05.08.2002 Piqueteros in Argentinien - Materialien

Chronik eines Piquetero-Viertels

Trostlosigkeit und Widerstand am Rande

Von Raúl Zibechi, Uruguay, BRECHA vom 12.4.2002

Original: http://www.brecha.com.uy/tangoferoz/desolac.html

In wenigen Jahren hat sich die Piquetero-Bewegung Anerkennung bei breiten Teilen der Gesellschaft verschafft. BRECHA hat ein 'Piquetero-Viertel' besucht und einen Tag mit denjenigen verbracht, die aufgebrochen sind, vom Rand aus etwas aufzubauen.

Staubige Straßen ohne Bürgersteige, Straßengräben, die von Regen und Abwässern überquellen, windige Häuschen aus Holz oder Lehmziegeln. Francisco Solano, fünfzig Minuten entfernt vom Zentrum von Buenos Aires, im Stadtteil Quilmes, ist ein Sinnbild für den Rückzug des Staates. Den Straßen und ihren BewohnerInnen wurde jegliche Identität genommen: sie haben keine Namen, noch nicht einmal Nummern wie die Gefangenen in den Konzentrationslagern.

So liesse sich vielleicht am ehesten das Viertel San Martín definieren, wo uns der Bus nach einer endlosen Fahrt ausspuckt, die zwischen Asfalt und Gebäuden beginnt und in prekären Verhältnissen und Überschwemmungen endet. Solana ist eines der am tiefsten gelegenen Viertel des Stadtgebietes, es ist von Bächen und Feldwegen umgeben und wird überschwemmt wann immer Gott will. Und wie es der Klimawechsel will, schickt der Herr Jahr für Jahr Hektoliter von Wasser, die die Arbeitslosen, die durch die Fabrikschließungen zu einem Leben am Stadtrand verdammt sind, wie ein göttlicher Fluch treffen. Jedes Mal, wenn es auch nur ein bißchen regnet, müssen sie das Haus verlassen, mit der Matratze und den Wertsachen auf dem Rücken losziehen, und bevor noch das Wasser ganz weg ist, zurückkommen, damit nichts geklaut wird.

Bei der Ankunft im Viertel kann nur die Hauptstraße mit Asfalt aufwarten, wie eine Insel aus Zement mit glänzenden Schildern inmitten von Staub und Dunkelheit. Zwei Straßenecken weiter in der Straße 841 kündigt ein kleines Schild an einem Holzschuppen an: 'MTD-Solano'.

Priester und ehemaligen Guevaristen

Solano ist ein sehr großer Stadtteil mit rund 60 000 EinwohnerInnen. Bis vor zwei Jahrzehnten befanden sich hier riesige Brachflächen mit ein paar Feldern und Fabriken dazwischen. Anfang der 80erJahre, mit dem Niedergang der Militärdiktatur, fingen Leute aus dem Landesinneren an, die Gegend mit Siedlungen zu bevölkern. San Martín mit seinen 4000 Familien ist zum Beispiel das Ergebnis einer Massenbesetzung von 1981. Das daneben gelegene La Matera, mit 4500 Familien, wurde vor ein paar Jahren von Leuten besetzt, die beengt in anderen Elendssiedlungen gelebt hatten. Es gibt erhebliche Unterschiede: in den »alten« Siedlungen sieht man vor allem Wohnungen aus Baumaterialien und Lehmblöcken, mit Dächern aus Zink und zum Teil sogar gedeckt. In den »neuen« nur noch Holz und - falls vorhanden - altes Blech. Aber jenseits der Unterschiede sind Arbeitslosigkeit und Überschwemmungen ein vereinigendes Element.

Jorge, 33 Jahre und ausgebildeter ehemaliger Koch, und Orlando, 21, der noch nie eine reguläre Arbeitsstelle hatte, erwarten BRECHA unter dem Blechdach des Schuppens der MTD (Abkürzung für Movimiento de Trabajadores Desocupados, Bewegung arbeitsloser Arbeiter), einer behelfsmäßigen aber stabilen Konstruktion, auf die sie stolz sind. Vielleicht liegt es an der heftigen und schwülen Märzhitze, oder an den dunkelhäutigen Gesichtern oder dem verblichenen Plakat mit der Silhouette des Subcomandante Marcos, jedenfalls erinnert hier vom allgemeinen Klima bis zu diesem Lokal alles an ein Dorf in Chiapas.

