Wildcat-Zirkular Nr. 59/60 - Juli/August 2001 - S. 103-114 [z59indon.htm]


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Indonesien Mitte 2001

Nach der Krise ist in der Krise ist vor der Krise

Aus dem nach der Zahl der Bevölkerung viertgrößten Land der Welt haben wir in den letzten Jahren schon oft berichtet, siehe z.B. Wildcat-Zirkular 45 (Juni 1998) oder Wildcat-Zirkular 54 (Oktober 1999). Jetzt, drei Jahre nach dem Sturz des Dikatators Soeharto, nach drei Jahren »Reformasi« und wirtschaftlicher und politischer Krise, aber auch vieler Hoffnungen und unglaublich vieler Kämpfe, scheint die Entwicklung vorläufig stecken geblieben zu sein - auf allen Ebenen.

Bis zur Asienkrise wurde Indonesien von den Institutionen des Kapitals für seine Entwicklung hochgelobt, die autoritären und repressiven Verhältnisse unter dem seit Jahrzehnten herrschenden Soehartoregime in Kauf genommen. 1997/98 kommt das Regime durch die mit der Krise einhergehenden Probleme (Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit, Währungsverfall) in ernste Schwierigkeiten. Schließlich bringen Preiserhöhungen für Benzin und Kerosin das Faß zu Überlaufen: Die Reformen fordernde, sich zunehmend radikalisierende Studentenbewegung, in Kombination mit Aufständen gegen Preiserhöhungen führen sogar bei den Eliten zu einem Bekenntnis für Reformen und erzwingen den Rücktritt des Diktators.

Der Demokratisierungsprozess läßt tausend Blumen blühen: eine rege gesellschaftliche Diskussionskultur, ausgedrückt durch eine Vielzahl neuer Zeitungen; tägliche Proteste gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmißbrauch; Gewerkschaften und linke Gruppen schiessen wie Pilze aus dem Boden. Trotz der trostlosen wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung gibt es eine fühlbare Aufbruchstimmung, vor allem weil die staatlichen Machtorgane (Militär, Polizei) durch Kritik und Proteste in die Defensive gerieten und zurückgedrängt werden konnten. In dieser Stimmung wurde es denkbar, mehr als Reformen oder »Reformasi total« zu fordern. Ein populäres Lied und Slogan heißt: »Revolusi sampai mati« (Revolution bis zum Tod).

Drei Jahre sind seit dem Sturz der Diktatur vergangen. Drei Jahre, in denen die Revolution bekanntlich nicht stattgefunden hat. Wie hat sich die Situation entwickelt?

Die Lage

Die Demokratisierung war oberflächlich gesehen erfolgreich. Im Gegensatz zu vielen Befürchtungen gab es bisher weder Militärputsch noch allgemeinen Bürgerkrieg. Das Osttimorproblem wurde an die UN abgegeben. Bei den ersten freien Wahlen gab es keine großen Probleme, vorher waren zahlreiche Parteien entstanden. Gewerkschaften wurden legalisiert, es bildeten sich praktisch täglich neue, sowohl unabhängige, als auch Dachverbände, als auch Ableger von Parteien. Man sollte die Veränderungen aber auch nicht überschätzen, viele Leute haben sich zwar das Mäntelchen Reformasi angezogen, aber die Strukturen, sowohl im Staatsapparat, als auch in der Wirtschaft wurden nicht wirklich verändert. Die meisten Positionen, bis hinunter zum Dorfvorsteher oder städtischen Blockwart, werden nicht nur von den gleichen, sondern schlicht von den selben Leuten wie zur Zeit der Orde Baru (Neue Ordnung = Soehartoregime) besetzt gehalten.

