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Aus aktuellem Anlass:

Elend ist relativ...

Zeitarbeiter bei Nokia Bochum, Sommer 2006

Das Unternehmen

Nokia produziert seit 1989 Mobiltelefone in Bochum, es werden täglich 100.000 bis 150.000 Handies montiert und in die ganze Welt geliefert. Es sind noch 2500 Leute festeingestellt, vor vier oder fünf Jahren waren es noch über 3.000. Unter anderem wurde die Fernseherproduktion eingestellt und die Lagerarbeiten und die Teilebelieferung der Linien vor drei Jahren an die Firma Exel ausgelagert. Hinzu kommen andere Fremd- und Zeitarbeitsfirmen (Adecco, Randstad, W.I.R, Allbecon, Persona).

Zeitgleich mit Flextronics und anderen Multis der Branche führte Nokia im Jahr 2001 einen grösseren Schub von Entlassungen und Umsetzungen durch. Es gab in Folge einige "Schauprozesse", die ArbeiterInnen klagten, da dem Management zur Zeit der Entlassungen bereits klar war, das der Anteil der LeiharbeiterInnen dauerhaft ausgeweitet werden soll. Die linken oder oppositionellen GewerkschafterInnen der Region beklagen, dass es bisher nicht möglich war, eine unternehmerkritischere ArbeiterInnen-Vertretung bei Nokia zu etablieren. Die offizielle Arbeitnehmervertretung sei bei jedem Angriff des Unternehmens eingeknickt oder habe kollaboriert. So rühmt sich der Gesamtbetriebsratsvorsitzender Hammer, dass sich die Arbeitnehmerseite dafür stark gemacht, Nokia als Pilot-Betrieb für die Umsetzung des Entgeltrahmenabkommens (ERA) zu gewinnen. Gerade dieses Entgeltrahmenabkommen sorgt bei den meisten ArbeiterInnen, insbesondere in der Produktion für Lohneinbussen und Individualisierung durch Neueingruppierung. Zu den extrem durchrationalisierten Arbeitsabläufen und ausgeweiterter Arbeitszeitflexibilisierung meint Hammer: "Die Kreativität unserer Produkte muss sich auch in kreativen Lösungen bei den Arbeitsbedingungen niederschlagen".
Am Aushang des Betriebsrats wird über die Aufkündigung verschiedener Betriebsvereinbarungen informiert, alles für den Standorterhalt. So wurde die "genehmigte" Anzahl der Leihkräfte wurde von 550 auf 800 erhöht, ab dem vierten Quartal 2005 auf 1.200. Übertarifliche Leistungen werden gestrichen, rund 20 Prozent Lohnkostensenkung sollen erreicht werden. Beim direkten Lohn macht dies zwischen 70 und 120 Euro monatlich aus. Leute in der Produktion verdienen zwischen 1.600 und 2.200 Euro brutto. Hinzu kommen Kürzungen bei verschiedenen Extra-Zahlungen, Verpflegungszuschuss etc. auch die Arbeitszeitberechnungen für die Jahresarbeitszeitkonten soll geändert werden, die Normalarbeitszeit von 33,50 auf 35 Stunden erhöht werden. Der Betriebsrat ruft die Leute auf, den Forderungen der Geschäftsleitung nicht nachzukommen, Tage des Jahresurlaubs für die Minusstunden zu investieren. Falls der Betriebsrat weiteren Einschnitten nicht zustimme, droht das Management mit der Aufnahme von Verhandlungen mit der IG Metall über eine 40-stunden Woche ohne Lohnausgleich. Der Betriebsrat informiert, dass er sich in der schwächeren Position sieht und kündigt an, sich ebenfalls statt auf die Betriebsvereinbarungen nun auf die (schlechteren) allgemeinen Tarifbestimmungen zurückzuziehen.

