Wildcat-Zirkular Nr. 62 - Februar 2002 - S. 37-41 [z62gisit.htm]


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Um noch einmal auf die Situationistische Internationale zurückzukommen ...

von Gilles Dauvé, Juni 2000 [1]    [englisch]

Im Jahr 2000 ist »die Gesellschaft des Spektakels« zu einem schicken Schlagwort geworden. Nicht ganz so berühmt wie »Klassenkampf«, aber gesellschaftlich akzeptabler. Überdies wird die SI nun durch ihre Hauptfigur, Guy Debord, verdeckt, der gegenwärtig als der letzte romantische Revolutionär dargestellt wird. In Berlin wie in Athen muß man sich jenseits der situationistischen Mode begeben, um den Beitrag der SI zur Revolution beurteilen zu können. In gleicher Weise, wie man den marxistischen Schleier herunterreißen muß, um zu verstehen, was Marx eigentlich gesagt hat - und was er immer noch für uns bedeutet.

Die SI zeigte auf, daß es keine Revolution ohne sofortige generelle Vergemeinschaftung des gesamten Lebens gibt, und daß diese Transformation eine der Bedingungen für die Zerstörung der Staatsgewalt ist. Revolution bedeutet, allen Trennungen ein Ende zu setzen und zu allererst der Trennung, die alle anderen reproduziert: der Arbeit als dem Abgeschnittensein vom Rest des Lebens. Abschaffung der Lohnarbeit impliziert die Aufhebung der Warenbeziehungen in der Art, wie wir essen, schlafen, lernen und vergessen, uns von Ort zu Ort bewegen, unser Schlafzimmer beleuchten, uns auf die Eiche unten an der Straße beziehen usw..

Sind dies Banalitäten? Schon, aber das waren sie nicht immer und sind es noch nicht für jeden.

Wir brauchen nur die Grundlagen der kommunistischen Produktion und Distribution zu lesen, die 1935 von der Deutsch-holländischen Linken verfaßt wurden, um zu verstehen, was für ein großer Schritt nach vorne das war. Bordiga und seine Nachfolger betrachteten den Kommunismus immer als ein Programm, welches nach der Machtübernahme in die Praxis umgesetzt werden würde. Erinnern wir uns mal daran, was 1960 besprochen wurde, wenn Radikale über Arbeitermacht debattierten und soziale Veränderungen als einen essentiell politischen Prozeß definierten.

Revolution ist Vergemeinschaftung. Dies ist gleichermaßen wichtig wie beispielsweise die Ablehnung der Gewerkschaften 1918. Wir sagen nicht, daß sich revolutionäre Theorie alle 30 Jahre verändern sollte, sondern daß eine ansehnliche proletarische Minderheit die Gewerkschaften nach 1914 ablehnte, und eine andere aktive Minderheit in den 60ern und 70ern auf eine Kritik des Alltagslebens zielte. Die SI überwand die Grenzen von Ökonomie, Produktion, Arbeitsplatz und Arbeiterismus, zu einer Zeit, als die Proleten von Watts bis Turin [2] das Arbeitssystem und ihr Leben außerhalb der Arbeit in Frage stellten. Aber diese beiden Bereiche wurden selten von denselben Gruppen attackiert. Schwarze erhoben sich gegen die Kommerzialisierung des Lebens im Ghetto, während Schwarze und Weiße dagegen rebellierten, daß sie auf ein Rädchen in der Maschine reduziert werden. Nur kamen beide Bewegungen nicht zusammen. In den Produktionsstätten verweigerten die Arbeiter einerseits die Arbeit, andererseits forderten sie höhere Löhne: die Lohnarbeit als solche wurde dadurch nie beseitigt. Es gab jedoch in Italien zum Beispiel Versuche, das System als ganzes in Frage zu stellen, und die SI war einer der Wege, in dem diese Bemühungen ihren Ausdruck fanden.

Genau hier klären uns die Situationisten noch immer auf. Aber auch genau hier sind sie zu kritisieren.

Die Grenze der SI liegt gerade innerhalb ihres stärksten Punktes: einer Kritik der Ware, die grundlegend sein will, aber die Grundlagen nicht erreicht.

Die SI lehnte die Räte-Linke ab und umarmte sie gleichzeitig. Ebenso wie Socialisme ou Barbarie betrachtete sie das Kapital als eine Art Verwaltung, welche den Proletariern jegliche Kontrolle über ihr Leben entzieht, und kam zu dem Schluß, es sei notwendig, einen gesellschaftlichen Mechanismus zu finden, der es jedem ermöglichen würde, an der Verwaltung seines Lebens teilzuhaben. Die Theorie des »bürokratischen Kapitalismus« von Socialisme ou Barbarie legte mehr Gewicht auf die Bürokratie als auf das Kapital. Ebenso wie die Theorie der »Gesellschaft des Spektakels« der SI das Spektakel für wichtiger hielt für den Kapitalismus als das Kapital selbst. In Debords letzten Schriften wird der Kapitalismus neu definiert als völlig integriertes Spektakel, aber dieses Mißverständnis bestand schon, seit Die Gesellschaft des Spektakels 1967 den Teil mit dem Ganzen verwechselte.

