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26.02.2020

Chile:

Der Aufstand in Chile, der am 18. Oktober begonnen hat, geht auch nach vier Monaten weiter, noch immer kommt es jeden Tag zu heftigen Zusammenstößen mit den Carabineros. Für den März stehen sehr viele Mobilisierungen auf dem Plan. Wir haben eine Genossin, die im Dezember dort war, gebeten, ihre Eindrücke vor Ort in den größeren Zusammenhang zu stellen.

Im März geht‘s weiter

Nach den Jahren der Lähmung, die auf die Diktatur folgten, waren 2001 – und massiver 2006 – Schüler*innen als erste wieder auf die Straße gegangen. 2011 kämpften sie zusammen mit den Student*innen gegen das privatisierte Bildungssystem. Auch im Oktober 2019 haben Schüler*innen mit ihren Aktionen gegen die Fahrpreiserhöhung der Metro das Startsignal gesetzt. Die jetzige Bewegung ist aber wesentlich breiter und militanter. Es geht längst nicht mehr um einzelne Bereiche oder Forderungen. Es geht ums Ganze.

In den Nachbarschaftsversammlungen, die überall im Land entstanden sind, in Asambleas und Cabildos Abiertos sprechen die Leute darüber, warum sie so nicht mehr weiterleben wollen. Sie wollen eine echte Demokratie, ein Leben in Würde für alle, ein anderes System. Sie haben kein Vertrauen mehr in Parteien und Institutionen, sondern wollen selbst bestimmen. Eine Umfrage des Forschungsinstitutes CEP im Januar zeigt die Tiefe der Legitimitätskrise: Präsident Piñera kommt nur noch auf sechs Prozent Zustimmung; dem Kongress vertrauen gerade noch drei, den politischen Parteien zwei Prozent. Trotzdem denkt Piñera nicht daran, dem Ruf nach Rücktritt nachzugeben, der ihm von den Straßen und aus den Fußballstadien entgegenschallt. Er versucht weiterhin vergeblich, den Aufstand mit immer härterer Repression und systematischen Menschenrechtsverletzungen niederzuschlagen. Dabei kann er auf die Unterstützung der übrigen Parteien zählen, die sich in der Staatsmacht verschanzen und ebenfalls dieses System erhalten wollen. Selbst Abgeordnete der linken Frente Amplio, die einst als Hoffnungsträger galt, unterschrieben nicht nur das im November zwischen Regierungsparteien und Opposition ausgehandelte »Friedensabkommen«, sondern stimmten Anfang Dezember sogar für eine Verschärfung des Demonstrationsrechtes, das sogenannte »Antiplünderungsgesetz«.

