Wildcat-Zirkular Nr. 61 - Januar 2002 - S. B29 [z61caffe.htm]


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Warum diese Verzweiflung?

George Caffentzis

[A Essay on the Events of September 11, 2001 - Addressed to the Antiglobalization Movement]

Öl und Fundamentalismus

Aus einem größeren Blickwinkel betrachtet, können die Ereignisse des 11. September auf die ökonomische, soziale und kulturelle Krise zurückgeführt werden, die sich in Nordafrika, im Mittleren Osten und Westasien als Folge des Golf-Kriegs entwickelt hat, sowie auf den vorausgegangenen beschleunigten Globalisierungsprozeß seit den späten 70er Jahren. [1]

Das erste Merkmal dieser Krise war die zunehmende Verarmung der städtischen ArbeiterInnen und der Bauern in diesen Regionen gewesen, verursacht durch die Politik der Strukturanpassungsprogramme (SAP) und Importliberalisierung, die wir auf den Beginn der ägyptischen »Politik der offenen Tür« zurückdatieren können. Eine Politik, die Anwar Al-Sadat 1981 das Leben kostete und den Aufschwung des islamischen Fundamentalismus [2] als neue politische Kraft mit sich brachte.

Von den »Brotrevolten« 1976 in Kairo bis zu den Aufständen in Marokko und Algerien 1988, die in Blutbädern endeten, bis zu den jüngeren Anti-IWF-Protesten in Jordanien (und die Liste ist viel länger) sind die Probleme der Arbeiter, die am Existenzminimum leben, immer dramatischer geworden. Sie haben zu erheblichen Spaltungen innerhalb der kapitalistischen Klassen von Marokko bis Pakistan in der Frage geführt, wie mit dieser Rebellion von unten umgegangen werden soll.

Ein weiterer Beitrag zur Krise ist die Situation in Palästina gewesen. Durch den Golf-Krieg, den vermehrten Siedlungsbau, den Versuch, Jerusalem zu besetzen und durch die zunehmende Repression als Antwort Israels auf die palästinensischen Forderungen hatte sich die Situation verschärft.

Der wichtigste Faktor der Krise war jedoch die hegemoniale Rolle der USA in dieser Region. Die USA verwüsteten den Irak, die US-Regierung war als Eigentümerin am Management der Ölressourcen im Mittleren Osten beteiligt, die USA errichteten amerikanische Militärbasen mitten im heiligsten Land des Islam, in Saudi-Arabien. In all diesen Fällen entstanden tiefe Spaltungen innerhalb der herrschenden Klassen, die die proamerikanischen Regierungen untergruben. Die herrschenden Klassen aus königlichen Dynastien der arabischen Halbinsel sahen sich mit einer Dissidentengeneration konfrontiert, die aus ihren eigenen Reihen stammte. Im Namen des Koran beschuldigten diese Dissidenten ihre Regierungen der Korruption, der Ressourcenverschwendung, des Ausverkaufs an die USA und des Verrats am Islam, während sie gleichzeitig den Arbeiterklassen Nordafrikas, des Mittleren Ostens und Westasiens einen alternativen »Sozialvertrag« offerierten und ihren Wohlstand einsetzten, um ein multifunktionales Netzwerk von Gruppen zu schaffen, die sich über alle Kontinente ausbreiteten und eigenständig agierten.

Während des letzten Jahrzehnts hat sich nicht nur die internationale Krise zugespitzt, sondern auch der Antagonismus zwischen den islamisch-fundamentalistischen Netzwerken und den USA und deren Unterstützern in den islamischen Ländern selbst. Dieser Konflikt hatte in einigen Ländern bereits in den neunziger Jahren in die Sackgasse geführt. Die Islamische Heilsfront (FIS) in Algerien beispielsweise, die nach den Anti-SAP-Protesten im Jahre 1988 sehr schnell wuchs und bei den Wahlen 1991 fast zur Staatsmacht geriet, wurde durch einen Militärputsch eingedämmt. Während der letzten zehn Jahre, in denen bei einem schrecklichen Bürgerkrieg zwischen 60 000 und 70 000 Menschen umgebracht wurden, sind die islamischen Fundamentalisten in Algerien durch Zermürbung und militärische Repression entscheidend geschwächt worden. In Ägypten hat das Mubarak-Regime, genau wie in Algerien, nicht nur zu unmittelbaren Unterdrückungsmaßnahmen gegriffen, sondern ein System mikroskopischer sozialer Überwachung eingeführt. Denn »die Mubarak-Regierung versuchte, die Ausbreitung von privaten Moscheen und mit ihnen verbundenen Wohlfahrtsstiftungn einzudämmen und ihre nebenstaatliche Autonomie zu beenden« (Faksh 1997:54) Als Ergebnis erlitt der Fundamentalismus im wahrscheinlich zweitwichtigsten islamischen Staat eine seiner wichtigsten Niederlagen. Diesen Rückschlägen hatten auch die Fundamentalisten, die im Sudan und in Afghanistan die Staatsmacht übernahmen, nichts entgegenzusetzen, da sie in beiden Ländern das Erbe eines lang andauernden Bürgerkriegs antraten, den zu beenden sie bis heute nicht in der Lage waren.