Das Spektakel ist nicht seine eigene Ursache. Es wurzelt in den Produktionsverhältnissen und kann nur verstanden werden, wenn man das Kapital versteht, und nicht umgekehrt. Es ist die Teilung der Arbeit, welche den Arbeiter zum Zuschauer seiner Arbeit, seines Produktes und letztlich seines Lebens verwandelt. Das Spektakel ist unsere Existenz, die zu Bildern verfremdet ist, welche sich von ihr ernähren, das verselbständigte Ergebnis unserer gesellschaftlichen Tätigkeiten. Es beginnt bei uns und trennt sich von uns über die universelle Repräsentation der Waren. Es wird zur Entäußerung unseres Lebens, weil unser Leben ständig seine Entäußerung reproduziert.

Die Betonung des Spektakels führte zu einem Kampf für eine nicht-spektakelhafte Gesellschaft: Im situationistischen Denken funktioniert die Arbeiterdemokratie als Gegenmittel zur Kontemplation, als die bestmögliche Form, Situationen zu schaffen. Die SI war auf der Suche nach einer authentischen Demokratie, einer Struktur, in der die Proleten nicht länger Zuschauer sein würden. Sie suchten nach einem Mittel (Demokratie), einem Ort (dem Rat) und einer Art zu leben (generalisierte Selbstverwaltung), die die Leute befähigen sollte, die Fesseln der Passivität zu sprengen.

Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Debord- und der Vaneigem-Variante der SI. Rätegedanken und radikale Subjektivität betonen beide die Selbsttätigkeit, ob sie nun von einem Arbeiterkollektiv oder von einem Individuum kommt.

»Ich denke, alle meine Freunde und ich wären völlig zufrieden damit, anonym im Ministerium des Vergnügens zu arbeiten, für eine Regierung, die schließlich und endlich für die Veränderung des Lebens sorgen würde (...)« (Debord, Potlatch, Nr. 29, 1957).

Anfangs glaubten die Situationisten, es wäre möglich, aufs Geratewohl mit neuen Lebensweisen zu experimentieren. Doch bald wurde ihnen klar, daß solche Experimente eine vollständige kollektive Wiederaneignung der Lebensbedingungen erforderten. Sie begannen mit einem Angriff auf das Spektakel als Passivität und kamen zu der Aussage des Kommunismus als Aktivität. Dies ist ein grundsätzlicher Punkt, hinter den wir nicht zurückgehen können. Aber den ganzen Prozeß dieser (Neu)entdeckung hindurch war es ein Fehler, anzunehmen, er müsse auch für das Leben taugen, was logischerweise zur Suche nach einem völlig anderen Ziel führte.

Dieses Streben nach einem anderen Gebrauch des eigenen Lebens trieb die Kritik der SI am Aktivismus [3] an und lähmte sie gleichermaßen. Es war notwendig, die politische Aktion als getrennte Aktivität zu entlarven, in der das Individuum für eine Sache kämpft, die von seinem eigenen Leben abstrahiert, seine Wünsche unterdrückt und es selbst für ein Ziel opfert, das seinen Gefühlen und Bedürfnissen fremd ist. Wir alle haben Beispiele der Hingabe an eine Gruppe und/oder eine Weltvision erlebt, was dazu führt, daß die Person unaufmerksam für aktuelle Ereignisse wird und unfähig, subversive Handlungen auszuüben, wenn sie möglich sind.

Doch nur das Zusammenspiel wirklicher Beziehungen kann die Entwicklung persönlicher Schwäche und entfremdeter Selbstverleugnung verhindern. Im Gegensatz dazu rief die SI zu einer überall und 24 Stunden am Tag geltenden Radikalität und Beständigkeit auf, indem sie militante Moral durch radikale Moral ersetzte, was einfach nicht machbar ist. Der Eigenanteil der SI an ihrem Ende nach '68 ist sehr betrüblich zu lesen: Warum war kaum ein Mitglied dieser Situation gewachsen? War Guy Debord der einzige? Vielleicht war es Debords Hauptfehler, so zu tun (und zu schreiben), als könnte er nie Fehler machen.

Es war subversiv gewesen, sich über die falsche Bescheidenheit von Militanten lustig zu machen, indem man sich selbst als Internationale bezeichnete und das Spektakel gegen sich selbst kehrte, wie im Straßburger Skandal 1967 [4]. Aber dieses Geschoß schlug zurück, als Situationisten versuchten, Techniken aus der Werbung gegen das Werbesystem zu verwenden. Ihr »Beendet die Show!« entartete, indem sie aus sich selbst eine Show machten und schließlich von der Bühne abtraten. Es war kein Versehen, daß es die Situationisten genossen, Macchiavelli und Clausewitz zu zitieren. In der Tat glaubten Situationisten, eine gewisse Strategie würde es einer Gruppe von smarten jungen Männern ermöglichen, die Medien mit ihren eigenen Regeln zu schlagen und die öffentliche Meinung auf revolutionäre Weise zu beeinflussen, vorausgesetzt, es würde mit Einblick und Stil inszeniert. Dies allein beweist das Mißverständnis von der spektakulären Gesellschaft.

