Bürgern« der Nation. Die deutschen Gewerkschaften erreichten ihre staatliche Anerkennung im Ersten Weltkrieg, als sie im Rahmen des »Burgfriedens« in die Verwaltung der nationalen Wirtschaft eingebunden wurden und sich für die Disziplinierung der ArbeiterInnen zuständig erklärten. In anderen Ländern Europas mußten die gewerkschaftseigenen Kassen - sofern es sie noch gab - während der NS-Besatzung an den Staat abgegeben werden.

Wer an den Sozialstaat appelliert, kommt um den positiven Bezug auf den Nationalstaat nicht herum. Den Vertretern der Existenzgeldforderung ist das Problem bewußt, in ihren aktuellen Thesen [10] heißt es: »Ein Existenzgeld, das die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum sichert, steht allen Personen, die dauerhaft in der BRD leben, unabhängig von Nationalität oder Aufenthaltsstatus, in gleicher Höhe zu ...«. Was ist damit gewonnen? Die Spaltung wird von der »Nationalität« auf den »dauerhaften Aufenthalt« verschoben, der Staat müßte wie bei Stichtagsregelungen zur Legalisierung kontrollieren dürfen, wer hier seit wann lebt. Die Thesen gestehen ein, daß sich »die Diskussion hier und heute ... auf unsere nationalen und europäischen Gegebenheiten beschränken« muß. Sie muß es, weil sie Forderungen an den Sozialstaat richtet, statt von den Kämpfen der Proletarier überall auf der Welt auszugehen. Der Sozialstaat hatte nicht nur der Arbeiterbewegung ihre eigenen Hilfskassen geraubt und sie von staatlicher Anerkennung abhängig gemacht, er hatte auch ihren Internationalismus untergraben - wie sich 1914 zeigte.

... und zu arbeitsfreiem Einkommen uminterpretiert

Die Behauptung, das Existenzgeld habe aufgrund seiner Abkopplung von Lohnarbeit eine antikapitalistische Dimension, knüpft an der zweiten Illusion über den Sozialstaat an: er gewähre arbeitsfreies Einkommen. Für das kapitalistische Klassenverhältnis kommt es nicht darauf an, daß jede und jeder einzelne sein ganzen Leben lang zur Arbeit gezwungen wird, sondern daß im gesellschaftlichen Maßstab genügend Arbeit für die Kapitalverwertung mobilisiert wird. Für diesen gesamtgesellschaftlichen Arbeitszwang war es schon immer wichtig, daß der Sozialstaat als ein Moment der Spaltung und Hierarchisierung ausgeformt wurde. In dieser Logik liegt auch das Existenzgeld, weil es nicht die Abtrennung vom Reichtum aufhebt, sondern nur eine unterste Auffanglinie darstellt, »ein faktischer Mindestlohn, unter dem niemand arbeiten muß«. [11] Wer mit der bloßen Existenzsicherung nicht zufrieden ist, muß nach wie vor arbeiten!

In der Herausbildung des Sozialstaats war es wichtig, zwei verschiedene Prinzipien gegenüberzustellen: Versicherung und Fürsorge. Damit wurde eine scharfe Trennlinie zwischen »Paupern« und »Arbeitern« gezogen. Während die einen von (staatlichen) Almosen abhängig sind, wird den anderen mit dem Versicherungsprinzip die Illusion vermittelt, sie würden im Alter oder bei Arbeitslosigkeit von ihren eigenen Ersparnissen leben und seien damit genauso »selbständig« wie die Bürger, die von ihrem Eigentum leben. Dieser Versicherungsfetisch knüpft am Lohnfetisch an und verschleiert wie dieser den Tatbestand der Ausbeutung. Die Aneignung fremder Arbeit durch den Kapitalisten erscheint im Lohn als gerechter Tausch zwischen Arbeit und Geld. [12]

Angesichts von Massenarbeitslosigkeit, einer hohen Rotation auf dem Arbeitsmarkt und dem Haß auf lebenslange Maloche ist das Modell von staatlicher Versicherung und staatlicher Fürsorge in die Krise geraten. Wer genug Geld hat, versucht sich privat abzusichern. Auf der anderen Seite fallen immer mehr Proletarier aus dem Netz der Sozialversicherungen heraus und sind auf Sozialhilfe angewiesen. Die Konstruktion der Sozialversicherung war von Vollbeschäftigung und nur konjunkturellen Beschäftigungskrisen ausgegangen; die extrem diskriminierend gestaltete Sozialhilfe war nicht für die massenhafte Absicherung bei Arbeitslosigkeit vorgesehen. Von den Politikern wird die Krise des Sozialstaats im Fehlen von »Leistungsanreizen« und in seinem »Legitimationsverlust« gesehen.