Die »politische Klasse«, die Elite, bietet ein jämmerliches Schauspiel von ständigen Machtkämpfen, Kungeleien und Intrigen. Dies war vorauszusehen. Im November '99 schrieben wir über die damals frischgebildete Mehrparteienregierung: »Das verzwickte Problem: Wer kommt jetzt an die Töpfe, ist gelöst mit der schlichten Antwort: Alle. Das neue Kabinett umfaßt nun alle Parteien, Machtfraktionen, ethnische Gruppen und Religionen, die alten Kräfte ebenso wie einige wenige moderne Liberale, Hard-Core Moslems und Katholiken ... also das ganze Spektrum der Elite in Jakarta. Ein Kompromiß, der wohl zu groß ist, um lange zu halten einerseits, andererseits aber auch kaum eine Person übrig läßt, die einspringen könnte, wenn dieses Projekt scheitert.« (Wildcat-Zirkular 54)

Jedem ist klar, daß diese Gestalten nur sich selbst bereichern wollen, die meisten Indonesier beantworten die Frage nach der Ursache der nicht endenden Krise auf allen Ebenen mit den Spielchen der Elite. Zur politischen Krise gehören auch »ethnische« oder »religiöse« Massaker (Molukken, Kalimantan, Sulawesi) sowie das laufende Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen angeblicher Verwicklung in zwei Finanzaffären, deren Dimensionen im Vergleich zu den üblichen indonesischen Korruptionsskandalen eher gering sind. Viele Indonesier sind der Meinung, all dies dient nur dazu, den Präsidenten in Mißkredit zu bringen, den sie noch für einen der Respektabelsten in dieser Schlangengrube halten. Es gibt linke Aktivisten, die einen Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Präsidenten und denen der Orde Baru noch in diesem Jahr für möglich halten.

Ziemlich aggressiv treten z.Z. »Antikommunisten« auf, die wohl von Golkar (Regierungspartei unter Soeharto) und Teilen des Militärs angestiftet und finanziert werden, um zu zeigen, daß das Land nach dem Chaos der Demokratie wieder Recht und Ordnung, also Militärherrschaft, braucht. Und in der Tat: bei einer Umfrage unter 600 Indonesiern erklärten 76%, daß sie sich nach der Sicherheit und Stabilität der Soehartozeit (aber ohne dessen Repression) zurücksehnten. Der Kampf gegen den »Kommunismus« ist außerdem ein Vorwand, um Aktivisten der sozialen Bewegungen zu bedrohen und einzuschüchtern. Eine politische Bewegung, die sich auf den Kommunismus bezieht, gibt es in ganz Indonesien nicht, kommunistische Bücher sind weiterhin illegal.

Ein Kommentar aus der Jakarta Post Online (14.3.2001) bringt die weitverbreitete Enttäuschung über die politische Elite zum Ausdruck: »Vielleicht wäre unsere Nation besser dran ohne Führer, die die Menschen als bloße Schachfiguren herumschieben, um ihren Machthunger zu befriedigen, um sich anbeten zu lassen, und um sich mittels Steuern finanzieren zu lassen. Vielleicht braucht diese Nation keine Führer. Vielleicht sind es in Wirklichkeit diese vier Führer (Anm:. die Chefs der größten Parteien, die auch die wichtigsten Staatsposten innehaben) die die Menschen brauchen, um ihrem Leben Bedeutung zu geben. Vielleicht sollte diese Nation aufhören, nach Führern zu suchen und ihre Angelegenheiten selbst regeln.«

Wenn dem Staat Autorität und Kontrolle schwindet, gewinnen Ersatzverhältnisse noch stärkere Bedeutung, wie der sogenannte Premanismus. Darunter versteht man alle Arten von nicht- oder halbstaatlichem organisiertem Verbrechen. Es gibt z.B. paramilitärische Gruppen der Parteien - vor allem von Soehartos Golkar, aber auch von der Vorzeigereformpartei PDI-P - die Glücksspiel betreiben, Schutzgelder erpressen, Journalisten angreifen, Streiks aufmischen. Diese Gruppen treten oft sehr offiziös auf, mit Uniform, legal aussehenden Ausweisen und mehr. Ihre Geschäftsfelder teilen sie mit Jugendbanden und nach ethnischer Herkunft organisierten Gangs. Allein für Medan (2,5 Mill. Einwohner) wird die Zahl der Preman auf 20 000 geschätzt.