Aber diese Pattsituation war noch keine Niederlage. Der islamische Fundamentalismus übt auf die herrschenden Klassen der reichen islamischen Nationen weiterhin seine Anziehungskraft aus. Dieser innere Widerspruch hat ein wirres Knäuel von Konsequenzen geschaffen, das nun viele Leute in der US-Regierung und den Regierungen des Nahen Ostens beunruhigt und in Gefahr bringt. Schließlich waren sie es, die diese Dissidentengeneration finanziert und ausgebildet haben, die sich jetzt gewaltsam gegen sie richtet. Da die Loyalität in den herrschenden Klassen des Mittleren Ostens gespalten war, wurde einerseits ein Teil der Öleinnahmen dazu benutzt, Angriffe auf die Symbole der Neuen Weltordnung zu finanzieren. Auf der anderen Seite hat die US-Regierung in ihrem Bemühen, die Sowjetunion in Afghanistan zu destabilisieren, viele Mitglieder des Dissidentenzweigs der herrschenden Klassen des Mittleren Ostens finanziert und ausgebildet.

Verwicklung des Bush-Clans

Die bewaffneten islamischen Fundamentalisten wurden nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan 1989 weiterhin von der Regierung unbürokratisch finanziell und militärisch unterstützt. Diese militanten Kräfte spielten bis zum 10. September 2001 in der US-Politik gegen Jugoslawien (in Bosnien und im Kosovo) und Rußland (in Tschetschenien, Dagestan, Usbekistan) eine wichtige ökonomische, militärische und ideologische Rolle. Offensichtlich sah die Vereinbarung folgendermaßen aus: Ihr erledigt die Schmutzarbeit und destabilisiert und bekämpft weltliche kommunistische, sozialistische und nationalistische Regimes in Osteuropa, Kaukasien und Zentralasien, dafür erhaltet ihr eine Belohnung. Sie bekamen die versprochene Belohnung nicht: die Machtübernahme auf der arabischen Halbinsel, dem Herzen der islamischen Welt.

Diese allgemeinen Fakten über den versteckten Bürgerkrieg in den ölproduzierenden Ländern von Algerien bis Iran dienen dazu, das Umfeld der Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon zu beschreiben. Sie helfen uns jedoch noch nicht zu verstehen, warum die Anschläge im September 2001 stattfanden und warum der Widerstand gegenüber den USA eine so verzweifelte Form annahm.

Die Anschläge sind Zeichen von Verzweiflung und keine von Stärke. Sie laufen auf eine vernichtende militärische Reaktion seitens der USA hinaus, mit vorhersehbaren Folgen: der Vernichtung Tausender militanter islamischer Fundamentalisten sowie erheblicher Schäden für die Bevölkerung in Afghanistan und in vielen anderen Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens und Westasiens. Offenbar muß etwas sehr Wichtiges im Gange gewesen sein, daß die Täter des 11. September solch verzweifelte Maßnahmen ergriffen.

Was könnte das gewesen sein? Wenn meine Hypothese stimmt, liegt die Ursache für diese Verzweiflung in Ereignissen im geographischen Zentrum des Islam, in Saudi-Arabien. Meiner Ansicht nach haben die politischen Faktoren, die die Massenmorde und die Selbstmorde am 11. September ausgelöst haben, mit der Ölindustrie und mit der Globalisierung der arabischen Halbinsel zu tun. Im folgenden beschreibe ich diese Geschichte.