Beides muß im Zusammenhang gesehen werden: 1.) Um den »Anreiz« zur Arbeit zu erhöhen, sollen die Leistungen so umgestaltet werden, daß auch schlecht bezahlte Arbeit zu einer deutlichen Einkommenssteigerung führt. Zu dem Zuckerbrot der »Anreize« gehört wie stets auch eine Peitsche: workfare-Programme gegen Jugendliche oder Arbeitsverweigerer. 2.) Die vorübergehende Inanspruchnahme von Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe soll von ihrem diskriminierenden Charakter befreit werden (weg mit dem Streß auf den Ämtern!), damit die Menschen bei ihren Sprungversuchen in Selbständigkeit oder prekäre Jobs nicht entmutigt werden. Das Mindesteinkommen müsse daher als ein allgemeines »Bürgerrecht« definiert werden. Im Gegenzug könnten bisherige Sozialversicherungsleistungen, z.B. die Renten, gekürzt werden, da der Trend ohnehin zur privaten Vorsorge geht.

Die Realitätstauglichkeit und Politikfähigkeit der linken Existenzgeldforderung beruht darauf, daß sie am zweiten Begründungstrang (»Bürgerrecht«) anknüpfen kann - und den ersten (»Arbeitsanreiz«) ausblendet.

5. Vom »politischen Lohn« zum Existenzgeld

Die Kritik am Existenzgeld wird von einigen Gruppen mit dem Argument vom Tisch gewischt, es gehe um den mobilisierenden Charakter der Forderung. Weil das Existenzgeld im Kapitalismus utopisch sei, könnten damit die Massen für eine antikapitalistische Politik in Bewegung gebracht werden. Im Grunde gehe es nicht um die Forderung, sondern um eine Strategie der direkten Aneignung. [13] Dabei wird auf die Diskussion Anfang der 80er Jahre oder auf das Konzept des »politischen Lohns«, wie es in Italien in den 70er Jahren formuliert wurde, verwiesen. Der »politische Lohn« erscheint als die radikalste Variante, weil er im Umfeld militanter Massenarbeiterkämpfe und breiter Aneignungsbewegungen auftauchte. Damals wie heute geht es dabei um unser Politikverständnis - wie sehen wir die Rolle der politischen Organisation?

Die Klassenkämpfe in Italien hatten seit Ende der 60er Jahre die Fesseln der gewerkschaftlichen Kontrolle gesprengt. Die Lohnforderungen ordneten sich nicht länger der kapitalistischen Konjunktur unter, sondern zerbrachen die Kopplung des Lohns an die Produktivität. Darin lag die materielle Realität der Arbeiterautonomie. Die Kämpfe der Massenarbeiter bildeten die Grundlage der proletarischen Macht, die auf das Territorium ausstrahlte: Verweigerung von Miet- oder Stromzahlungen, Hausbesetzungen, kostenloses Einkaufen usw.. Der »politische Lohn« sollte die Kämpfe zusammenfassen und vereinheitlichen. »Garantierter Lohn außerhalb der Fabrik bedeutet, dazu überzugehen, sich die Waren zu nehmen; bedeutet die Aneignung durchzuführen.« [14]

Während die Theoretiker von Potere Operaio (Arbeitermacht) diese Strategie als Ausweitung des Kampfs auf die gesamte Gesellschaft begründeten, markierte sie in Wirklichkeit eine Reaktion auf die Grenzen der Lohnkämpfe und den Rückzug aus der Fabrik. Der Verlust der proletarischen Machtbasis in der Produktion wurde von Toni Negri mit einem theoretischen Trick in ein Moment neuer Stärke umgedeutet. In der Schrift Krise des Plan-Staats, Kommunismus und revolutionäre Organisation, die 1971 als Beilage zur Zeitschrift Potere Operaio erschien, verkündete er das Ende des Wertgesetzes und damit jeglicher materiellen Basis der kapitalistischen Herrschaft. [15] Der Kommunismus sei aktuell, weshalb »jede Übergangsstufe übersprungen werden« müsse. Die neuen Bewegungen im Territorium würden dies bereits ausdrücken: »Die Aneignung ist die eigentümliche Qualifizierung des Klassenverhaltens gegenüber dem Staat des nicht mehr geltenden Wertgesetzes.« Aufgabe der revolutionären Bewegung sei es daher, die ohne materielle Basis zurückgebliebenen politischen Herrschaftsstrukturen abzuräumen, »die Insurrektion [steht] auf der Tagesordnung«.