Unternehmen zahlen an solche Preman Schutzgelder, die oft höher sind als die Lohnkosten. Manche Fabriken halten sich ganze Privatarmeen, vor allem solche, die wegen Umweltsauereien mit der Wut der Anwohner rechnen müssen.

Da diese Banden, vor allem die Vorfeldorganisationen der ehemaligen Regierungspartei Golkar, zu Soehartozeiten mit Polizei und Verwaltung liiert waren, tun sich die Behörden schwer mit ihrer Bekämpfung. Bus- und LKW-Fahrer in Nordsumatra und Zentraljava, denen Preman das Einkommen abpreßten, blieb nichts anderes übrig, als in den Streik zu treten, um die Sicherheitskräfte zum Eingreifen zu veranlassen, weil diese trotz Beschwerden untätig geblieben waren. Schwindendes Vertrauen in Polizei und Behörden ist auch einer der Gründe für zunehmende Selbstjustiz und Lynchmorde.

Die Reformbewegung konnte vom Kapital nicht in Erneuerung umgesetzt werden: die Bankenreform dümpelt dahin, Korruption ist immer noch Alltag, innenpolitische Spannungen, sowie Streiks und Proteste schrecken Investoren ab, zwischen 1997 und 1999 gingen die Investitionszusagen aus dem Ausland um fast zwei Drittel zurück. Der Vorsitzende des Rats der Indonesischen Unternehmen drohte Mitte 2000: Die häufigen Arbeiterproteste könnten dazu führen, daß mindestens 20 ausländische Industrieunternehmen das Land verlassen, mehrere Firmen hätten die Produktion bereits eingestellt.

Probleme fürs Kapital auch bei der Öl- und Gasförderung, Öl und Gas sind die wichtigsten Exportartikel. Der Direktor des größten indonesischen Rohölproduzenten PT Caltex Pacific Indonesia gibt die durch Proteste (mindestens 30 von Jan. bis Okt. 2000) verlorengegangene Fördermenge mit 30 000 Barrel/Tag an. Andere Ölgesellschaften waren ebenfalls von Unruhen betroffen, so daß Indonesien seine OPEC-Quote nicht erfüllen konnte. ExxonMobil mußte im März 2001 seine Gasförderung im Aceh einstellen, wegen Übergriffen des Militärs oder der acehnesischen Unabhängigkeitsguerilla.

Indonesien hat die Asienkrise bisher nicht hinter sich gebracht. Im Jahr 1998 fiel das Bruttoinlandsprodukt um 13%, die Inflation erreichte stolze 70%. Dieser drastische Einbruch ist zwar überwunden, 2000 wuchs das BIP um 4,8%, die Inflation war auf moderate 3,8% gesunken, aber für 2001 deuten sich wieder ungünstigere Zahlen an: BIP: +3,5%, Inflation: 9%. Die Währung fiel im April 2001 im Verhältnis zum US$ auf den niedrigsten Stand seit September '98 und zwar (typisch!) anläßlich parlamentarischer Auseinandersetzungen um Korruptionsvorwürfe gegen den Präsidenten.

Mit dem Konjunktureinbruch in den USA und Europa wird die wirtschaftliche Lage in Indonesien noch schwieriger werden. Die Asian Development Bank schreibt in ihrem Outlook 2001, besonders gefährdet seien Länder, bei denen die Erholung der Wirtschaft sehr von Exporten abhängt, bei denen die Umstrukturierung des Finanz- und Unternehmenssektors nicht bewältigt ist, und wo politische Unsicherheiten herrschen. Zu Indonesien heißt es: »Obwohl weiteres Wachstum für 2001 und 2002 vorausgesagt wird, werfen Brüchigkeit von Frieden und Ordnung, das hohe Niveau öffentlicher und privater Schulden, das langsame Tempo bei den Regierungsreformen und das schwache Bankensystem einen Schatten auf die Wirtschaftsaussichten.«