Freihandel mit den Saudis

Im Jahr 1998 (nach dem Zusammenbruch der Ölpreise aufgrund der asiatischen Finanzkrise) nahm eine Entscheidung der Saudi-Monarchie ihren Lauf, die eigene Wirtschaft und Gesellschaft aus »strategischen Gründen« zu globalisieren. Das begann mit dem Ölsektor. Die Ölindustrie war seit 1975 nationalisiert. Das bedeutete, daß ausländische Investoren sich nur an »nachgeordneten« Unternehmungen wie den Raffinerien beteiligen durften. Im September 1998 aber traf Kronprinz Abdullah sich in Washington D.C. mit den Vorstandsvorsitzenden verschiedener Ölfirmen. Laut Gawdat Bahgat »bat der Kronprinz die Vorstände der Ölgesellschaften darum, ihm unmittelbar Empfehlungen und Vorschläge darüber zu unterbreiten, welche Rolle ihre Firmen bei der Ausbeutung und dem Ausbau sowohl der vorhandenen als auch neuer Öl- und Erdgasvorkommen spielen könnten« (Gawdat Bahgat: Managing Dependence. AmericanSaudi Oil Relations. Arab Studies Quarterly, Heft 23/2001).

Diese »Empfehlungen und Vorschläge« wurden dann zu Beginn des Jahres 2000 einem Obersten Erdöl- und Mineralrat vorgelegt (nachdem der Kronprinz ihnen zugestimmt hatte). Mitte 2000 ging die saudi-arabische Regierung vorsichtig daran, sie umzusetzen, indem sie ein neues Ausländerinvestment-Gesetz verabschiedete. Danach »sind Steuerbefreiungen abgeschafft zugunsten radikaler Steuersenkungen auf Profite ausländischer Unternehmen. Damit nähern sich diese dem Niveau für inländische Unternehmen. Vollständig in ausländischer Hand befindliche Unternehmen haben das Recht, Land zu besitzen, ihre eigenen Angestellten zu fördern und von Staatskrediten zu profitieren, die zuvor nur saudi-arabischen Unternehmen zustanden« (Bahgat). Es liegt auf der Hand, warum »das Recht, Land zu besitzen« für jeden ein rotes Tuch sein muß, der sich der heiligen Rolle der arabischen Halbinsel verpflichtet sieht.

Die Experten rissen sich in ihrem Bemühen, die neue Investitionsregelung zu beleuchten, buchstäblich ein Bein aus. Einer von ihnen beschrieb sie mit den folgenden Worten: »Jubeln wir nicht zu früh, aber es sieht so aus, als gäbe Arabien nach fast siebzig Jahren seine restriktive, ja, unfreundliche Politik gegenüber ausländischen Investitoren auf«. Dieses Gesetz errichtete in der Tat ein Abkommen, ähnlich der nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA, zwischen dem saudi-arabischen Monarchen und den US-amerikanischen und europäischen Ölgesellschaften. Zur gleichen Zeit, als dieses Gesetz diskutiert wurde, kündigte ein Ausschuß des Ministeriums an, daß innerhalb des nächsten Jahrzehnts Investitionen von bis zu 500 Milliarden US-Dollar getätigt werden würden, um die nationale Wirtschaftsform Saudi-Arabiens zu verändern. 100 Milliarden Dollar dieser Investition waren bereits von ausländischen Ölfirmen zugesagt worden.

Im Mai 2001 wurde dann der erste konkrete Schritt in diesem forcierten Globalisierungsprozeß vollzogen, als Exxon/Mobil und die Royal Dutch/Shell-Gruppe an der Spitze acht anderer ausländischer Unternehmen (einschließlich Conoco und Enron aus den USA) ein 25 Milliarden Dollar teures Erdgas-Entwicklungsprojekt in Saudi-Arabien übernahmen. Die Finanzpresse bemerkte, daß das Geschäft an sich nicht besonders lukrativ sein würde, aber daß »es Teil eines langfristigen Schachzugs der Ölgesellschaften sei, [die] endlich wieder einen Zugang zum Saudi-Rohstoff haben wollen« (LA Times 19.5.2001).

Auf diese Weise fielen bis zum Sommer 2001 die Würfel für die saudiarabische Monarchie. Sie überschritt damit in gesetzlicher, sozialer und ökonomischer Hinsicht den Rubikon der Globalisierung. Sie »globalisierte« nicht, weil die saudi-arabischen Schulden nicht in den Griff zu bekommen gewesen wären, sondern weil der König und seine Kreise angesichts einer immer stärker werdenden Opposition realisierten, daß sie nur mit dem Rückhalt der USA und der Europäischen Union hoffen konnten, in den kommenden Jahren an der Regierung zu bleiben.

