Wildcat-Zirkular Nr. 64 - Juli 2002 - S. 23-34 [z64inter.htm]


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»... daß Politik auch Spaß machen muß ...«

Das Folgende ist ein Gespräch mit zwei jüngeren Leuten aus Frankreich und der BRD, die sich als Teil einer neuen Bewegung begreifen. Beide stehen für sehr minoritäre, radikale Positionen innerhalb dieser Bewegung, insofern kann das Gespräch nicht dazu dienen, unsere Thesen zu dieser Bewegung zu belegen. Trotzdem ist für uns aus mehreren Gründen hochinteressant:

... und es ist natürlich nur ein erster Schritt ...


Madeleine: 1994 bin ich mit 14 Jahren über meinen damaligen Freund bei der Jugendorganisation der Sozialistischen Partei gelandet. Ich wollte mich politisch engagieren und hatte gedacht, er sei in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. So bin ich durch Zufall in die Sozialistische Partei eingetreten und zwei Jahre lang geblieben. Mit 16 war mir dann klar, daß ich mit denen überhaupt nicht einverstanden war: eine große, autoritäre Partei, die zudem an der Regierung war! Zu der Zeit war ich im Gymnasium, und wir haben spontan mit anderen Freunden zusammen eine Zeitung gemacht und eine Schülergewerkschaftsgruppe gegründet, um uns den Streiks der Studenten anzuschließen. In diese Zeit fiel der '95er Generalstreik, das Wort hab ich damals zum ersten Mal gehört, ich war aber noch zu jung, um mich dem anzuschließen. Im Nachhinein habe ich gemerkt, welch große Rolle dieser Generalstreik gespielt hat: alle jungen Leute, die ich danach getroffen habe, haben '95 am Streik teilgenommen.

1997, mit 17, bin ich zum Studium in eine andere Stadt gegangen. Dort wollte ich eigentlich in die Jugendorganisation der LCR eintreten, die JCR [rev. komm. Jugend], da sind nicht die Arbeiter, die sind bei der LO, sondern die Lehrer, die Funktionäre usw. - aber mein Freund hat zu der Zeit gerade die JCR mit derselben Kritik verlassen: autoritäre Strukturen usw.; so mußte ich diese Erfahrung nicht zweimal machen. Wir haben dann mit ein paar Freunden eine Studentengewerkschaftsgruppe gegründet, um einen Streik an der Uni zu organisieren; wir waren alle noch jung und ziemlich neu da, deshalb hatten wir wie bei jedem Studentenstreik - in Frankreich gibt es fast jedes Jahr einen - die Illusion: diesmal werden wir die Uni wirklich ändern! Wir haben [1998] sehr lange gestreikt, sechs Monate lang in der Uni geschlafen, mit großer Beteiligung usw. Es ging gegen die Privatisierung der Uni. Am Ende waren wir sehr frustriert; wir hatten die anderen Gewerkschaftsgruppen und ihr Spiel mit den Parteien kennengelernt; die sind stark verbandelt, kriegen Geld von der Partei, nur Gruppen, die zu einer Partei gehören, können mit dem Minister diskutieren usw. Das war ein weiterer Schritt in meiner Position zu Institutionen, der Kollaboration usw.

Am Ende des Streiks hatten wir deshalb viele Ideen. Wir wollten eine feministische und anti-homophobe Gruppe aufbauen, weil während des Streiks vieles passiert war, das uns zu der Überzeugung gebracht hatte, daß so eine Aktivität nötig sei. Zweitens haben wir gedacht, 'Kämpfen ist nicht genug', es ist problematisch, wenn die Studenten nur für sich kämpfen; wir wollten also mehr sprechen und nachdenken, und das mit anderen zusammen. Infos finden, um zu verstehen, was wir tun, und nicht nur auf der Straße sein. Deshalb haben wir mehrere Arbeitsgruppen gegründet, hauptsächlich zur Kritik der kapitalistischen Universität, aber auch zur Frage: wie können wir unseren Kampf mit den Arbeitern zusammen führen? Während des Streiks hatten wir uns dieser neuen Gewerkschaft SUD angeschlossen und eine Studentensektion aufgebaut. SUD ist zwar die übliche »geheime« Trotzkistengründung, aber interesssant ist, daß sie neue Methoden anwenden: direkte Aktionen wie Hausbesetzungen, Blockadeaktionen, ein bißchen Sachschaden. Und das hat uns wirklich interessiert, diese neuen Methoden, die Kreativität in der Sprache usw. Die Fernfahrer und andere Arbeiter von SUD haben uns während des Streiks auch geholfen; z.B. haben wir mit ihrer Hilfe in einer Nacht ein Haus auf das Campusgelände gebaut, um zu zeigen »wir sind da!«