Das Dilemma der Verfassungsänderung

Drei Tage nach dem Generalstreik vom 12. November wurde das »Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung« besiegelt. Die Politik griff damit die verbreitete Forderung nach einer Änderung der Verfassung von 1980 auf. Sie stammt aus der Zeit der Diktatur und bildet die rechtliche Grundlage für das neoliberale Modell. Die Forderung nach einer neuen Verfassung steht stellvertretend für die Ablehnung des Neoliberalismus und das Ziel einer radikal anderen Gesellschaft. Das »Friedensabkommen« steht dagegen für das Gegenteil: Für den Schulterschluss der Parteien zur Rettung des Systems und ihren Versuch, die Bewegung auf institutionelle Bahnen zurückzubringen. Für den 26. April ist ein Referendum vorgesehen, bei dem für oder gegen eine neue Verfassung abgestimmt werden soll und darüber, ob die neue Verfassung von einer gemischten Kommission ausgearbeitet werden soll, die zur Hälfte aus derzeitigen Parlamentarier*innen und zur Hälfte aus gewählten Bürger*innen bestehen würde, oder von einem nur zu diesem Zweck gewählten Verfassungskonvent. Auch im zweiten Fall können jedoch nur Parteimitglieder kandidieren. In der Bewegung wird dieses »Zugeständnis« heftig kritisiert, da die vielfach geforderte Verfassungsgebende Versammlung der Basis, mit Beteiligung der Asambleas und Cabildos sowie sozialen Organisationen, gar nicht zur Wahl steht. Mit dem in der Cocina, der Küche, wie das Parlament genannt wird, hinter verschlossenen Türen vereinbarten Verfahren wird es kaum möglich sein, die auf der Straße erhobenen radikalen Forderungen in einer Verfassung zu verankern. Für die Änderung jedes einzelnen Artikels ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Falls die Parlamentarier*innen an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt werden, hätte die Rechte mit diesem Prozentsatz eine Vetomacht. Außerdem wurde festgelegt, dass bestehende internationale Verträge nicht angetastet werden dürfen, womit der neoliberale Ausverkauf zementiert wird. Die Hauptakteure der bisherigen Bewegungen, die unter 18-Jährigen dürfen nicht mit abstimmen (für Knast und Folter sind sie dagegen alt genug), und eine spezielle Beteiligung der Indigenen ist ebenso wenig vorgesehen. Zurzeit gibt es viele kontroverse Diskussionen über dieses Abkommen und die Haltung gegenüber dem Referendum. Manche Versammlungen rufen zum Boykott auf. Andere halten dies für gefährlich, weil sie befürchten, dass es ein Dämpfer für die Bewegung wäre, wenn die neue Verfassung erneut ausgebremst wird. Sie stecken deshalb einige Energie in Kampagnen, sich am Referendum zu beteiligen, auch wenn ihnen klar ist, dass die von so vielen gewünschte andere Gesellschaft auf diesem Weg nicht durchgesetzt werden wird. Aber wenn es wegen eines Boykotts oder massenhafter Wahlenthaltung keine mehrheitliche Zustimmung zu einer neuen Verfassung gäbe, wäre das in jedem Fall ein enormer Sieg für die Ultrarechten, die mit der alten Verfassung das Erbe der Diktatur verteidigen. Die Mobilisierungen auf den Straßen gehen trotz dieser Kanalisierungsversuche weiter, vor dem Referendum liegen noch zwei Monate, und die Bewegung bereitet sich auf einen heißen März vor. Gleich für den 2. März, wenn Unis und Schulen wieder den Betrieb aufnehmen, ist die erste von mehreren Großdemos für diesen Monat geplant.

Dass sich aus einem Protest von Schüler*innen gegen eine Gebührenerhöhung ein solcher Aufstand entwickeln würde, konnte niemand voraussehen. Aber dass es genau in dem Land, in dem der Neoliberalismus auf dem Hintergrund einer brutalen Diktatur als erstes labormäßig durchgesetzt und in weiteren 30 Jahren »Demokratie« auf die Spitze getrieben wurde, zu Widerstand kommen würde, ist nicht verwunderlich und gleichzeitig eine große Hoffnung. Lange Zeit ist es gelungen, Chile als »Musterland« und »Paradies« zu präsentieren, in dem der Neoliberalismus Wachstum und Konsum angekurbelt hat. Noch kurz vor dem Aufstand nannte Piñera das Land eine »Oase der Stabilität«. Über die Kehrseite des Modells wird jetzt in Chile auf den Straßen diskutiert: Über die brutale Ausbeutung von Arbeiter*innen und Natur, die enormen Ungleichheiten, über Armut und unerträgliche Arbeitsbedingungen für die Mehrheit der Menschen in Chile, Prekarisierung und strukturelle Arbeitslosigkeit sowie die Konzentration des Reichtums in den Händen von ein paar wenigen Familien. »Chile ist aufgewacht« wird auf den Demos immer wieder gesungen. Seit 2006 die Schüler*innen als erste gegen das privatisierte Bildungssystem – teuer, ausschließend und schlecht – auf die Straßen gingen, gab es verschiedene Bewegungen, die die Legitimität des Systems infrage gestellt und den »neoliberalen Frieden« aufgekündigt haben. Über diese »Risse im fortgeschrittenen Neoliberalismus« hat Franck Gaudichaud1 schon 2015 einen Text verfasst, auf den sich die folgenden Ausführungen stützen.