Die Strategie zielte darauf ab, die zunehmend hohe Arbeitslosigkeit junger saudi-arabischer Bürger, die Abhängigkeit vom Ölexport und die enorme Menge ausländischer Arbeitskräfte zu reduzieren, indem die Wirtschaft wieder angekurbelt werden sollte (1993 gab es 4,6 Millionen ausländische Arbeiter bei einer Gesamtbevölkerung von 14,6 Millionen, heute sind es ungefähr sechs bis sieben Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von 22 bis 23 Millionen). Dies erforderte eine radikale Abkehr von den gruppenspezifischen sozialen Kontrollmethoden, die die saudische Monarchie in der Vergangenheit angewendet hatte, um den sozialen Frieden zu erhalten, und die bis vor kurzem durch ihren immensen Ölreichtum möglich waren. Aber dieser Reichtum ist nicht unendlich und sank tatsächlich, gemessen an der Einwohnerzahl. Zum Beispiel sank das Bruttosozialprodukt pro Kopf von 1983 bis 1993 von ungefähr 13 000 auf 8 000 US-Dollar und ist seit dieser Zeit weiter gefallen.

Eine solche Initiative würde die Wirtschaftspolitik der Regierungen anderer ölfördernder Länder in der Region unvermeidlich beeinflussen, besonders jene der Staaten des Golfkooperationsrates - Oman, Katar, Vereinigte Arabische Emirate, Bahrein und Kuweit. Falls sie funktionierte, würde diese Strategie der islamistischen Opposition einen entscheidenden Schlag versetzen. Diese würde keine Glaubensschüler mehr rekrutieren können, weil diese jetzt in den höheren Etagen der globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft angestellt würden, statt politisch machtlos zu sein und durch lange Perioden der Arbeitslosigkeit in die Verzweiflung getrieben zu werden. Die Einführung von ausländischem Besitz an Boden und natürlichen Ressourcen, gedeckt durch hohe Investitionen und die Einstellung weiterer Auswanderer aus Europa und den USA, würde zwangsläufig zu erheblichen sozialen Veränderungen führen.

Das Katz- und Mausspiel, das die Saudi-Monarchie mit den fundamentalistischen Dissidenten gespielt hatte (wobei der König und seine Monarchie den Anspruch hatten, noch fundamentalistischer zu sein als jene), sollte somit ein Ende haben. Welche Hoffnung die islamische Opposition in den herrschenden Klassen der arabischen Halbinsel auch immer gehegt haben mochte - etwa ihre Regierungen zu bewegen, die amerikanischen Truppen nach Hause zu schicken und die Einkünfte aus dem Öl in die Wirtschaft eines wiederauflebenden Islam zu investieren - sie sah sich im Sommer 2001 einer historischen Krise gegenüber. Ohne eine entscheidende Wende hätte die islamisch-fundamentalistische Opposition einem (»totalen«) Bürgerkrieg in ihren eigenen Ländern oder ihrer eigenen Auslöschung ins Auge sehen müssen.

Bestimmte Elemente dieser Opposition müssen (oder könnten) entschieden haben, daß nur eine spektakuläre Aktion, wie die Flugzeugentführungen vom 11. September und die Vernichtung Tausender Menschen in New York und Washington, das Blatt noch wenden kann. Vielleicht hofften sie, daß die Anschläge in Amerika so viel Tumult und Unsicherheit auslösen würden, daß ein strategischer Rückzug der USA von der arabischen Halbinsel erreichbar gewesen wäre. Die Bombardierungen im Libanon 1983 hatten auch dazu geführt, daß die USA sich von dort zurückzogen.

Die Reaktion von Bush: »Krieg gegen den »Terrorismus« und das Eindringen der US-Armee in Zentralasien

Es ist wichtig, daß wir die politischen und ökonomischen Ziele der Flugzeugentführer und ihrer Komplizen verstehen. Aber noch wichtiger wird es sein, daß wir uns über die Agenda der Bush-Regierung im klaren sind. Man braucht nicht in Verschwörungstheorien zu verfallen, um zu erkennen, daß die Bush-Regierung die Ereignisse des 11. September dazu benutzt, ihr eigenes Programm durchzusetzen. Sie hat die Morde und die Zerstörungen des 11. September strategisch genutzt, um in zwei klar ersichtlichen Bereichen voranzukommen. Zum einen zur konzeptionellen Umgestaltung des politischen Horizonts, zum anderen zum geopolitischen Vorstoß in die früheren zentralasiatischen Republiken der UdSSR, die 1991 zu Nationalstaaten geworden waren.