»Die Bewegung hier hat in der Gemeinde angefangen«, fängt Jorge gleich hektisch an, »als der damalige Gouverneur und heutige Staatspräsident Eduardo Duhalde mit der Registrierung von Bewohnern anfing, die dann staatliche Unterstützung erhalten sollten. Die Leute kamen zur Gemeinde um sich darüber zu beschweren, dass man ihnen für die Einschreibung für die Beschäftigungsmaßnahmen (Planes Trabajar) zehn Pesos abknöpfte.«

Dort empfing sie Pater Alberto, der gerade zum Priester geweiht worden war, in einer Zeit, in der vom Bistum aus die Basiskirchengemeinden gefördert wurden, die sich an der Theologie der Befreiung orientierten. Der Konflikt mit den Provinzbehörden ließ nicht lange auf sich warten. Kurze Zeit später wurden sie von der Gendarmerie mit gezogener Waffe geräumt.

In dieser Anfangszeit haben sie 1997 die erste Straßenblockade gemacht und damit die ersten 120 Unterstützungszahlungen durchgesetzt. Im Süden des Großraums Buenos Aires ist die erste piquetero-Gruppe im nahegelegenen Stadtteil Florencio Varela entstanden, auf Initiative von ehemaligen guevaristischen Militanten des Ejército Revolucionario del Pueblo (Revolutionäre Volksarmee). Roberto Martino hat den Impuls für die erste MTD der Gegend gegeben. Diejenigen, die heute zur Bewegung von Solano gehören, haben einen anderen Kurs eingeschlagen: »Die hatten einen Generalsekretär und waren nach dem Prinzip des Demokratischen Zentralismus organisiert«, sagt Jorge, »wir haben aber mit einigen Priestern geredet, unter anderem mit einem, der in Brasilien lebte, und haben angefangen, anders zu arbeiten. Wir haben uns entschieden, uns ohne Vorsitzende zu organisieren, mit Delegierten, die jederzeit abberufen werden können, und unabhängig von den Parteien. Wir können auf dreissig Jahre Geschichte zurückblicken und haben gesehen, was aus diesen Vorsitzenden geworden ist, wir haben gesehen, was das für Gewerkschaftsvorsitzende und politische Führer waren. Wir setzen deshalb auf direkte Demokratie und horizontale Organisation«, betont er.

Als Einflüsse nennen die Aktivisten der MTD Solano, die zur Koordination Aníbal Verón gehören, die Bewegung der Landlosen und die Educación Popular [Erwachsenenbildung nach Paolo Freire] in Brasilien, und sie berufen sich vor allem auf die Zapatistas. Nach kaum vier Jahren hat die angehende Organisation schon 1200 Familien in acht Vierteln organisiert, die ein großes Gebiet von der Grenze von Lanús bis Avellaneda umfassen. Die Mitglieder der Bewegung werden von Jorge kurz und bündig chrakterisiert: »Etwas mehr als die Hälfte sind noch keine dreissig Jahre alt, die meisten zwischen 17 und 25, es sind vor allem alleinstehende Frauen mit Kindern, in unstabilen Haushaltsverhältnissen. Das ist schon fast die Regel: zuerst kommen die Frauen mit den Kindern, und erst danach die Männer«.

Produktion und Autonomie

Jedes der acht Viertel hat einen großen Schuppen, der gemeinsam gebaut wurde, wo die Versammlungen und Treffen stattfinden. »Jedes Viertel macht einmal wöchentlich seine Versammlung, aber eigentlich ist es eine ständige Versammlung. Und jedes Viertel hat sein Präsidium, das in der Versammlung gewählt wird und jederzeit abberufen werden kann. Außerdem benennt jedes Viertel zwei jeweils wechselnde Delegierte, die das Präsidium der MTD Solano bilden, wo alle Probleme diskutiert werden«, sagt Orlando und bemüht sich, ein Bild von Demokratie und Transparenz zu zeichnen, vielleicht um sich von anderen piquetero-Gruppen abzusetzen, die der Vetternwirtschaft bezichtigt werden. Er geht noch einen Schritt weiter und stellt klar, dass auf jeder Versammlung Koordinatoren gewählt werden, die nur für den Ablauf der Tagesordnung zuständig sind.

Aber was Solano wirklich von anderen Stadtteilen unterscheidet, und worauf die Mitglieder stolz sind, das sind die vielen Werkstätten, in denen jeder Empfänger staatlicher Unterstützung (160 pesos, weniger als 40 US$ pro Monat) vier Stunden täglich arbeiten soll. Und das sind 1200 Leute. Es gibt eine Gemeinschaftsbäckerei, Leder-, Metall- und Holzwerkstätten, Nähstuben und eine Baugruppe; sie haben eine Bibliothek, einen Kindergarten und eine Apotheke, und beginnen mit gemeinschaftlichem Gemüseanbau. »Wir gehen diesen Weg, weil die Unterstützungszahlungen früher oder später aufhören werden, und außerdem ist es nicht gut, auf Dauer vom Staat abhängig zu sein. Deshalb müssen wir eine alternative Ökonomie ans Laufen kriegen, wenn auch in kleinen Schritten«, fügt Jorge hinzu.