Auch für die Bevölkerung sieht es recht finster aus: Man darf jetzt demonstrieren, sich organisieren und streiken, aber der Lebensstandard ist niedriger als zu Zeiten der Diktatur. Selbstverständlich nicht für alle. Der Vorsitzende eines kürzlich von der Regierung ins Leben gerufenen Expertenteams gegen die Armut sagte, es sei Ironie, daß die Reichen in Indonesien während der Krise reicher geworden seien: »Diejenigen mit Deviseneinkommen oder einem ausländischen Bankkonto konnten Nutzen aus besseren Wechselkursen ziehen, während einheimische Konten durch die hohen Zinsen fetter wurden.« Vor allem in Jakarta geben sich diese Krisengewinnler dem Vergnügungs- und Konsumrausch hin.

Wer vorher schon arm war, ist noch ärmer geworden. Schon vor der Krise lagen die Löhne unter den Lebenshaltungskosten. Die ArbeiterInnen kompensierten das, indem sie sich z.B. zu mehreren ein Zimmer teilten, oder durch Überstunden oder einen zweiten Job nach Feierabend. Außerdem gab es vor der Asienkrise deutliche Reallohnsteigerungen, in der Industrie um über 30% von 1992 bis 1996 (ILO, lt. UNIDO stiegen die industriellen Reallöhne von 1990 bis 1995 um über 70%!). Das machte natürlich Hoffnung auf mehr, die dann bitter enttäuscht wurde. 1998 fiel das Realeinkommen wegen hoher Inflation und niedriger Lohnsteigerungen um 30-40% im Vergleich zum Vorjahr. Im Januar '97 konnte man für den gesetzlichen Mindestlohn eines Tages 6,3 kg Reis kaufen, im Juni '98 2,6 kg, im Mai 2001 (in Medan) 4,8 kg. Durchschnittlich geben die Indonesier heute 65% ihres Einkommens für Essen aus, 1996 waren es nur 55%. Im Oktober 2000 haben NGOs und Gewerkschaften die Lebenshaltungskosten in Medan detailliert berechnet. Bereits die Kosten für ausreichendes Essen übersteigen den Mindestlohn. Das gilt für den Fabrikarbeitermindestlohn (zu dem es noch ein paar Zulagen gibt), an den sich aber auch nicht alle Fabriken halten. In einigen Bereichen, wie Dienstpersonal und Landwirtschaft, sind die Löhne viel niedriger. Klar, daß es Mindestlohnvorschriften nur im formellen Sektor gibt. Wegen der niedrigen Preissteigerungsrate des Vorjahrs und Lohnerhöhungen hat das Reallohnniveau mittlerweile wieder 80% des Vorkrisenniveaus erreicht. Das ist lediglich ein geschätzter Durchschnittswert, durch die hohe Arbeitslosigkeit sind inzwischen erheblich mehr Menschen als früher ganz ohne regelmäßiges Einkommen. Die Zentrale Statistikbehörde gibt die Arbeitslosenquote mit 6,5-7% an (1997: 4,7%), Experten schätzen den Anteil der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten auf 40% der Erwerbsbevölkerung.

In Jakarta soll der Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze bei 40% liegen. Zu den Armen gehören: 1. Neuzuwanderer vom Land, traditionelle Dritte-Welt-Armut sozusagen (kommen vom Land oder werden von dort vertrieben, landen in städtischen Slums, gelangen nie in den formellen Sektor); 2. Opfer der Modernisierung unter Soeharto, als reihenweise alte Siedlungen plattgemacht wurden, deren Bewohner zwar schon lange, teilweise seit Generationen, ansässig waren, aber keine formalen Landtitel vorweisen konnten; 3. seit der Krise viele entlassene Arbeiter, vor allem aus Fabriken und Bauindustrie.