»...daß wir ein Netz von Freunden geworden sind,
und daß aus einem Hobby ein Leben geworden ist...«

Ich fand es interessant, daß wir ganz viele Leute waren, die sich im Streik politisiert haben und vorher keine Aktivisten gewesen waren. Im Endeffekt haben wir die feministische Gruppe gegründet und im Mai 1999 ein Festival mit Aktionen, Debatten, Filmen usw. organisiert. Um auf lokaler Ebene andere Leute kennenzulernen, haben wir v.a. Kontakt zu Assoziationen aufgenommen, zu Leuten, die sich zu Energie, Industrie, Verkehr, Frauen, Migranten usw. engagieren. Mit denen zusammen haben wir das Festival organisiert.

Das erstemal war nicht so gut, sehr schnell organisiert, nicht so viel Publikum usw., aber es war interessant und wir hatten so viele Kontakte gekriegt, daß wir uns entschieden haben, eine richtige Organisation nur für das Festival aufzubauen; das läuft seither jährlich und dadurch haben wir sehr viele Leute aus vielen unterschiedlichen Milieus kennengelernt: aus der Antiglobalisierungsbewegung, aus besetzten Häusern... Von da an gab es eine komische Mischung bei uns zwischen einer Radikalisierung des politischen Bewußtseins und der praktischen Methoden (die werden direkter, konfrontativer, auch illegal) - die zweite Richtung war: immer mehr Kreativität; Kunststudenten, Leute, die tanzten, Malereien, auch mit einer Kritik der Kunst als Institution und als Begriff.

Das Festival dauert eine Woche, im Rest des Jahres bereiten wir es vor oder ziehen Resümee. Außerdem laufen in Frankreich immer irgendwelche Arbeiterkämpfe oder andere Bewegungen, an denen wir aus Solidarität teilnehmen. Wir arbeiten auch zu speziellen Themen wie z.B. »kostenloser Transport« (Null-Tarif) und machen dazu auch Aktionen. Es gibt viele neue Gruppen zu unterschiedlichen Themen; es gibt verschiedene Zeitungen, andere organisieren Alternativkonzerte, ein Haus hat sich zum Anti-Psychiatriezentrum erklärt, usw.. Viele von uns haben ihr Studium unterbrochen, wir reisen sehr viel. Ganz wichtig ist, daß wir ein Netz von Freunden geworden sind, daß aus einem Hobby ein Leben geworden ist; viele Leute sind rund um die Uhr aktiv, viele leben in besetzten Häusern zusammen.

Nach dem ersten Festival sind wir aus SUD rausgegangen, wir hielten es für unmöglich, weiterhin in dieser pseudotrotzkistischen Gewerkschaft zu bleiben, wenn viele Leute aufs Festival kamen, die anarchistisch beeinflußt waren oder sonstwie mit dem Trotzkismus nichts anfangen konnten. Wir haben auch unser eigenes Verständnis geändert. Deshalb haben wir eine eigenständige Gruppe aufgebaut, die keine Verbindung mehr zu SUD hat.

Ich habe in der Zeit auch noch spezielle Sachen gemacht; ich hab mich mit Freunden zusammen auf die Antiglob-Bewegung konzentriert. In Prag haben wir die Repression erlebt, und seither beschäftige ich mich besonders mit Fragen der Kriminalisierung, der Sozialkontrolle, der Repression usw.; ansonsten nehme ich in einem geografisch weiter gespannten Netz teil, wir machen Treffen und diskutieren über Texte; und solche Aktionen wie die antikapitalistische Karawane vor und nach Prag im September 2000. Zur Zeit arbeiten wir besonders zum No-Border-Camp.