In den Jahren danach sah Negri das neue Subjekt dieses Angriffs als den »gesellschaftlichen Arbeiter«, im Unterschied zum Massenarbeiter der Fabrikproduktion. [16] Er sprach damit die Subjekte der neuen Jugendbewegungen an, die sich in Italien zur Revolte von 1977 verdichteten. Die Abschottung der sozialen Revolte vom Klassenkampf, von der Masse der MehrwertproduzentInnen, die Negri in seiner Theorie ausgedrückt und legitimiert hatte, war die Geburtsstunde der »organisierten Autonomie«. Sie ist der Inhalt aller Strömungen, die sich seitdem als »autonom« bezeichnen. Heute dient Negris Theorie des »gesellschaftlichen Arbeiters« und der schon außerhalb des Kapitals stehenden Produktivität der »immateriellen Arbeit« den »Autonomen« in Frankreich und Italien dazu, sich der Kampagne für ein garantiertes Mindesteinkommen anzuschließen.

Die Parole vom »politischen Lohn« war also nicht die Verallgemeinerung des Kampfs aller Ausgebeuteten, sondern ein Programm der Abtrennung und des Heraustretens aus dem Konflikt um die Ausbeutung. Nur in einem avantgardistischen und leninistischen Sinne konnte der »politische Lohn« als allgemeine Strategie ausgegeben werden. In der erwähnten Beilage von Potere Operaio weist Ferruccio Gambino der Forderung eine zentrale vereinheitlichende Rolle zu: »... politische(r) Lohn (bedeutet), ... daß (die) offensiven, defensiven und auch reaktionären Kräfte dem kapitalistischen System entzogen und in Elemente politischer Klassenorganisation transformiert werden. Der politische Lohn muß die Überwindung jener Widerstandsformen ermöglichen.« [17] Hier zeigt sich ein leninistisches Verständnis von Avantgarde: die Klasse führt zwar vielfältige Kämpfe, aber sie entwickelt keine eigenen Lernprozesse. Die Vereinheitlichung und politische Weiterentwicklung muß über eine politische Organisation laufen. Daher ist es so wichtig, eine zentrale Forderung zu haben: der »politische Lohn« tritt an die Stelle der nicht stattfindenden Lern- und Homogenisierungsprozesse.

Schluß: Selbstbefreiung statt Politik

Mit derselben Auffassung vom Verhältnis zwischen proletarischer Bewegung und politischer Organisation wird heute der Vorschlag zur Organisierung um eine zentrale Forderung herum begründet: »... wir wissen, daß neue proletarische Bewegungen kaum noch am (prekären und flexibilisierten) Arbeitsplatz entstehen werden. Sie können sich eigentlich nur noch in konkreten politischen Kämpfen konstituieren, wo Solidarität im gemeinsamen Projekt (und nicht wie früher am Arbeitsplatz) erfahren wird.« [18] Am Ausgangspunkt steht die Gewißheit, daß es angesichts von »Postfordismus« und »diffuser Fabrik« selbständige Kämpfe nicht mehr geben kann. Statt die Theorien des Postfordismus zu hinterfragen und ihren positiven Bezug auf die kapitalistische Entwicklung zu kritisieren, dienen sie als theoretische Phrase, mit der die Notwendigkeit begründet wird, die atomisierten Subjekte von oben herab zu mobilisieren und zu vereinen. Die Forderungen knüpfen nicht an den realen Kämpfen an, sondern werden aus einem abstrakten Bezug auf das Einkommen und den Staat begründet. [19] Damit bleibt nur, sich selber als Stellvertreter und Politiker in Veränderungsprozessen zu sehen.