Durchsetzung des Neoliberalismus

Vor dem Putsch 1973 hatte die Arbeiterklasse in Chile eine enorme Stärke, mit Strukturen von Selbstorganisierung in den Fabriken und Poblaciones (Wohnviertel von Arbeiter*innen und Armen), aus denen heraus die Politik der Regierung Allendes unterstützt aber auch vorangetrieben wurde. Auf Initiative der Arbeiter*innen wurden mehr Betriebe in gesellschaftliches Eigentum überführt als von der Regierung vorgesehen. Die Diktatur beendete diesen Aufbruch, machte die Verstaatlichungen rückgängig und privatisierte weitere Bereiche. Nach der Durchsetzung dieser Politik mit militärischer Gewalt bildeten die Strukturreformen von 1978-81 die rechtlichen Grundlagen für das neoliberale Modell. Dazu gehören die Freigabe des Eigentums an Boden, die Privatisierung des Rentensystems, die Zulassung transnationaler Bergbaukonzessionen und eben auch die heute umkämpfte Verfassung. Das Arbeitsgesetz von 1979 erschwert Streiks durch rechtliche und bürokratische Hürden, verbietet branchenweite Tarifverhandlungen und verhindert durch die Möglichkeit, ein Unternehmen in viele kleine aufzuspalten (»Multirut«) oft sogar gemeinsame Verhandlungen innerhalb eines Betriebes. Subunternehmertum in sämtlichen Branchen, die Einstellung von Streikbrecher*innen und Aussperrung wurden legalisiert. Die Neufassung des Gesetzes 2016 unter der Regierung Bachelet hat an diesen Strukturen nichts Wesentliches geändert.

1988 siegte bei einem Referendum das Nein zu einer weiteren Amtszeit von Pinochet. Nach dem Ende der Diktatur regierte dann 20 Jahre lang die Concertación, eine Koalition der »Parteien für die Demokratie«. Sie hatte einen wesentlichen Anteil an der Legitimierung und Konsolidierung des Neoliberalismus in Chile. Die radikalen Diskurse vom sozialen Wandel ließ sie schnell fallen. Stattdessen wurde das Loblied auf Wirtschaftswachstum und Konsum gesungen. Tatsächlich konnte die absolute Armut zurückgedrängt werden und es entstanden neue Mittelschichten mit einem höheren Konsumniveau und besserem Zugang zu Bildung. Die Concertación setzte auf Abkommen und Geheimgespräche mit den Anhänger*innen Pinochets und propagierte Ruhe im Land, da Forderungen und Konflikte die gerade wieder gewonnene Demokratie gefährden könnten. So breiteten sich Desillusionierung und Entpolitisierung aus, besonders bei der neuen Generation. Die Wahlbeteiligung in Chile ist seit 2010 auf einen Tiefpunkt von 46,4 Prozent bei den letzten Präsidentschaftswahlen gesunken und eine der niedrigsten weltweit. Auf dem Hintergrund der allgemeinen Lähmung trieb die Concertación die Privatisierung des Bildungssystems und des Öffentlichen Dienstes weiter voran. Eine Vielzahl von Freihandelsverträgen macht Chile zu einem Paradies für das internationale Kapital. »Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre« hieß es schon bald nach dem Ausbruch der Revolte. Die politische Kaste, die in den drei Jahrzehnten seit der Diktatur den Neoliberalismus weiter ausgebaut und legitimiert hat, hat nun selbst die Legitimation verloren.

Risse im System

Auch die Arbeiterbewegung blieb nach dem Übergang zur Demokratie lange Zeit ruhig. Der Gewerkschaftsverband CUT, der ebenfalls von den Parteien der Concertación angeführt wurde, pflegte den Dialog mit der Unternehmerschaft und schloss Trilaterale Abkommen. Die seit Anfang der 1980er Jahre langsam auf 14 Prozent gestiegene Quote von Gewerkschaftsmitgliedern ging seit 1992 wieder bis auf neun Prozent 1997 zurück. Arbeiter*innen wandten sich zunehmend von der CUT ab. Neugründungen und kleine Projekte von Linksradikalen waren wenig erfolgreich. Forderungen durchsetzen konnten nur die Arbeiter*innen im öffentlichen Gesundheitsbereich und die Lehrer*innen.

Zu einem neuen Aufschwung von Arbeiterkämpfen kam es ab 2006, dem Jahr der »Revolution der Pinguine«, wie die demonstrierenden Schüler*innen wegen ihrer dunkelblau-weißen Uniformen genannt wurden. Der größte Teil der Streiks war illegal. 2009 nahmen nur 22 000 Arbeiter*innen (bei einer Erwerbsbevölkerung von acht Millionen) an legalen Streiks teil, während mehr als anderthalb Millionen an Konflikten beteiligt waren, die als illegal eingestuft wurden.