Wir streiten v.a. über Industrialisierung und Naturalismus; manche beziehen sich sehr auf die Kämpfe im Süden der Erde, auf die Problematik Stadt/Land, Süd/Nord usw. - gegen die Multis, gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel, Alternativenergie usw. ...

Es gibt viele Leute, die in unterschiedlichen Netzen organisiert sind, die sich treffen; ich kann nicht sagen, wie viele das sind und ob sie eine starke Bewegung sind, sicherlich sind das viele Leute, die sich wirklich treffen - die Informationen gehen sehr schnell rum; aber es gibt keine nationalen Kongresse oder so, und die allgemeine Stimmung ist auch so, daß wir so was nicht brauchen; wir wollen autonom bleiben, unsere eigenen Orte haben, die lokalen und globalen Thematiken miteinander verbinden, schnell reagieren können, aber in unseren Vierteln, unseren Städten und Dörfern lokal weiterkommen. Und natürlich brauchen wir auch frontale Kämpfe, wie soll ich sagen - »Klassenkämpfe« -, aber man braucht auch diese zweite, alternative Schiene: das eigene Leben ändern, kleine Alternativen entwickeln als Beispiele, daß etwas anderes möglich ist.

Wir sind gut organisiert, mehr an Organisationsstrukturen brauchen wir nicht. Manchmal haben wir Wandzeitungen gleichzeitig in mehreren Städten gemacht und dafür haben wir keine Organisation und keine Zentrale in Paris gebraucht, die gesagt hätte »macht das!«. Wir haben natürlich ständig Streit über unsere Organisierung, daß es zuviel Hierarchie gebe usw.; aber für mich gehört das zu den täglichen Auseinandersetzungen, man braucht das nicht zu dramatisieren. Die »gut organisierten« Trotzkisten mit ihrer Omnipräsenz - die gehen überall hin und mischen sich ein - sind für mich ein abschreckendes Beispiel. Sie haben Antworten auf alle Fragen, deshalb können die anderen Leute sich nicht selbst entwickeln. Die hauptberuflichen Aktivisten geben alles vor, du hast kaum Möglichkeiten, dich selber (intellektuell) aktiv zu fühlen, das ist genauso wie mit Attac. Die Trotzkisten sind heute überall: die sind SUD, die sind Attac, die sind Porto Alegre ...

»... Wir sind gut organisiert,
mehr an Organisationsstrukturen brauchen wir nicht ...«

Fritz: Mitte der 90er Jahre, etwa mit 15, hab ich angefangen, mich für Einpunktthemen zu interessieren: Umweltschutz, Krieg, Ausländer, Nazis, soziale Themen ... Ich bin mit Freunden zu Demos gegangen, hab Transparente gemalt usw. Dann bin ich mit Leuten aus dem ML-Spektrum in Kontakt gekommen und so habe ich mich mit Marx und Lenin auseinandergesetzt. Irgendwann hab ich mich von den Sachen auch wieder mehr distanziert, weil da zwar gute Ansätze vorhanden sind, aber ich gerade den Leninismus mit seiner Auffassung, daß die Leute angeführt werden müssen, doch nicht so gut finde. Für mich steht der selbstorganisatorische Ansatz im Vordergrund, die Leute müssen selber aktiv werden, selbst die Macht haben. Auch wenn es vielleicht Leute gibt, die sich mehr mit der Materie beschäftigt haben und gewisse Impulse geben können, aber das darf nicht so ausarten, daß die dann die anderen Leute beherrschen. Ich hab mehr und mehr die Illusionen verloren, daß es sinnvoll sein könnte, die PDS beim Wahlkampf zu unterstützen, oder reformistische Forderungen zu übernehmen, um die Leute anzusprechen. Ich hab gemerkt, daß alles im Gesamtzusammenhang Kapitalismus steht und daß es Veränderungen nur aufgrund von sozialen Protesten gibt und nicht von Parteiaktionen, auch wenn Verbesserungen im Kapitalismus immer nur im kleinen Umfang möglich sind.