In der Krise haben die Leute verschiedene Überlebensmechanismen entwickelt. Zunächst durch Verkauf von »Vermögenswerten« und Kreditaufnahme. Es liegt auf der Hand, dass dies auf Dauer nicht funktioniert. Der informelle Sektor hat sich um vier Millionen Personen ausgeweitet (ILO, Jakarta 1999). Dabei handelt es sich vor allem um persönliche Dienstleistungen, wie Straßenhandel, Becakfahren oder Prostitution. Auch das läßt sich nicht beliebig ausweiten, da mit steigender Zahl dieser Dienstleister die Einnahmen des Einzelnen sinken.

In Jakarta allein soll es zwei Millionen Straßenhändler geben (Jakarta Post, 21.5.01). Sie werden unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Premanismus schwer unter Druck gesetzt, Razzien werden veranstaltet, Waren beschlagnahmt. Es gibt wohl wirklich mafiöse Gruppen, die von den Straßenhändlern Schutzgelder eintreiben und Bullen bestechen. Der Straßenhandel selber ist aber vor allem eine Überlebensstrategie von Leuten, die in der Krise ihren festen Job verloren haben.

Städtische Arme neigen zu Aufständen, wenn die Lage verzweifelt ist. Das ist sowohl der indonesischen Regierung, als auch den internationalen Kapitalinstitutionen bewußt, bei den Mai-Riots '98 wurde ihnen das zum x-ten Mal vor Augen geführt. Ganz erschrocken stimmte der IWF sofort der Rücknahme der von ihm selbst verlangten Kürzungen von Kraftstoffsubventionen zu, im September '98 übte der IWF Druck auf die indonesische Regierung aus, die Reispreise zu senken. Im letzten Jahr forderte der IWF-Repräsentant in Indonesien die Regierung auf, Subventionsstreichungen für Energie und Kerosin auszusetzen: »Wir wollen keine Instabilität durch Preiserhöhungen.« Auch in diesem Jahr wurden zunächst geplante Subventionskürzungen bei Kraftstoff zurückgenommen, jedenfalls für Privatverbraucher, dann aber doch beschlossen, weil das Defizit im Staatshaushalt wegen Verschuldung und Inflation zu groß geworden war und der IWF keine neuen Kredite mehr rausrücken wollte. Die Verschuldung ist allerdings eine Folge der IWF-Intervention in der Asienkrise.

Manche arbeitslos gewordenen Städter sind zu ihren Familien aufs Land zurückgekehrt, die Beschäftigtenzahl in Land-, Forst-, Jagd- und Fischereiwirtschaft stieg von 1997 bis 2000 um 6 Millionen (dabei muß man beachten, daß die gesamte Erwerbsbevölkerung pro Jahr um mehr als 2 Mill. zunimmt). Trotz der schlechten Lage der städtischen Armen ziehen aber mehr Leute in die Städte als umgekehrt. Der Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung stieg von 1995: 35,6% auf 1999: 39,8%. Das kommt schlicht daher, daß auf dem Land die Armut noch größer ist: 60% der Indonesier leben auf dem Land, 70% der Armen und 5/6 der 3 Mill. Straßenkinder (Garda, 9.5.01) wohnen auf dem Land. 1998 wurde Indonesien zum weltweit größten Empfänger von Nahrungsmittelspenden, obwohl es eigentlich keinen Mangel an Lebensmitteln gab. Die Spenden wurden (und werden!) benutzt, um die städtischen Slumbewohner zu befrieden. Damit können die einheimischen Bauern natürlich nicht konkurrieren. Der Bericht »Manufacturing a Crisis: The Politics of Food Aid in Indonesia« (Food First, 1999) beschuldigt die USA, Kanada, Australien, Japan und andere Geberländer, lediglich Absatzmärkte für ihre Weizen- und Reisüberschüsse zu suchen. Außerdem sind die Weltmarktpreise für Reis in den letzten zwei Jahren um fast die Hälfte gefallen. Die bäuerliche Landwirtschaft steht laut Expertenmeinung (JP, 24.4.2001) kurz vor dem Zusammenbruch. Dies wird den Zustrom in die Städte weiter beschleunigen und dort die Zahl der Armen zunehmen lassen.