Einstellung

Die lokale Zeitarbeitsfirma W.I.R. sucht Leute für die Schlössermontage in einem Zulieferbetrieb der Automobilindustrie. Auf dem Büro warten viele junge iranische, pakistanische, syrische Studenten, die allerdings alle bei Nokia arbeiten. Um 14 Uhr wird einem zugesagt, dass man für die Nachtschicht desselben Tages dort anfangen kann. Aus Telefonaten und ersten Gesprächen lässt sich entnehmen, dass viele Leute abspringen oder erst gar nicht erscheinen. Das mag am Lohn liegen, man bekommt 6,80 brutto pro Stunde, kein Fahrgeld. Vor dreizehn Jahren hat man als Bauhelfer nicht weniger verdient und da kostete der Sprit ein Drittel. Die Firma W.I.R. hat pro Schicht rund 80 Leute im Einsatz.

Zusammensetzung der (Zeit)Arbeitskraft

Viele der Festangestellten sind weiblich, ende vierzig und aus osteuropäischen Ländern. Einen Festvertrag hat seit Jahren niemand mehr bekommen. Die ZeitarbeiterInnen sind jünger und eher aus der Türkei oder anderswo südlich. Die Festangestellten haben einen Nokia-Sticker am Kittel, die anderen nicht. Geschätzt sind rund 60 Prozent der ProduktionsarbeiterInnen weiblich und 70 Prozent mit "migrantischem Hintergrund". Die deutschen Männer fahren in erste Linie Stapler. Die ZeitarbeiterInnen haben verschiedenste Erfahrungen. Eine alleinerziehende Mutter, die vor der Babypause bei Hella (Autozulieferer) am Band gearbeitet hat. Ein Mitzwanziger, dessen Eltern aus dem Iran kommen und der gerade seine Ausbildung zum Mechatroniker in der Zeche Hamm abgeschlossen hat. Die Festeingestellten sprechen von "festen ZeitarbeiterInnen", die schon seit langem in der Produktion arbeiten und momentan im Urlaub sind. Für diese ZeitarbeiterInnen springen Aushilfen ein, in erster Linie ausländische StudentInnen während der Semesterferien.

Arbeitsorganisation

Die Fabrik ist gut bewacht. Es gibt einen speziellen Eingang nur für die ZeitarbeiterInnen, jeden Tag gibt es neue Fabrikausweise, speziell nach Zeitarbeitsfirmen zugeteilte Umkleideräume. Die Ausgangskontrollen sind rigide. Leute müssen einzeln durch die Schranke, ihren Werksausweis abgeben, jeder Vierte muss durch eine Flughafenähnliche Körperkontrolle. Diese Kontrollen verlängern die Arbeitszeit. Wir müssen 30 Minuten vor Schichtbeginn den Werksausweis abholen und nach der Schicht Schlange stehen, um das Gelände verlassen zu können.

Es gibt mehrere grössere Hallen. In den Abteilungen sitzen Personalmanager der verschiedenen Zeitarbeitsfirmen an speziell dafür eingerichteten Ständen und verteilen ihre Arbeitskräfte. In der Produktionshalle werden die sogenannten "engines" hergestellt, das Kernstück des Handies, die Platinen werden angeliefert, die Kartons für die Plastikteile tragen chinesische bzw. taiwanesische Schriftzeichen. Die Halle ist im Vergleich zur Montage und Verpackungshalle menschenleer und mit Maschinen vollgestellt. In der Montagehalle, der sogenannten SOP (supply operations), gibt es dutzende Produktionsinseln bzw. Linien. Ein Betriebselektriker meint, es wären 50 Einheiten. Die Elemente der Produktionsinsel (Scanner, Tester, Staubpuster, Kartonierer etc.) stehen auf Rollen und im Viereck angeordnet. Innerhalb dieses Vierecks, oder in der "Zelle", wie es hier heisst, arbeiten sechs Leute. Über den sechs Leuten schwebt ein Bildschirm mit IST und SOLL-Zahlen, die grün, meistens rot unterlegt sind. Festangestellte erzählen, dass mit der Anordnung der Linien viel experimentiert wird. Vorher gab es lange Fliess-Linien, seit Juni 2006 diese Inseln. In der Nokia-Mitarbeiterzeitung schreiben sie vom "Brezel Produktions-layout", vielleicht, weil es den Leuten im Hals stecken bleibt, eher wegen der Form, die Leute laufen kreuz und qür wie ein Brezel. Typischerweise arbeiten drei Festangestellte zusammen mit drei ZeitarbeiterInnen. Die Sollzahl pro Insel liegt bei 1000 montierten Handies pro siebeneinhalb Stunden-Schicht. Diese Stückzahl ist ohne maximalen Stress nicht zu erreichen und diesen Stress soll man sich dank der zehn Quadratmeter Brezel-Zellen-Struktur selbst machen. Es gibt grob ein Dutzend einzelner Arbeitsschritte, von den Einzelteilen bis zum verpackten Fünfer-Karton.