Zum Studium bin ich dann nach Berlin gezogen. Da war mein Interesse für Leute und Gruppen schon geweckt, die das Ganze in Frage stellen, und ich bin zur linksradikalen Szene gestoßen. Dann kamen die ganzen Antiglobalisierungsproteste, das war für mich ein positiver Bezugspunkt, weil sich Leute selber organisieren, weil da ein Potential von Leuten ist, die gemerkt haben, daß sie selber - sozial, durch Kriege, durch Umweltveränderungen - vom Kapitalismus betroffen sind. Nach Seattle bin ich dann gezielt zu einer solchen Gruppe gegangen. Wir haben zu den nächsten Gipfeln mobilisiert, Göteborg, Genua usw. Ich wollte nicht mehr irgendwelchen Sachen hinterherlaufen - wie z.B. Antifa, wo Kapitalismus höchstens am Rande thematisiert wird - sondern etwas machen, wo man radikale Kritik am System äußern kann. Eins unserer Hauptziele ist, vor allem normale Leute zu erreichen, die noch nicht so politisch sind und denen auch die Brüche aufzuzeigen, weil die Leute in ihrem Leben vom Kapitalismus betroffen sind und sich auch immer wieder ärgern - da müssen Revolutionäre ansetzen. Unsere Kritik an den klassischen Autonomen ist, daß sie stark subjektiv handeln, aber nicht unbedingt den Gesamtkontext sehen, daß sie sehr theoriefeindlich sind, sich inhaltlich nicht fortbilden, in ihrem Szeneghetto bleiben und nicht versuchen, auf normale Leute zuzugehen.

Es gab starke Mobilisierungen, es haben viele Leute an Genua und anderen Gipfeln teilgenommen, aber es ist immer noch ein relativ kleiner Kreis, der kontinuierlich dazu arbeitet und sich - so wie wir - als feste Gruppe organisiert und regelmäßig trifft. Wir machen Org-Kram und Soli-Geschichten, organisieren Konzerte, um uns zu finanzieren. Inhaltlich versuchen wir, nach den Aktionen Resümee zu ziehen, und wir beschäftigen uns mit bestimmten Themen, wie Argentinien oder was auf den Gipfeln besprochen wird. Nach außen kommt so was, wenn wir z.B. zu 'nem Gipfel mobilisieren, dann gibt's 'n Aufruf und dann müssen irgendwelche Inhalte stehen, die haben wir vorher in irgendeiner Form diskutiert.

Wir hatten mit dieser klassischen Gipfelmobilisierung angefangen und dazu unsere Propaganda gemacht: Aufrufe, Internet, Flugis, Pressearbeit, Plakate, Veranstaltungen usw. Wir haben auch immer aufgezeigt, was auf den Gipfeln besprochen wird, welche Leute sich da treffen. Um zu zeigen, wohin diese Politik führt und in welchem Kontext sie steht. Wir haben es auf jeden Fall inhaltlich thematisiert. Aber vielen Leuten ist es wahrscheinlich egal, wer sich da genau trifft; das sind halt irgendwelche Politiker, ob die nun Krieg, Sozialabbau oder sonst was besprechen; man ist generell gegen Kapitalismus, und fährt deswegen hin. Es waren schon ne Menge Leute auf den Gipfeln, die den Kapitalismus nicht verbessern, sondern insgesamt abschaffen wollen. Das kam ja nach Göteborg und Genua sogar in den bürgerlichen Medien durch. Für uns als Gruppe war das die Hauptmotivation: wir wollen das System an sich in Frage stellen und den Leuten aufzeigen, wie Kapitalismus funktioniert.

Wir haben recht schnell gemerkt, daß es nicht dabei bleiben kann, daß es keine Perspektive ist, von einem Gipfel zum anderen zu reisen. Die meisten Leute in unserer Gruppe waren vorher schon aktiv und so war es relativ schnell klar, daß wir auch vor Ort was machen wollen. Umweltzerstörung, Krieg, Armut, oder auch konkret auf Berlin bezogen und das in den Gesamtzusammenhang Kapitalismus gestellt. In Berlin gab es auch ein paar Projekte, die Proteste nach Göteborg und Genua, global action days, das soziale Zentrum oder die soziale consulta, damit wollten wir einen Anlaufpunkt für Interessierte schaffen. Es gibt auch ein Projekt, das sich mit dem Thema Lohnarbeit auseinandersetzt... Manche Leute sind auch in anderen Gruppen aktiv und machen ohnehin vor Ort etwas, weil es letztenendes auch das einzige ist, was Sinn macht. Politik fängt konkret im eigenen Leben an. Es geht uns weniger um Globalisierung, sondern wir sind gegen Kapitalismus an sich, wir wollen eine herrschaftsfreie Gesellschaft und das ist im Kapitalismus nicht möglich. Wenn ich nur irgendwo hinfahre und protestiere, droht meine Politik abstrakt zu bleiben. Wir fordern die Leute ja auch immer auf, daß sie sich selber oder in bestehenden Strukturen organisieren.