Die Bewegungen

Kämpfe gibt es viele, sehr viele, in allen Bereichen. Man kommt trotzdem um den Eindruck nicht rum, daß sich der politische Elan von '98 verbraucht hat, vor allem an den Unis ist der Schwung raus. Nicht mal die an einigen Universitäten drastisch gestiegenen Studiengebühren lösten nennenswerte Proteste aus. Religiöse Gruppen spielen wieder eine große Rolle.

Auf dem Land gibt es weiterhin viele Demos und Besetzungen, bei denen es um Grund und Boden geht, der in der Soehartozeit zugunsten von Staatsplantagen oder Fabriken enteignet oder zu Spottpreisen den Bauern zwangsweise abgekauft wurde. Dabei kann es schon mal zu Zusammenstößen zwischen Bauern, die ihr Land zurück haben wollen, und Fabrik- oder Plantagenarbeitern kommen. Die meisten Angriffe auf protestierende Bauern kommen aber von den bezahlten Schlägern der Unternehmen.

Bei den »urban poor« organisieren vor allem NGOs. Typisch für solche Organisationen sind die jungen ehrenamtlichen Aktivisten, meist Studenten. Nachdem sich viele junge Leute in der inzwischen abgeschlafften Studentenbewegung politisiert haben, versuchen sie in anderen Bereichen zu organisieren. Einige dieser NGOs sind eher humanitär, andere setzen auf Schulung und Förderung der Selbstorganisation. In vielen Städten haben sich mit Hilfe solcher NGOs Becak(Fahrradrikscha-)fahrer organisiert.

Das Wall Street Journal (24. Mai 2000) thematisiert unter der Überschrift »Indonesia Worker Strikes on Rise, May Slow Recovery« die zunehmenden Arbeitskämpfe in Indonesien, die »einheimischen und ausländischen Unternehmen schwere Kopfschmerzen bereiten«. Die Zahl der Arbeitskämpfe soll sich im Jahr 2000 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt haben (JP, 25.4.00). Aber diese vielen Streiks kommen immer noch nicht zusammen. Wenn in einem Industriegebiet nur wenige hundert Meter voneinander zwei Streiks in ähnlichen Betrieben stattfinden, kommen die ArbeiterInnen nicht auf die Idee, zusammen was zu machen, u.a. deshalb, weil sie in verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind. Es gibt Dutzende registrierte Gewerkschaftsverbände und hunderte Einzelgewerkschaften.

Inhaltlich haben sich die Arbeiterkämpfe auch nicht weiterentwickelt. Beispiel: Die erfaßten Arbeitsunfälle stiegen zwischen 1995 und 1999 um mehr als 20%, von den ca. 170 000 indonesischen Unternehmen haben nur ca. 1600 Programme zum Schutz der Gesundheit ihrer Beschäftigten, trotz der teilweise fürchterlichen Arbeitsbedingungen sind Forderungen nach Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz immer noch selten.

Ende der 80er Jahre gab es in Südkorea eine Situation, die an Indonesien '98 erinnert. Eine gegen die Diktatur gerichtete Studentenbewegung und Arbeiterkämpfe brachten das System in ernste Schwierigkeiten. Diese revolutionäre Drohung wurde mit Demokratisierung und erheblichen Lohnsteigerungen aufgekauft. Die zunächst radikalen und militanten Gewerkschaften entwickelten sich zu Ordnungsfaktoren. In Indonesien sind die Gewerkschaften noch auf dem Weg zu solchen integrierenden Vermittlungsinstitutionen.