Mit dem Einwand, die proletarische Zersplitterung sei so groß, daß nur ein zentrales politisches Projekt sie von außen überwinden könne, waren Interventionsversuche, die von der Fähigkeit zur Selbstbefreiung ausgingen, schon immer konfrontiert. In Bezug auf ihre politische Arbeit mit Immigranten schrieb die Gruppe »Arbeitersache München« 1973: »Viele Genossen haben Bedenken gegen diesen Ansatz, weil die ausländischen Arbeiter oft den Arbeitsplatz wechseln, nicht stetig an einem Arbeitsplatz bleiben. Wir sagen: das ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Wenn wir davon ausgehen, daß die Arbeiter in der Lage sein werden, Kampf- und Handlungsmuster zu entwickeln, dann sind wir auch der Ansicht, daß jede Verbreitung dieser Erfahrungen durch Mobilität den Klassenkampf weitertreiben wird. Und wir sind überzeugt, daß all die Widersprüche in steigendem Maß Kämpfe hervorbringen werden, bei denen wir eine verallgemeinernde, gewissermaßen 'synthetisierende' Funktion haben. Ein Modell das glaubt, nur dadurch, daß jemand 10 Jahre in einer Abteilung subversiv arbeitet, entstände Kampfbereitschaft, geht an der heutigen Realität der Großbetriebe vorbei. Es unterstellt aber auch, daß das Proletariat nicht über ein Wissen von den Kampfformen verfügt, sondern sie ihm sehr langatmig nahegebracht werden müssen. Das stimmt nicht - dieses Wissen ist vorhanden, aber es ist von vielen Schleiern verdeckt, an deren Lüftung wir mitarbeiten.« [20]

So oder ähnlich ließen sich unsere Aufgaben auch heute umschreiben. Witzigerweise werden auch heute als Beleg für die Unfähigkeit der Proletarier, in den »postfordistischen« Produktionsstrukturen noch kämpfen zu können, klassisch gewerkschaftliche Vorstellungen über den Arbeiterkampf herangezogen (jahrelange Erziehungsarbeit in einer Abteilung usw.). Und das von Leuten, die als »Autonome« den Gewerkschaften kritisch gegenüberstanden. Aber sobald sich diese Linken den Beziehungen in der Ausbeutung zuwenden, reproduzieren sie typisch gewerkschaftliche Vorstellungen von Organisierung und Lernprozessen und meinen, damit die Kampfmöglichkeiten beurteilen zu können. Die aktuellen Veränderungen werden heute allgemein als »Prekarisierung« bezeichnet, so als wüßten wir dann schon, wovon wir sprechen. Die mit »Prekarisierung« heraufbeschworenen Bilder gehen nicht von der Rolle der lebendigen Arbeit und ihrer Kooperation im Produktionsprozeß aus, sondern markieren nur eine Abweichung von der sozialrechtlichen Norm. Unter diesem Blickwinkel läßt sich nicht erkennen, wie sich durch die Prekarisierung die gesellschaftliche Kooperation ausgeweitet hat - was politisch als Atomisierung erscheint. Die Kämpfe und die Macht der ArbeiterInnen beruhen aber nicht auf rechtlichen Regelungen, sondern auf der kollektiven Aneignung der eigenen Kooperation im Kampf gegen das Kapital.

Der Kommunismus als reale Bewegung liegt in den proletarischen Kämpfen, die heute nicht auf einer geringeren, sondern einer global enorm ausgeweiteten Gesellschaftlichkeit der Produktion beruhen. Das Verrückte an der Diskussion um das Existenzgeld ist, daß in ihr die aktuelle Möglichkeit des Kommunismus, d.h. eines Lebens ohne Arbeitszwang, zu recht unterstellt wird, aber daraus die denkbar schlechteste Schlußfolgerung gezogen wird: nämlich die brüchigen Mauern des globalen Arbeitsgefängnisses auszubessern, statt sie niederzureißen!


Fußnoten:

[1] 1980 erschien in Frankreich und Deutschland das Buch Abschied vom Proletariat des ehemaligen Stalinisten und früheren Theoretikers der Arbeiterbewegung André Gorz. Er sah ein duales Wirtschaftssystem voraus: einem kleiner werdenden industriell-kapitalistischen Sektor mit fremdbestimmter Arbeit (Heteronomie) stehe ein Bereich von selbstbestimmter Eigenarbeit und Freizeit (Autonomie) gegenüber, der durch ein staatlich garantiertes Existenzminimum abgesichert werden solle. Bezeichnenderweise gibt es eine starke Affinität zwischen den Ideen von Gorz und den Thesen von Negri über den neuen »gesellschaftlichen Arbeiter« und die »immaterielle Arbeit«.

[2] Die Forderung nach dem Existenzgeld war schon damals umstritten und markierte die Spaltung und das Ende der Jobbergruppen; siehe: »Mit dem Dreirad durch den Sozialstaat«, in: Karlsruher Stadtzeitung Nr. 35, Frühling 1985.

[3] Siehe: Harald Rein / Wolfgang Scherer, Erwerbslosigkeit und politischer Protest, Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1993.

[4] Siehe: Karl Heinz Roth (Hrsg.), Die Wiederkehr der Proletarität. Dokumentation einer Debatte, Neuer ISP-Verlag, Köln 1994.