Diese Staaten, insbesondere Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan, besitzen bedeutende Öl- und Gasreserven. »Die nachgewiesenen und vermuteten Energiereserven in oder nahe der kaspischen Region - darunter allein mindestens 115 Milliarden Barrel Öl - sind faktisch um ein Vielfaches größer als die der Nordsee und würden durch fortgesetzte Förderung bedeutend ansteigen. Derartig umfangreiche Ressourcen könnten den US-Gesellschaften und ihren Anteilseignern riesige Gewinne bringen. Amerikanische Firmen besitzen bereits 75 Prozent der gigantischen Ölfelder von Tengiz in Kasachstan. Sie sind inzwischen mehr als zehn Milliarden Dollar wert.« (Jan Kalicki, Foreign Affairs, September/Oktober 2001)

Kenner der Ölindustrie und Kritiker des NATO-Krieges in Jugoslawien kamen nach dem 11. September sofort zu der Erkenntnis, daß dieser Krieg der USA gegen Osama bin Laden und seine Unterstützer in der Taliban-Regierung gleichzeitig ein Weg ist, eines der wichtigsten Ziele der US-Außenpolitik in der postkommunistischen Ära wahrzunehmen. Das neue »Große Spiel«, das »Krieg um Öl und Destabilisierung Zentralasiens« heißt, war leicht zu dokumentieren, da viel des relevanten Materials 1999 recherchiert worden ist. In dieser Zeit versuchten viele, die Gründe der Clinton-Regierung für die Einmischung in den JugoslawienKrieg zu verstehen, die jenseits der lauthals verkündeten Sorge um die humanitären Rechte der Kosovaren lagen. Es wurde damals klar, daß einer der Gründe, warum die USA Jugoslawien angriffen, darin bestand, den Russen einzuschärfen, daß die USA ihre ganze Macht einsetzen würden, um die Russen davon abzuhalten, sich in US-Investitionen im Kaukasus und in Zentralasien einzumischen. Heute ist es ein Gemeinplatz, daß jeder, der die Afghanistan-Politik der Bush-Regierung verstehen wollte, den »Ölfaktor« mit einbeziehen müßte (besonders unter der Voraussetzung, daß viele Mitglieder der Bush-Regierung direkt an Öl-Gesellschaften beteiligt sind, die Unmengen in diese Region investiert haben).

Damit will ich nicht sagen, daß der geopolitische Vorstoß nach Zentralasien vor dem 11. September auf der Tagesordnung der Bush-Regierung an oberster Stelle gestanden hätte. Eine ihrer ersten Ölinitiativen hatte die Ausweitung der Bohrrechte innerhalb der USA betroffen. Tatsächlich schrieb Jan Kalicki, in der Clinton-Regierung der Spezialist für zentralasiatisches Öl, für die September/Oktober-Ausgabe von Foreign Affairs einen Artikel, in dem er sich über den Rückzug Bushs aus Zentralasien beklagt. Nachdem er die Verdienste der Clinton-Regierung aufgezählt hat, ärgert er sich darüber, daß man »nun riskiere, sich aufgrund ungenügender Aufmerksamkeit seitens der Bush-Regierung und der restriktiven US-Politik zu zerfasern. Im Gegensatz zur tatkräftigen Unterstützung der Initiativen für kaspische Energie seitens der Clinton-Regierung scheint das Bush-Team diese Angelegenheit in die hinterste Ecke verbannt zu haben«. Kalicki beendet seinen Artikel mit den Worten: »Es wäre ein ernsthafter Fehler der USA, wenn sie ihre vergangenen Erfolge und ihr Zukunftspotential in der Region durch Selbstgefälligkeit und Unaufmerksamkeit verplempern würden.« Zweifellos ist er nun erfreut über das rasche Ende von Bushs »Selbstgefälligkeit und Unaufmerksamkeit« gegenüber Zentralasien nach dem 11. September und begrüßt eine Rückkehr zum dortigen »Öl-Business as usual«.