»... Wir hatten mit dieser klassischen Gipfelmobilisierung angefangen ... - ... Wir haben recht schnell gemerkt, daß es nicht dabei bleiben kann ...«

Nach Genua gab es eine Zeitlang den Hype einer neuen Bewegung. Es haben sich einige neue Gruppen gebildet, das ist ein langwieriger Prozeß, eine Entwicklung. Aber es ist was in Gang gekommen, es befassen sich Leute mit der Thematik, einige organisieren sich, z.B. haben auch Antifa-Gruppen aufgrund von Genua angefangen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Andererseits war nach Genua ein gewisses Loch da, vor allem weil die Leute, die das aktiv organisiert haben, relativ wenige waren. Nach Barcelona ist sehr wenig mobilisiert worden. Ich denk, das hängt auch damit zusammen, daß die Presse das nach Genua nicht mehr so gepusht hat und daß auch nicht mehr so viel passiert ist (in Brüssel z.B.).

M: Das ist diesselbe Entwicklung wie bei uns. Man hat das Gefühl, mehr über eine kollektive Strategie sprechen zu müssen, um zu wissen, wofür man die Sachen macht. Es wird komplizierter, zu Demos aufzurufen, weil wir nicht mehr wissen, wozu wir aufrufen. Ist es noch strategisch interessant, Blockaden zu machen mit vielen Leuten, sich der Repression auszussetzen, wenn wir das Überraschungsmoment verloren haben? Diese Diskussion läuft gerade bei uns, und deshalb zweifeln die Leute auch für sich selber: sollen sie selber weiterhin auf solche Demos gehen? Und dann wird es schwierig, andere Leute hin zu mobilisieren. Für mich hat die Frage schon nach Prag angefangen. Wir hatten im Vorfeld sehr viel gearbeitet, viel organisiert, und nach dem Gipfel hatte man das Gefühl, jetzt ist vielleicht Schluß mit den Mobilisierungen. Es könnte sinnvoll sein, weiterhin zu solchen Events zu fahren, weil man dort neue, junge Leute kennenlernt - aber die Zweifel überwiegen seit Prag, und das hat mit der Frage zu tun: wie kriegen wir die globalen Mobilisierungen lokal auf die Erde?

F: Ein weiterer Punkt ist, daß ein Gipfel nach dem anderen stattfindet, man kann doch nicht alle zwei Monate zu einem Gipfel mobilisieren! Wir wollen uns nicht in blindem Aktionismus verzetteln, sondern die Sache vernünftig vorbereiten und uns auch mit den Leuten vor Ort austauschen usw.

W: Inwiefern haben die Mobilisierungen euer Leben verändert?

F: Die Bewegung hat mein Verhältnis zu Lohnarbeit, wie ich mein eigenes Leben gestalte, ob ich Karriere mache, verändert. Da hab ich mir Gedanken gemacht und einiges geändert. Das Thema Globalisierung macht es möglich, mit vielen Leuten über alles zu reden, und so was wie in Argentinien ist motivierend und zeigt Möglichkeiten auf, wie sich die Leute organisieren, wie sich die Kämpfe entwickeln. Da kann man Erfahrungen draus ziehen.