  1. drei kleinere Plastikschalen auf die "engine" und Kamera drücken
  2. die entstehende Schale auf die Tastatur-Schale drücken
  3. das Handy in einen Schrauber stecken, der beide Schalen verbindet
  4. das Handy in einen Tester stecken
  5. ein Etikett in das Handy und auf eine Tüte kleben
  6. das Handy auf Kratzer etc. untersuchen, die Batterieabdeckung aufschieben
  7. das Handy in die Tüte packen
  8. Batterien, Ladestecker, Headset, Modul in einen Eierbecher (offiziell: "inner pulp") packen
  9. das Handy, die Betriebsanleitung, zwei Prospekte und eine CD dazu packen
  10. die Handy-Tüte einscannen, den Eierbecher in einen Glanz-Karton packen
  11. den Karton auf eine Waage stellen und dann mit Etikett bekleben
  12. jeweils fünf Kartons in grösseren Karton packen, ebenfalls etikettieren und auf Palette stellen

Diese Arbeitsschritte sollen frei und flexible unter den sechs Leuten kombiniert werden. Wenn man an "seiner" Station nichts zu tun hat, soll man woanders einspringen. Gibt es Vorlauf bei den eingetüteten Handies, sollen mehr Leute verpacken. So sagt es auch die Firmenzeitung: "Jeder ist am Ende des Tages dafür verantwortlich, darauf zu achten, dass der Prozess möglichst nicht unterbrochen wird (...) und dass sich jeder in der Fertigungslinie ohne Unterbrechung auf den One-Piece-Flow konzentriert" (Nokia People, 2/06). Und es funktioniert, die Leute machen sich Stress. Während der Zusammenarbeit mit fünf fremden Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Geschlechts entwickelte ich eine Abneigung gegen jene Leute, die von kognitiver oder affektiver Arbeit sprechen, wenn sie von Call Centern reden und diese von der dumpfen manuellen fordistischen Arbeit abgrenzen, die ja scheinbar keiner emotionalen Fähigkeiten bedarf. Unter solchem Stress menschliche Beziehungen aufzubauen und den eigenen emotionalen Haushalt aufrechtzuerhalten ist wohl eine der affektivsten Herausforderungen, an denen ich je gescheitert bin. Zudem kommt ab und zu kommt ein Vorgesetzter in den Käfig, kontrolliert und erinnert an die Stückzahlen. Er guckt auf die Toiletten-Liste, jeder muss sich eintragen und man geht nur einzeln aufs Klo. Bei besonderem Arbeitsanfall sind nur versetzte Pausen erlaubt. Einmal im Monat kommt eine unangekündigte Managerin in die Zelle, mit einer langen Strichliste und steht rund eine Stunde lang in der Mitte, guckt und macht Haken. Manche würden es beim Namen nennen ("Kapo-Schweine schnüffeln"), andere machen eine Philosophie daraus: "Seit März führt Nokia im Bochumer Werk regelmässig Kaizen Events durch. Die Idee hat ihre Wurzeln in der japanischen Produktionsphilosophie. Es geht darum, in Gemba (dem Ort der Wertschöpfung) Muda (Verschwendungen) zu beseitigen" (dito).