Ein vorsichtiger Blick zurück

Die Ereignisse des 11. September und ihre Folgen sind ein gewaltiger Schlag für die Antiglobalisierungsbewegung, denn sie haben dazu geführt, daß jede Regierung der Welt öffentliche Räume sperren und jede Opposition, woher sie auch kommen mag, im Interesse der »öffentlichen Sicherheit« unterdrücken kann. Um das Heft wieder in die Hand zu bekommen, müssen wir unsere Lage begreifen: Die Antiglobalisierungsbewegung kämpft sowohl gegen die supranationalen Betreiber der Globalisierung, die sich jetzt in US-Flaggen hüllen, als auch gegen die opponierenden heimlichen Herrscher des Nahen Ostens, die sich in die islamische Flagge hüllen und für sich und ihre Anhänger einen besseren Rang in der Weltgesellschaftsordnung fordern. Wenn wir wieder handlungsfähig werden wollen, müssen wir uns befreien und unsere eigene Vergangenheit neu bewerten, um unsere Zukunft in diesem Zusammenhang zu verstehen.

Aber die grausigen Ereignisse des 11. September haben bei vielen eine Denklähmung ausgelöst, genau wie beabsichtigt. Ein erster Schritt zur geistigen Selbstbefreiung ist es, Fragen zu stellen und uns eine alternative Wirklichkeit vorzustellen. Hätte es anders sein können? Hätte es eine andere historische Möglichkeit gegeben, die nicht zur Ermordung Tausender Menschen in New York und Washington geführt hätte?

Von Seattle bis Genua

Erinnern wir uns an unsere eigene Geschichte. Von Seattle im November 1999 bis Genua im Juli 2001 stand die Antiglobalisierungsbewegung für die Erkenntnis der »Ersten Welt«, daß die supranationalen Institutionen (IWF, Weltbank, WTO, G8), die den Anspruch erhoben hatten, sich mit den wirtschaftlichen und politischen Problemen der Menschheit zu befassen, aus zwei Gründen illegitim waren: a) haben sie dabei versagt, diese Probleme zu lösen (die Schulden der »Dritten Welt« beispielsweise sind seit der Schuldenkrise in den frühen achtziger Jahren dramatisch gestiegen) und b) stehen sie der Menschheit gegenüber in keinerlei demokratischer Verantwortung (IWF und Weltbank werden z. B. weitgehend von ihren größten Anteilseignern kontrolliert: den USA, Japan und den EUStaaten).

Die Antiglobalisierungsbewegung, die Mitte der achtziger Jahre mit dem Widerstand gegen die Strukturanpassungsprogramme in den Ländern der »Dritten Welt« begonnen hatte, war schließlich in den Straßen der »Ersten Welt« wieder aufgetaucht. Sie forderte die supranationalen Institutionen auf gewaltfreie Weise auf, ihren Kurs zu ändern und demokratisch zu werden, bevor es zu spät sei. Sie forderte diese Institutionen auf, sich die Welt sorgfältig anzusehen und eine spektakuläre Geste zu machen: zum Beispiel den vollständigen Schuldenerlaß für die »Dritte Welt«.

Die Demonstrationen in Seattle im November 1999 und alle darauffolgenden sind in der Rückschau so bedeutend, weil sie die Forderungen der »Dritten Welt« auf die Straßen der »Ersten Welt« brachten. Sie zeigten, daß man die Belange der Armen und Enteigneten in Asien, Afrika und Lateinamerika in Europa und Nordamerika so ernst nahm, daß Hunderttausende Menschen bereit waren, Verhaftungen, Schläge und Folter zu riskieren, um ihre und die eigenen Belange in den Bezirken der Machthaber zum Ausdruck zu bringen. Diese Demonstrationen haben die supranationalen Institutionen jedenfalls zumindest von der Verabschiedung neuer Gesetze und Verordnungen und von der Anrichtung zusätzlichen Schadens abhalten können.

Aber das Problem war: Obwohl die Antiglobalisierungsbewegung in der Lage war, die Konferenzen der supranationalen Institutionen zu stoppen oder zu unterbrechen, wurden die positiven Forderungen der Bewegung von diesen Institutionen vollkommen abgeblockt. Weder wurde auf die Bewegung mit einem umfassenden Schuldenerlaß reagiert noch wurden faire Handelsbedingungen oder ein »Welt-Marshall-Plan« oder die Abschaffung der Weltbank und des IWF in die Wege geleitet (wie sehr auch immer die Effektivität dieser Forderungen intern diskutiert wird). Im Gegenteil, die ökonomischen und politischen Krisen, die durch die Globalisierung verursacht werden, haben sich in den letzten beiden Jahren noch verschärft.

Dazu kommt, daß die offizielle Antwort auf die Bewegung zunehmend gewaltsamer und repressiver wird. Im Juli erreichte die Gewalt in Genua ihren Höhepunkt, als die Polizei Carlo Giuliani erschoß, Hunderte Aktivisten schwer verletzte und folterte und Tausende von ihnen verprügelte.