M: Für mich ist wichtig, wie wir weiter »vor Ort« eingreifen können und zweitens wie wir uns selbst weiterentwickeln und unsere Vorstellungen genauer machen können. Es wird langsam deutlich, daß wir eine »Strategie« brauchen: was machen wir wozu? Ich selber habe mich stärker in die Entwicklung von Netzwerken gehängt, den Austausch mit anderen Formen der Bewegung: was ist der gemeinsame Punkt, worüber können wir größer werden, mehr Stärke für den Kampf gewinnen? Es gibt eine große Spannung zwischen den beiden Richtungen (alternativ/autonom vs. strategisch/frontaler Kampf), aber ich denke, das ist immer so. Es gibt eine Spannung zwischen Kleingruppe (Affinitätsgruppe) und Massenbewegung. In meinen Kreisen tendieren die Leute mehr zu affinitären Methoden, aber weil es in Frankreich ständig Streiks und große Massenbewegungen gibt, bleibt auch dieser Gedanke trotz allem prägend und die Leute sehen immer wieder, daß es gut ist, mit so vielen Leuten auf der Straße zu sein, daß ein kollektives Gedächtnis wichtig ist usw. Die Debatte bleibt offen darüber, welche Rolle wir als kleine Gruppe in einer solchen Massenbewegung spielen könnten.

»... Es wird deutlich, daß wir eine »Strategie« brauchen ...«

C: Wovon leben die Leute, mit denen du zusammen bist?

M: Sie haben oft studiert oder hatten sogar einen Job; dann haben sie Häuser besetzt, ihr Studium unterbrochen oder ihren Job hingeschmissen. Sie haben im Moment keine Möglichkeit, an gut bezahlte Jobs ranzukommen, brauchen aber auch nicht soviel Geld, weil sie viel selber machen usw..

F: Bei uns haben die meisten Leute ihre Priorität schon mehr aufs Leben gesetzt als auf den Konsum, haben kein dickes Auto, das sie unterhalten müssen oder so. Entweder studieren sie noch und kriegen Bafög oder Geld von ihren Eltern, oder sie jobben, oder sie grasen staatliche Stellen ab (Sozialamt, Arbeitsamt o.ä.).

Z: Redet ihr darüber, woher das Geld kommt?

F: Nicht so detailliert. Die meisten schlagen sich halt so durch, so n richtig geregelten Job hat glaub ich keiner. Wenn ich 40 Stunden die Woche arbeite, hab ich nix mehr vom Leben. Wir leben nicht als Gruppe zusammen, aber die meisten leben in WGs, besetzten Häusern und Wagenburgen.

M: Das ist genauso wie bei uns mit dem Problem Arbeitengehen und Geld. Viele haben nur noch einen Studentenstatus, um leicht an Jobs ranzukommen. Als Gruppe lebt man auch viel billiger: wir zahlen keine Miete, wir kriegen das Brot umsonst, auf dem Markt kriegen wir das Obst billiger usw. Wenn von zehn Leuten in einem besetzten Haus zwei oder drei arbeiten, reicht das Geld zum Leben.

Z: Bei uns in den besetzten Häusern hat jeder sein Geld selber behalten ...

M: Auch bei uns wird nicht alles geteilt. Wenn die Leute nicht wollen, können sie ihr Geld auch behalten. Aber real geben ein paar Leute, die mehr verdienen, einen Teil ihres Geldes für die Allgemeinheit ab. Oder diejenigen, die arbeiten, geben mehr Geld, weil sie weniger am Haus machen.

Z: ... ist gefährlich: der eine arbeitet am Haus, der andere gibt Geld ...?

M: Bis jetzt hat niemand eine ständige Arbeit. Die Leute sind noch sehr jung, zwischen 19 und 25 in der großen Mehrheit.

C: Gibt es Leute, die sagen, 'die Bewegung nimmt so stark zu und es ändert sich alles, es hat gar keinen Sinn mehr, daß ich an der Uni weiter studiere, wir müssen unser ganzes bisheriges Leben ändern, alles hinschmeißen und ganz in diese Bewegung einsteigen.' Gibt es eine solche Tendenz?

M: Ich würde sagen »ja«, aber das ist relativ. Viele unterbrechen ihr Studium, es gibt Leute, die nie wieder arbeiten gehen wollen, andererseits ist es fast schon zynisch, wie wir die Erfahrung unserer Eltern sehen: sie wollten auch die Revolution machen und sind gescheitert. Viele halten einen Bruch (nicht mehr zu arbeiten usw.) nicht für die einzig mögliche radikale Strategie. Es gibt in der Bewegung sehr starke radikale Tendenzen, die jeden Kompromiß ablehnen usw. - aber in dieser Gesellschaft ist es immer möglich, das Studium wieder aufzunehmen o.ä. In meiner Gruppe bin ich die einzige mit Studienabschluß, die anderen haben mit der Uni aufgehört.