Nach '98 haben sich die Arbeiteraktivisten (meist ehemalige Studenten), die plötzlich nicht mehr im Untergrund waren, erstmal an die neuen Möglichkeiten gehalten. Und sie haben den ArbeiterInnen nix zugetraut. Und Angst gehabt vor einem Rückschlag, wenn man zu schnell vorgeht. Ein selbst miterlebtes Beispiel: Das örtliche Büro eines kleinen Gewerkschaftsverbandes wird von über hundert jungen Arbeiterinnen gestürmt, die streiken wollen und von den Gewerkschaftern Hilfe und juristischen Rat bei der Vorbereitung des Streiks wünschen. Man diskutiert lange, welche Forderungen man aufstellen soll. Es stellt sich heraus, daß die Firma bereits alle gesetzlichen Vorschriften einhält. Schließlich bekommen die ArbeiterInnen den Rat, erstmal eine Gewerkschaft im Betrieb zu gründen. Ohne Gewerkschaft hätten die jungen Frauen wahrscheinlich einfach gestreikt.

Es sind nicht nur die Gewerkschaftsaktivisten, die den ArbeiterInnen nahe legen, die verbesserten rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen. In einer Zigarettenfabrik gab es innerhalb von acht Monaten neun Streiks. Die ersten Streiks waren noch spontan und ohne Forderungen. Sie entstanden aus der Wut über Zumutungen der Firma, noch ohne Ziel, wie eine Arbeiterin sagt. Dann wurde die Forderung nach bezahlten freien Tagen aufgestellt. Die aktivsten Frauen trafen sich privat und stellten, in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Rechtshilfeinstitut, für die nächsten Streiks zunächst fünf, dann 15 Forderungen auf, z.B. Überstundenzuschläge, bezahlte Freistellung bei Menstruation, drei Monate bezahlten Schwangerschaftsurlaub, Essensbonus, etc. Solche Forderungen werden als »normatif« bezeichnet, weil damit gesetzliche Vorschriften, die das Unternehmen nicht einhält, eingefordert werden. Sie spielen bei vielen Streiks eine Rolle. Durch die neuen Gesetze, die Streikteilnehmer unter bestimmten Bedingungen vor Entlassungen schützen, hat man die Chance, ein bißchen was durchzusetzen, wenn man sich an die Regeln hält. Immerhin konnten nach dem Kriseneinbruch wieder steigende Arbeiterlöhne erreicht werden. Daß ArbeiterInnen eine kämpferische Stimmung im Betrieb nutzen, um materielle Verbesserungen durchzusetzen, ist angesichts des Elends nur zu verständlich, aber eigentlich sind die Gründe für die Wut viel allgemeiner. Manchmal kann man das an den Forderungen noch erkennen, wenn z.B. die Ablösung eines besonders unverschämten Vorgesetzten verlangt wird, oder das Recht, bei der Arbeit Make-up tragen zu dürfen.

Diejenigen, die radikalere Vorstellungen haben, oder militanter kämpfen wollen, müssen mit Repressionen rechnen und manchmal nicht nur die. Die indonesischen Unternehmen, allen voran jene, bei denen Lohnkosten einen hohen Anteil an den Produktionskosten haben (z.B. Textil- und Schuhfabriken), sind nämlich gar nicht froh über Gewerkschaftsbildung und Streikrecht. Vor 1998 kamen 95% aller Beschwerden ans Arbeitsministerium von Arbeiterseite, heute kommt die Hälfte von den Arbeitgebern. Im März 2001 wurden die streikenden Arbeiter der Autositzefabrik PT Kadera, die die Fabrik besetzt hatten, von 500 angeheuerten Schlägern angegriffen, zwei Arbeiter getötet. Es kommt immer wieder vor, daß Gewerkschafter entlassen werden, entweder nur die »Rädelsführer« oder gleich alle Streikteilnehmer. Wenn es militante Aktionen gegeben hat, oder auch einfach nur Blockaden, müssen Gewerkschafter nach wie vor damit rechnen, wegen Anstiftung zu strafbaren Handlungen im Knast zu landen. Und Arbeitsgesetze, die demnächst in Kraft treten sollen, werden es zukünftig noch leichter machen, Rädelsführer zu entlassen.