An dieser Stelle müssen wir die Frage stellen: Was wäre passiert, wenn anstelle dieser Repression während des G-8-Gipfels in Genua im Juli 2001 die Entscheidung getroffen worden wäre, der »Dritten Welt« alle Schulden zu erlassen? Stellen wir uns das vor.

Ungleicher Kampf

Es waren jedenfalls nicht nur diese beiden Kräfte, die sich 2001 gegenüberstanden - der Kreis der sich globalisierenden Kapitalisten und die Antiglobalisierungsbewegung, die sich aus Tausenden von Gruppen aus der Bauern-, Arbeiter-, der feministischen, der Umwelt- und der Menschenrechtsbewegung in der ganzen Welt zusammensetzt. Es gab noch eine dritte: die bewaffneten Militärs des islamischen Fundamentalismus, die die politische Forderung der Dissidenten der islamischen Herrscherklasse repräsentierten.

Diese Gruppe hatte und hat sich der tödlichen Gewalt, dem Patriarchat und der Wiedererlangung der Kontrolle der Energieressourcen von Algerien bis Indonesien seitens der herrschenden Klasse gegen die Ansprüche der transnationalen Ölgesellschaften verschrieben. Sie trat in das Vakuum der Hoffnungslosigkeit, das die Pattsituation zwischen der Antiglobalisierungsbewegung und den supranationalen Betreibern der Globalisierung unausweichlich geschaffen hatte - angetrieben von der eigenen Krisensituation, wie es weiter oben beschrieben wurde.

Aufgrund dieses vorsichtigen Rückblicks komme ich zu der Ansicht, daß wir Globalisierungsgegner uns nicht zwischen den großen Bomben Bushs und den kleineren Bomben des islamischen Fundamentalismus aufreiben lassen oder das Opfer im ungleichen Kampf zwischen den gigantischen und den kleinen Elefanten werden dürfen. Momentan wäre nur die Antiglobalisierungsbewegung in der Lage, einen Ausweg aus dieser höllischen Dialektik von Mord und Selbstmord zu finden. Jene ist gerade von den Streitkräften des Weltkapitals und den Verursachern des Massakers vom 11. September in die Vergessenheit katapultiert worden.

Ausblick

Nach meiner Hypothese sind also in New York City und Washington D. C. nicht nur Tausende Menschen zum Bauernopfer im Machtkampf der fortlaufenden »Ölkriege« des Nahen Ostens geworden. Die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon haben uns auch auf eine politische Struktur zurückgeworfen, wie sie während des Kalten Krieges überwiegend herrschte. Bei dieser Struktur haben wir als Globalisierungsgegner es mit beiden Seiten zu tun, denn keine von ihnen vertritt die Interessen der arbeitenden Bevölkerung irgendwo auf der Welt. Die Frauenfeindlichkeit der islamischen Fundamentalisten - die in der offenen Sklaverei, mit der die Taliban liebäugeln, ihren Höhepunkt erreicht - die autokratische Manier, in der die Scharia vielen Bürgern gegen ihren Willen aufgezwungen wurde, die Grausamkeit der Bestrafungen, die jene trifft, die sich nicht an die Gesetze halten (einschließlich der Todesstrafe) und der chauvinistische Stempel des Islam, der allen sozialen Schichten von selbsternannten islamisch-fundamentalistischen Regierungen wie denen in Afghanistan oder im Sudan aufgedrückt wird - all das spricht hier eine eindeutige Sprache.

Darum ist es wichtig, daß die Antiglobalisierungsbewegung in diesem Zusammenhang eine unkriegerische und unpatriarchale Alternative zur tödlichen Politik der Fundamentalisten und ihrer globalisierenden Widersacher anbietet. Wir müssen darstellen, daß wir die Probleme aufzeigen können, die zu dieser Situation geführt haben:

Es ist außerdem von höchster Wichtigkeit, daß die Antiglobalisierungsbewegung anfängt, eine Verbindung zum Nahen Osten aufzubauen und dessen dringlichste Forderungen aufzeigt. Es liegt auf der Hand, daß es für die Täter des Massakers am 11. September viel schwieriger gewesen wäre, alle Menschen in den USA als Feinde des Islams hinzustellen, wären wir in diesem Punkt schon weiter. Ebenso wäre es auch für die USRegierung viel schwieriger, wahllos nordafrikanische, mittelöstliche und westasiatische Länder zu bombardieren.