Zu der rein quantitativen Herausforderung, dem manuellen Stress, 1.000 Handies in siebeneinhalb Stunden zu montieren und zu verpacken, kommt die rigide Qualitätskontrolle, das Nachjustieren und Umstellen der Maschinen und der Verwaltungsaufwand. Sobald eine Fluse unter dem Display, ein kleiner Kratzer auf dem Handy etc. zu sehen ist, müssen die Plastikteile wieder ausgetauscht werden. Es wird vorgegeben, in welcher Richtung die Prospekte zu liegen haben. Wenn ein Etikett des Kartons nicht mit dem Inhalt übereinstimmt, gibt es eine Abmahnung. Bei drei Abmahnungen ist man draussen. Oft werden ganze Paletten mit 180 einzelnen Kartons wieder gelöscht und alle Kartons ausgepackt, weil irgendwas "falsch gelaufen" ist. Für die gesamten 50 Inseln gibt es ganze zwei Elektriker/Mechaniker, d.h. viele kleinere Mängel an den Maschinen müssen innerhalb der Gruppe behoben werden. Das Arbeitstempo ist enorm, die Stimmung paranoid. Leute beschweren sich, dass sie innerhalb der Hallen umgesetzt werden, dass sich alles ständig ändert. Ein ehemaliger Lagerarbeiter wurde mit der Ausgliederung der Lagerarbeiten an die Linien versetzt. Alle sprechen von zunehmendem Stress, ständigem Ertrinken im one-piece-flow. Der Fetisch-Charakter eines Video-Handies zerlegt sich nach zwei Nachtschichten in nervenden Plastikschrott. Nicht nur die Arbeitsorganisation ändert sich ständig, auch die Arbeitszeiten sind sehr variabel. Erst am Donnerstag wird bekanntgegeben, ob es Samstagsschicht gibt, oder nicht. Zwei Samstagsschichten pro Monat sind obligatorisch. Momentan gibt es eine Dauernachtschicht und eine Früh- Spätwechselschicht, aber ein neues Modell ist im Gespräch, zwei Früh, zwei Spät, zwei Nacht, zwei Tage frei. Die Zeitarbeiter werden noch flexibeler behandelt. Bei Schichtbeginn wird die Anwesenheitsliste kontrolliert, es kommt vor, das ZeitarbeiterInnen "zuviel" auf der Liste stehen, dass der "Kunde" weniger bestellt hatte, dann werden die auch Mitten in der Nacht nach Hause geschickt. Andersrum ruft die Zeitarbeitsfirma am Nachmittag vor Nachtschichtbeginn Leute an um ihnen mitzuteilen, das "keine Teile da sind" und sie daher zur Frühschicht kommen sollen.

Abgang

Zwei weibliche Festangestellte haben in der Produktionsinsel den Ton angegeben und waren auch Ansprechpartnerinnen des Kapos. Sie haben das Arbeitstempo durch ihr eigenes Tempo und ihre Position bestimmt. Wer zu langsam arbeitete oder zu viele Fehler machte, wurde gedisst, immer mit Bezug auf die Sollzahl und mögliche Abmahnungen bei Qualitätsmängeln. Ein etwas langsamerer syrischer Student wurde nach einer halben Schicht rausgekantet. Ein normales "Arbeiterverhalten" war nicht möglich. Als unsere Geschwindigkeitsanzeige mal ausnahmsweise im grünen Bereich steht, wir auf 1000er Kurs liegen, schlage ich vor, jetzt etwas langsamer zu arbeiten. "Wieee bieete?!" (bulgarischer Akzent). "Naja, ansonsten dürft ihr bald 1200 Stück pro Schicht fahren". Getuschel. Ich geh aufs Klo, komm zurück und da steht der finnische Abteilungsleiter. "Sie meinen, sie können langsamer arbeiten, wenn wir im grünen Bereich liegen?". "Naja, nur mal lockermachen, so durchatmen". Als der Typ weg ist frage ich die Dame, ob sie immer alles direkt dem Abteilungsleiter erzählt. Kleiner Streit. "Wir müssen ihm erklären, warum wir die Stückzahl nicht schaffen. Und wir müssen noch die niedrigen Stückzahlen von letzter Woche nacharbeiten". Nach der Pause kommt der Kapo von der Zeitarbeitsfirma und führt mich ab. Ich versuche noch ein Fass aufzumachen, aber ist nicht. Habe auch keine grosse Lust, um meinen Arbeitsplatz zu kämpfen. Im Zeitarbeitsbüro bieten sie eine Strafabteilung an. Dauernachtschicht in einer Metallbude in einem 40 Kilometer entfernten Dorf. Danke, aber nein danke.

English version: bei www.prol-position.net

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