Vor und während '68 hatte die SI gewöhnlich die richtige Haltung gefunden angesichts der Realitäten, die zuerst lächerlich gemacht werden müssen, bevor wir sie revolutionieren können: Politik, Arbeitsethik, Respekt vor der Kultur, der gute Wille der Linken und so weiter. Später, als die situationistischen Aktivitäten verblaßten, blieb nicht mehr übrig als eine Attitüde, und bald nicht einmal die richtige Haltung, als sie in Selbstverwertung, Rätefetischismus und einer Faszination für die verborgenen Seiten der Weltpolitik schwelgte und falsche Analysen über Italien und Portugal ablieferte.

Die SI kündigte das Kommen der Revolution an. Was kam, trug viele Züge dessen, was die SI aufgezeigt hatte. Die Straßenparolen 1968 in Paris und 1977 in Bologna waren Echos auf Artikel, die kurz zuvor in einer Revue mit glänzendem Cover veröffentlicht worden waren. Trotzdem war es keine Revolution. Die SI hielt jedoch daran fest, daß es eine gewesen sei. Generalisierte Demokratie (und vor allen Dingen Arbeiterdemokratie) war ein subversiver Traum der späten 60er und frühen 70er Jahre gewesen: Anstatt dies als Begrenztheit dieser Periode zu begreifen, interpretierten es die Situationisten als eine Rechtfertigung für den Aufruf zu Räten. Sie begriffen nicht, daß autonome Selbstverwaltung von Fabrikkämpfen nur ein Mittel, niemals ein Ziel an sich, noch ein Prinzip sein kann. Autonomie faßt den Geist der Zeit zusammen: sich vom System befreien, statt es in Stücke zu schlagen.

Eine zukünftige Revolution wird weniger die Zusammenführung des Proletariats zu einem Block sein, als eine Desintegration dessen, was die Proletarier Tag für Tag als Proletarier reproduziert. Dieser Prozeß bedeutet sowohl, zusammen zu kommen und sich am Arbeitsplatz zu organisieren, aber auch den Arbeitsplatz zu verändern und davon loszukommen, als auch Arbeiter-Versammlung. Die Vergemeinschaftung wird weder San Francisco 1966 [5] ähneln, noch frühere Fabrikbesetzungen in größerem Maßstab neu inszenieren.

Am Ende fügte die SI dem Rätegedanken die Illusion einer revolutionären »Lebenskunst« hinzu, d.h. einen revolutionären Lebensstil. Sie begehrte eine Welt, in der menschliche Aktivität zu beständigem Vergnügen führen würde, und beschrieb das Ende der Arbeit als den Beginn von Spaß und Freude ohne Grenzen. Sie kam nie weg von der progressistisch-technizistischen Sichtweise einer Automation, die zu Überfluß führen würde.

Von den ganz wenigen Gruppierungen, die einen gesellschaftlichen Beitrag zur subversiven Welle Mitte der 60er Jahre leisteten, kam die Situationistische Internationale dem Kommunismus, wie man ihn sich zu dieser Zeit vorstellte, am nächsten.

Es gab eine historisch nicht zu überwindende Unvereinbarkeit zwischen

»Nieder mit der Arbeit!«

und

»Alle Macht den Arbeitern!«

Die SI befand sich im Zentrum dieses Widerspruchs.


Fußnoten:

[1] aus: The Bad Days will End Nr. 3.

[2] Watts, Schwarzenghetto in Los Angeles: mehrtägige Revolte im Sommer 1965. Turin: militante Kämpfe von FIAT-Arbeitern (Anm.d.Ü.).

[3] (Engl. militantism, Anm.d.Ü.) Militant hat im Englischen und Französischen verschiedene Bedeutungen. Ursprung ist das Wort military (militärisch), und in beiden Sprachen enthält es die Vorstellung, für eine Sache zu kämpfen. Im Englischen bedeutet es combative (kämpferisch), 'aggressively active' (Webster's 1993). Im Französischen war der Begriff positiv besetzt (militants als Parteisoldaten der Arbeiterbewegung), bis die SI ihn mit Selbstaufopferung und negativer Ergebenheit gegenüber einer Sache assoziierte: in diesem Sinne benutzen wir den Begriff.

[4] Linksradikale pro-situationistische Aktivisten hatten Gelder der Nationalen Union der französischen Studenten für die Veröffentlichung der Broschüre Über das Elend im Studentenmilieu verwandt. Diese Broschüre wurde bei einer feierlichen Universitätseröffnung an die Prominenz verteilt und sorgte für einen international beachteten Skandal. (Anm.d.Ü.)

[5] Systemkritische Bewegung von Hippies und Yippies mit neuen Aktions- und Lebensformen (Sit-Ins, Love-Ins, Kommunen, LSD ...) (Anm.d.Ü.)


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