Der Aufbau solcher Verbindungen wird viele Schwierigkeiten mit sich bringen, nicht nur logistisch. Man kann jedoch mit Verbindungen zu den nahöstlichen und westafrikanischen Einwanderergemeinschaften in unseren eigenen Ländern anfangen. Entscheidend ist dabei auf jeden Fall, eine Situation zu vermeiden, wie sie während des Kalten Krieges auftrat, als für ein halbes Jahrhundert die russische Arbeiterklasse und die Arbeiter aus Nordamerika und Europa so gut wie keinen Kontakt hatten. Ausnahmen kamen nur durch die Vermittlung kommunistischer Parteien zustande, mit dem Ergebnis, daß in den neunziger Jahren die »Experten« der US-Gewerkschaft AFL-CIO selbst die anscheinend militantesten unter den sowjetischen Arbeitern, die Bergarbeiter, zum Narren halten konnten, so daß diese in den letzten Tagen der Sowjetunion einer Privatisierung zustimmten.

Die Kraft der Antiglobalisierungsbewegung liegt in ihrem Potential, einen realen, nicht nur ideologischen politischen Kampf der arbeitenden Menschen in der Welt gegen die Pläne des globalisierenden Kapitals zu führen. Indische Bauern, kanadische Handelsgewerkschafter, europäische Studenten marschierten, diskutierten und organisierten bei den großen Antiglobalisierungsaktionen der letzten zwei Jahre gemeinsam. Diese wachsende Vereinigung von Menschen über alle Grenzen der geographischen, religiösen, geschlechtlichen oder politischen Zugehörigkeit hinweg hat die Tagesordnung sowohl der islamischen Fundamentalisten als auch der kapitalistischen Globalisierer durcheinandergebracht.

Der selbstmörderische Angriff auf Washington und New York genauso wie die Antwort der Bush-Regierung sind daher auch Angriffe auf die Antiglobalisierungsbewegung. Denn beides zielt darauf ab, immer mehr Entzweiung und Verzweiflung in der Arbeiterklasse auf der ganzen Welt zu säen. Dabei war sie gerade so weit, sich langsam eine gewaltfreie, unchauvinistische, unrassistische und unsexistische alternative Realität vorstellen zu können, was sich sowohl in Worten als auch in Bildern ausdrückte.

Es ist von entscheidender Bedeutung, daß wir nicht zulassen, daß die Kriegstrommeln und die zunehmende Beschneidung ziviler Freiheiten und der Freiheit, sich über Grenzen hinweg zu bewegen, die Oberhand gewinnen und die Organisationserfolge der Antiglobalisierungsbewegung zunichte machen.

(Übersetzung aus dem Englischen: Regina Schwarz)

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Fußnoten:

[1] Die Beschreibung der Kette von Nationalstaaten, die einer naiven politischen Geographie nach bei Marokko beginnt und bis Pakistan reicht, hat einige Schwierigkeiten bereitet. Sie ist nicht arabisch, aber ist sie islamisch? Unterliegt eine solche Beschreibung nicht dem Orientalismus? Schließlich beschreiben wir den Nationenbogen von Chile über Russland über Irland nach Island auch nicht generell als Christentum, obwohl die dominierende Religionszugehörigkeit (wenn sie denn eine haben) ihrer Bevölkerungen zu irgendeiner Sorte Christentum gehört. Aber wenn weder arabisch noch islamisch, was dann? Mit dem Wissen um diese Probleme habe ich in diesem Essay Begriffe benutzt, ohne unbedingt immer davon auszugehen, daß sie die Wirklichkeit genau treffen.

[2] Wiederum ein Problem: was ist islamischer Fundamentalismus? Jeder Definitionsversuch ist schwierig, wenn in Betracht gezogen wird, dass es viele Gruppen und Bewegungen gibt, die sich als islamische Fundamentalisten begreifen, oder die als solche beschrieben werden. Zum Zwecke einer Einordnung der Ideologie kann man sagen, daß islamische Fundamentalisten einen islamischen Staat errichten wollen, der an den Lebensgewohnheiten der frühen muslimischen Gemeinschaften ausgerichtet sein soll. Natürlich müssen wir die alte Gebrauchsanweisung von Marx im Kopf haben: Vorsicht mit den Aussagen des Händlers, der dir einen Mantel verkaufen will! Eine gute Analyse des Islamischen Fundamentalismus und seiner politischen und ideologischen Grenzen findet sich bei Faksh, 1997.


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