Aus der Sicht von jemandem, der die Siedlungen der Sin Tierra (Landlose in Brasilien) kennt, ist ein Besuch in diesen Werkstätten offen gesagt enttäuschend. Es fehlt jegliche Tradition von Landwirtschaft, und sie haben es nur geschafft, auf Grundstücken von Familien kleine Gärten einzurichten, die von den Jugendlichen betreut werden. Neben dem Fehlen einer Arbeits- und Agrarkultur ist das Hauptproblem die miserable Beschaffenheit des Bodens. Die Pflanzen wachsen zwar, aber alle paar Wochen spülen die Überschwemmungen wieder alles weg. Und dann wieder von vorne. Als BRECHA die Siedlung besucht hat, hatte das Wasser gerade den gemeinschaftlichen Hühnerstall fortgerissen.

Die Leder- und Holzwerkstätten und die Bäckerei funktionieren dagegen relativ gut. Jorge fasst die Schwierigkeiten zusammen, einer Generation das Arbeiten beizubringen, die nicht weiß, was Arbeitszeit und Verantwortung bedeuten, oder Arbeitslosen, die vorher mit erzwungener Disziplin unter Chefs und Vorarbeitern gearbeitet haben: »Das Ausmaß an sozialer Verkommenheit ist sehr groß; wir verbringen viele Stunden damit, zu diskutieren, warum die Leute ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, und das führt zu einigem Durcheinander. Die Jugendlichen verbringen den Tag mit Bier und Pillen an der Straßenecke, und wenn du ihnen sagst, dass sie arbeiten sollen, gucken sie dich blöd an. Es gibt Fälle, wo wir Leute rausschmeißen müssen, aber die meisten fangen mit der Zeit an, sich an dieses System zu gewöhnen. Unser Ziel ist die Rekonstruktion der sozialen Zusammenhänge, und deswegen benutzen wir Methoden wie die Educación Popular«. Orlando formuliert es schärfer: »Du kannst einen ausgezeichneten Berufsbäcker ausbilden, aber wenn der Typ denkt wie Videla, dann hast du verloren«.

Bewußtsein und Erfahrung

Im Süden von Groß Buenos Aires gibt es eine breite Schicht von alten politischen Militanten, die dort seit einiger Zeit auf Stadtteilebene arbeiten. Dies scheint einer der Ursprünge des Aktivismus hier in Solano zu sein, der von Anhängern des Christentums fruchtbar gemacht wird. Andres, der den Jugendlichen das Bauen beibringt und aus einer Basisgemeinde kommt, will, dass sie alle Geheimnisse des Berufs erlernen, aber nicht als aufgeteiltes Spezialwissen, sondern in der Gesamtheit. »Alle lernen die Grundlagen, und erst einige Zeit danach entscheiden sie sich, ob sie Klempner werden wollen oder Verputzer, oder was auch immer. Man kann nicht mit der Spezialisierung anfangen, das kommt erst später«. Es sieht so aus, als wollten sie alles verändern, im Großen wie im Kleinen. Für dieses Jahr haben sie sich eine neue und große Aufgabe vorgenommen: sie wollen eine Schule der Bewegung aufmachen, in der sie hoffen, ihre eigenen Kriterien umsetzen zu können.

Als wir schon wieder auf dem Weg zur Bushaltestelle sind, fängt Orlando an, vom 20. Dezember zu erzählen. Er bekommt leuchtende Augen. Sechzig piqueteros aus dem Viertel haben einen Bus gemietet, mit dem sie fast bis zur Plaza de Mayo gefahren sind. »Zum ersten Mal haben uns die Leute aus dem Stadtteil, die uns sonst komisch angeguckt haben, ermutigt, sie haben uns gesagt, dass wir auf uns aufpassen sollen, und einige wollten mitkommen«. Danach erzählt er über die Angriffe der Gendarmerie, über die Anwohner, die ihnen die Türen aufgemacht haben, sie von den Balkonen aus mit Wasser und Zitronen versorgt und die Bullen mit heißem Wasser beschmissen haben, von den Kugeln, die in kurzem Abstand vorbeipfiffen. Und wie er sich plötzlich neben zwei Büromenschen mit Anzug und Krawatte wiedergefunden hat und mit ihnen zusammen nach vorne gegangen und zurückgewichen ist. »Und die sozialen Unterschiede, die Klassenunterschiede?« - fragt BRECHA etwas dümmlich. »Da gab es keine Unterschiede, wir waren alle Leute, Volk. Wenn diese Hurensöhne schießen, fragen sie nicht erst, zu welcher Klasse du gehörst.«

 

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