[5] Die folgenden Einschätzungen beruhen auf einem ausführlicheren Veranstaltungsbeitrag, der im nächsten Zirkular in überarbeiteter Form veröffentlicht wird.

[6] Siehe dazu die Darstellung der verschiedenen Grundsicherungsmodelle in ak Nr. 421: Christian Brütt: Linksradikale Suche nach dem Sozialstaat. Die Existenzgeldforderung und ihre bürgerliche Konkurrenz.

[7] Bodo Hombach, Aufbruch. Die Politik der neuen Mitte, München 1998.

[8] Die Kritik am Neoliberalismus ist eine der wirksamsten Konsensstrategien, über die ein positiver Bezug auf den kapitalistischen Nationalstaat hergestellt und die Kritik am Kapitalismus vergessen gemacht wird. Siehe: Richard Greeman, Brief an alle Freunde der Zapatisten oder »Gefährliche Abkürzungen«, in: Wildcat-Zirkular, Nr. 40/41, Dezember 1997.

[9] »Jeder muß auch geben«. Interview mit Zwickel im Spiegel 8/1999.

[10] Beschlußfassung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen vom 23.5.98, nach: Arbeitslosenzeitung Quer 6 / 1998.

[11] BAG-Erwerbslose, Plattform für eine andere Arbeit, Januar 1999.

[12] Im Begriff »Ausschluß« wird die verkehrte Erscheinungsform übernommen. Die »Ausgeschlossen« können sich nicht über Lohnarbeit reproduzieren, während ein Arbeitsplatz die Möglichkeit zur »Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum« biete. Hinter dem Begriffspaar »Ausschluß - Einschluß« verschwindet das Klassenverhältnis. Das Elend der Ausbeutung wird zur »Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum« umgedichtet. Die Begriffe werden in linken Debatten übernommen, statt den Kapitalismus als Klassengesellschaft zu kritisieren.

[13] Zum Beispiel heißt es in der Arranca Nr. 15: »Die Forderung nach Existenzgeld soll als eine radikale Aneignung diskutiert werden, wo sich die Interessen von Erwerbslosen, Flüchtlingen, Beschäftigten und Hausfrauen treffen.«

[14] Wir Wollen Alles, Nr. 19.

[15] Auf deutsch: Toni Negri, Krise des Planstaats. Kommunismus und revolutionäre Organisation, Merve, Berlin 1973.

[16] Zur Kritik siehe Roberto Battaggia: Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter - einige Bemerkungen über die »neue Klassenzusammensetzung«, in: Wildcat-Zirkular Nr. 36/37, April 1997; und Steve Wright: Negris Klassenanalyse - Die Metaphysik des »gesellschaftlichen Arbeiters«, in: Wildcat-Zirkular Nr. 40/41, Dezember 1997.

[17] In: Negri, Krise des Planstaats ..., a.a.O., S. 59.

[18] Der schwierige Weg zu einem europ. Kampf gegen das Kapital, in: Arranca Nr. 14.

[19] In der Vorbereitung der Konferenz für Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung ist diese Herangehensweise von einem Mitglied der Gruppe »Blauer Montag« deutlich kritisiert worden: »Doch alle so entwickelten Forderungen und Parolen - sei es die Existenzgeldforderung oder irgendeine andere - bleiben blutleer und hohl. Und zwar eben nicht, weil sie 'falsch' wären, sondern weil sie kein Ausdruck eines sich artikulierenden sozialen Bedürfnisses sind. ... Vor der Diskussion um die Sinnhaftigkeit der einen oder anderen Forderungen muß daher über die real existierenden oder eben nicht existierenden Bewegungen gesprochen werden, über die Subjekte und TrägerInnen sozialer Kämpfe, über soziale Bedürfnisse und über die eigenen Erfahrungen und Gehversuche im sozialen Terrain. (...) 'Klassenpolitik' heißt somit (...) erstmal, sich auf diesen sozialen Prozeß zu beziehen bzw. sich als Teil dieses Prozesses zu begreifen und in ihm Emanzipationsinteressen, d.h. das Bedürfnis nach umfassender Befreiung, nach Kommunismus zu artikulieren.« In: »Die Existenzgelddiskussion vom Kopf auf die Füße stellen! Einige Anmerkungen und Vorschläge zur März-Konferenz« - auf der Webseite von Fels: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/fels.

[20] Arbeitersache München, Was wir brauchen, müssen wir uns nehmen, Trikont, München 1973, S. 35.


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