Internationale Kontakte sind für indonesische ArbeiterInnen schwierig. Fast niemand spricht Englisch, obwohl es großes Interesse am Englischlernen gibt. Deshalb kommt Zusammenarbeit/Diskussion/Solidarität vor allem über internationale Gewerkschaftsverbände oder NGOs zustande, zu deren Bedingungen natürlich. Es gibt etliche Solidaritätskampagnen von politisch Aktiven in den reichen Ländern für die ArbeiterInnen in Indonesien (und anderswo), wobei an die Leute in den Industriestaaten meist als Konsumenten (der von den ausgebeuteten Billiglohnarbeitern in der Dritten Welt hergestellten Waren) appelliert wird. Internationale Arbeitersolidarität ist nach wie vor selten.

Eine Protestbewegung gegen die internationalen Kapitalinstitutionen ist erst am Anfang und bisher fast ausschließlich eine Angelegenheit von NGO-Aktivisten.

Schlußfolgerung

Im Juni '98 formulierten wir: »Aber Not, Elend und enttäuschte Hoffnungen allein reichen nicht, um Revolution zu machen. Notwendig ist ein Prozeß von gesellschaftlicher Diskussion, proletarischer Selbstorganisierung und von Kämpfen, auch innerhalb der proletarischen Klasse selber. Wir können hoffen, daß dieser Prozeß im Rahmen der politischen Öffnung in Indonesien vorangeht.«

Ein Arbeiter hat die Frage, warum es in Indonesien keine Revolution gegeben hat, so beantwortet: Für die Arbeiter hat sich im Alltag erstmal nicht soviel geändert, außer daß sich die Bewältigung des täglichen Lebens wegen der Krise als noch schwieriger als vorher dargestellt hat. »Reformasi« sei doch mehr eine Sache der Elite gewesen. Die Freiheit und Möglichkeiten zu organisieren und zu streiken haben die Arbeiter schon gerne wahrgenommen und genutzt. Aber auch gemerkt, daß sich die Strukturen nicht wesentlich geändert haben. »Makan dulu, Revolusi nanti.« (Erst kommt das Essen, dann die Revolution«)

Für das Proletariat hat es keine »Reformasi« gegeben. Im Gegenteil: Es gelingt der herrschenden Klasse bisher, die Kosten der Krise auf die Armen - Arbeiter im formellen und informellen Sektor, Bauern, Arbeitslose - abzuwälzen. Die bezahlen durch einen niedrigeren Lebensstandard, während es sich die Mittel- und Oberschicht sichtbar gutgehen läßt.

Es ist nicht entschieden, wie sich die derzeitigen Blockaden lösen werden. Revolution würde voraussetzen, daß sie auf Akzeptanz stößt, unter den Kollegen, Nachbarn etc. Das wiederum setzt die Entwicklung von Arbeitermacht und Gegenkultur voraus. Diese Entwicklung ist in den letzten drei Jahren nur schleppend vorangegangen, u.a. deshalb, weil in 30 Jahren Diktatur der Antikommunismus Staatsideologie war und den Leuten von klein auf eingetrichtert wurde. Ablehnung von allem, was kommunistisch sein könnte, ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Und vor allem gibt es noch immer große Angst davor, mit Kommunismus in Verbindung gebracht zu werden.

Falls die Wirtschaftsflaute in den USA, Europa, Japan länger anhält, auf Indonesien durchschlägt und sich dadurch die Lebensbedingungen weiter verschärfen, kann leicht wieder eine explosive Situation wie '98 entstehen. Und dann wird es keine Illusionen in Demokratie oder Reformen mehr geben. Vielleicht gelingt es den Herschenden ja, die Wut in proletarische Selbstzerfleischung umzulenken, wie so oft in Indonesien. Vielleicht aber auch nicht und der Klassenhaß trifft ausnahmsweise mal die Richtigen.

Welt in Umwälzung, 21.5.2001


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