Z: ... die haben vielleicht aufgehört, sie können den Abschluß aber nachholen. Wie in der Bewegung in den 80ern: die haben jahrelang die Uni ruhen lassen, und als nichts mehr los war, ihren Abschluß gemacht ...

F: ... ja das kannst du immer machen, oder?

Z: Es gab ja auch andere, die haben mit dem Studium aufgehört und sind zum Arbeiten in die Fabrik gegangen.

M: Es gibt auch Leute, die das Studium abgebrochen haben und arbeiten gegangen sind. Mit denen ist die Diskussion oft sehr schwierig, weil sie jetzt z.B. in 'ner Bank arbeiten und sich als Helden der Arbeiterklasse aufführen.

F: Meine politischen Aktivitäten haben mein Leben soweit verändert, daß ich mir schon überlege, was ich mit meinem Leben anfange, ob ich irgendwann einen beschissenen Job mache, wo ich total viel arbeiten muß usw. Aber trotzdem hab ich immer Möglichkeiten, das zu ändern, auch wenn ich das Studium abgebrochen haben sollte!

C: Gibt es in der Bewegung die Tendenz, daß viele Leute nicht so weiterleben wollen wie bisher? Mir ist das zu existenzialistisch, wie dieser 'Bruch' thematisiert wird! Das kann ja auch ein Akt von Selbstmarginalisierung sein. Ich wollte verstehen, ob es eine Aufbruchstimmung in der Bewegung gibt.

M: Es gibt einige Gruppen, die einen sehr radikalen Bruch gemacht haben, sie haben eine lange kollektive Geschichte und konnten deshalb ein »alternatives Leben« aufbauen. Sie sind Aktivisten rund um die Uhr, immer auf der Straße, bei jedem Kampf dabei, sie können alles selber machen, brauchen niemand anderen, haben keine Verbindung zu anderen Kämpfen, zu traditionellen Streiks, keine Verbindung zu dieser Gesellschaft - und sie haben immer eine innere Krise, das ist ihr erstes Problem und darum kümmern sie sich, sehr klug und umsichtig, aber es bleibt immer das wichtigste Problem - ist das überhaupt relevant bei der Frage, wie wir diese Gesellschaft ändern können? Meiner Ansicht nach ist die Frage offen, wie die Radikalisierung aussehen kann und wo »der radikalste Punkt« ist.

W: Ist der Begriff »Bewegung« überhaupt angebracht? Eine Bewegung zeichnet sich dadurch aus, daß viele Neue dazukommen, Leute, die ihr bisheriges Leben radikal umkrempeln. Das findet doch bisher nicht statt - eigentlich können wir (noch?) nicht von einer Bewegung sprechen....

M: Für junge Leute ist es nicht sehr riskant, ein Risiko einzugehen: das Studium zu unterbrechen o.ä. - sie haben noch keine Familie usw. - und du kannst dein Studium jederzeit wieder aufnehmen. Andererseits könnte ich sagen, das sind Leute, die machen einen richtigen, großen Bruch, das ist absolut wichtig, das ändert alles: ihre Meinung, ihr bisheriges Leben usw. Wir könnten aber genausogut sagen: was wird aus ihnen in 5, 6 Jahren geworden sein? - Dazu hab ich keine Ahnung, wirklich nicht!

W: Wir sollten die Frage nach der Aufbruchstimmung nicht zu einem moralischen Argument umdrehen, à la »wir erwarten von jeder und jedem, die sich einer revolutionären Bewegung anschließt, daß sie einen radikalen Bruch macht« - mit diesem Argument haben die Anti-Imps in den 80er Jahren die Bewegung von innen heraus kaputt gemacht: wer mehr als einen Schlafsack und ein paar Kampfstiefel hat, ist schon ins System integriert usw.. Diese Mythologie des »radikalen Bruchs« dient heute der postmodernen Beliebigkeit als Argument: »weil der radikale Bruch falsch war, machen wir auf Beliebigkeit. Ich mache beruflich Karriere, mische in der Pop-Kultur mit und politisch engagiere ich mich ein bißchen und schreibe in der Arranca!« - Deshalb bin ich an diesem Punkt sehr vorsichtig.

F: Natürlich muß sich jede/r überlegen, was sie oder er aus seinem Leben macht. Ich muß doch sehen, wie ich in dieser Gesellschaft zurechtkomme. Ich habe gewisse Wünsche, und da muß ich sehen, daß ich möglichst wenig arbeite, um mehr Zeit für mich zu haben. Kann ich trotzdem einen Job haben, der zumindest mich nicht ganz so stark entfremdet? Ich muß mir über mein Leben Gedanken machen, wie komm ich am besten zurande. Das ist bisher die Schwäche der Bewegung: es sind zu wenige aktiv und deshalb können sie sich in solchen Punkten gar keine radikaleren Gedanken machen.

M: Die jungen Leute wollen Aktivisten sein, ihr eigenes Leben führen usw. Sie haben einen wichtigen Bruch gemacht, sind aber schlau genug zu wissen, daß es ein großes Risiko gibt, daß es ihnen so wie ihren Eltern geht, die auch einen Bruch machen wollten und heute hohe Chefs in Unternehmen, Dozenten usw. geworden sind. Deshalb bedeutet es meiner Generation nichts mehr, zu sagen »Ich bin Revolutionär für mein ganzes Leben«; denn es gibt immer die Möglichkeit, sich zu de-radikalisieren. Ich sehe das positiv, weil es den Realismus der Bewegung zeigt, sie sind aufmerksam und sprechen auch darüber. Viele aus der Bewegung, die 30 und älter sind, verabschieden sich aus der Bewegung, gehen aufs Land und organisieren dort Projekte. Wenn du zwei Jahre in einem besetzten Haus ohne Strom und Warmwasser lebst, dann kommt der Zeitpunkt, wo du entweder Warmwasser im Haus haben willst, oder halt mit dem Projekt aufhörst.

F: Der entscheidende Punkt ist, daß Politik auch Spaß machen muß. Für mich ist das eine Frage von Lebensphilosophie: inwieweit haben sich Leute der Warengesellschaft, dem Konsum und dem ganzen System schon unterworfen und merken es vielleicht gar nicht, wenn sie arbeiten, um sich Klamotten oder ein neues Auto kaufen zu können. Und es ist auch nicht Sinn der Sache, daß Leute immer nur ganz straight Politik machen und keinen Spaß mehr daran haben. Sinn der Sache ist eine befreite Gesellschaft, sich selber entfalten zu können. Das ist die Frage, die für mich im Vordergrund steht, was die Leute für ne Lebensphilosophie haben.

M: Das find ich auch! Ich glaube, daß Spaß, Lust, Kreativität usw. wirklich wichtig sind. Wir wollen Aktivismus als Leben machen und nicht als messianischen Opfertrip. Und das bedeutet, sich mit Leuten in besetzten Häusern nicht nur deswegen auseinanderzusetzen, weil besetzte Häuser gut sind, sondern weil sie unsere Freunde sind und wir Lust haben zusammenzuleben, auch wenn wir politisch unterschiedliche Ansichten haben. Das tägliche Zusammenleben wird wichtig, um fähig zu sein, was zusammen aufzubauen und auch als politische Arbeit. Das Netzwerk hält zusammen, weil es einen Konsens über die innere Organisation gibt und nicht weil man sich über alle theoretischen Fragen wie Marxismus oder Anarchismus, Klassenkampf oder so einig wäre. Ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt.

Ich habe auch Kontakt zu traditionellen Gewerkschaftsgruppen, organisierten Arbeitslosen usw., und jedesmal wenn ich solche Leute treffe, bin ich schockiert darüber, wie traurig sie sind, wie schrecklich sie ihr Leben empfinden. Es gibt auch im KP-Umfeld Arbeitslosengruppen, die sich gegen die Arbeit aussprechen, aber trotzdem leiden sie unter ihrer Arbeitslosigkeit. Wir dagegen sind froh uns zu treffen und wir kämpfen, weil wir Lust darauf haben und nicht nur, weil wir uns schlecht fühlen.

Es gibt große Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland, aber ich sehe auch viele Ähnlichkeiten: daß Politik Spaß machen soll, der Bezug auf die Umwelt, das unklare Verhältnis der politischen Theorie gegenüber.


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