Noch nie gab es so viele Lohnabhängige wie heute. In Chile machen sie mehr als zwei Drittel des Arbeitsmarktes und fast 75 Prozent der städtischen Bevölkerung aus. Sie sind gespalten in eine Minderheit mit stabileren Verträgen und mehr Verhandlungsmöglichkeiten in den traditionellen oder strategischen Wirtschaftsbereichen und andererseits eine Masse Prekarisierter. Kämpfe in Call-Centern, Apothekenketten und Supermärkten haben jedoch gezeigt, dass Organisierung auch in diesen Bereichen möglich ist. Einer der mächtigsten Konflikte war der Streik eines Großteils der 25 000 Leiharbeiter der staatlichen Kupfergesellschaft CODELCO 2007, bei dem es auch zu Straßenblockaden, Auseinandersetzungen mit der Polizei und Verhandlungen mit der Regierung kam. Die Bergarbeiter konnten wichtige Zugeständnisse erzwingen. 2008 führten Tausende von Arbeiter*innen in Lachszuchtbetrieben einen langen Streik. Streikfreudig waren auch immer wieder die Lehrer*innen, die 2014 gegen einen Abschluss ihrer Gewerkschaft, 2015 zwei Monate lang gegen die Reform des Lehramts und Mitte 2019 mit breiter Unterstützung der Bevölkerung sieben Wochen lang gegen das Bildungssystem streikten. Wichtige Arbeiterkämpfe fanden in den Häfen statt, die für die Wirtschaft Chiles, die auf Extraktivismus und Rohstoffexport beruht, größte Bedeutung haben. Auch in den Häfen sind die meisten Arbeiter prekär beschäftigt; die Arbeitsbedingungen sind hart und gefährlich. 2011 wurde die landesweite Hafenarbeitergewerkschaft UPCH gegründet. Die Gewerkschaft ist rechtlich nicht anerkannt, aber eine faktische Macht. Sie konnte mit der Lahmlegung sämtlicher Häfen des Landes Forderungen und Gesetzesänderungen durchsetzen und hat sich immer wieder mit anderen Kämpfen solidarisiert. Der letzte große Hafenarbeiterstreik fand Ende 2018 / Anfang 2019 in Valparaiso statt. Gelegenheitsarbeiter, die ohne Vertrag auf Abruf arbeiten, forderten bessere Bedingungen. Es kam zu Straßenblockaden in Valparaiso und Solidaritätsstreiks in anderen Häfen.

Die Kämpfe der Arbeiter*innen ab 2006, die auch außerhalb der Betriebe mit Demonstrationen, Blockaden und Versammlungen auf den Straßen stattfanden, können als Vorläufer der neuen Bewegungen ab 2011 gesehen werden: Die starke Bewegung der Schüler*innen und Student*innen für kostenlose öffentliche Bildung (die Pinguine sind älter geworden), regionale ökologische Bewegungen gegen Großprojekte (Staudämme, Goldabbau, Schweinegroßbetrieb), No más AFP gegen das privatisierte Rentensystem, die Bewegung gegen die Privatisierung des Wassers und nicht zuletzt der Widerstand der Mapuche. Es kam zur Wiederaufnahme von horizontalen, selbstorganisierten und basisdemokratischen Aktionsformen, jenseits von Institutionen und Parteien. Die Student*innen hatten mit ihren Protesten die Zustimmung von 70 Prozent der Bevölkerung. Sie wurden zum Sprachrohr für aufgestaute Forderungen in verschiedenen Bereichen und machten wiederum den Weg frei für die drei landesweiten Streiks im Bildungsbereich.

Risse bekam auch das Bild des fröhlichen Konsumenten, denn das gestiegene Konsumniveau ging mit einem enormen Anstieg der individuellen Verschuldung einher. Die Verbreitung von Kreditkarten war lange Zeit ein hervorragendes Instrument für die Aufrechterhaltung der Ruhe im Land. Zwischen 1997 und 2010 stieg die Anzahl der Kreditkarten großer Supermärkte von 1,3 auf sieben Millionen, und die von Bankkreditkarten in nur vier Jahren um 43 Prozent. Anstelle eines Rechtes auf Wohnung und Bildung gibt es Kredite für den Kauf von Immobilien und Ausbildung. Diese Verschuldung schafft Abhängigkeiten und verschärft den Zwang, noch mehr zu arbeiten. Das Bildungsgesetz LOCE, das Bildung zu einer privat gehandelten Ware macht, wurde von Pinochet noch am letzten Tag seiner Amtsgeschäfte durchgebracht. Die Kosten für ein Studium sind höher als der Mindestlohn. 70 Prozent der Student*innen müssen sich verschulden und 65 Prozent von ihnen brechen ihr Studium aus finanziellen Gründen ab. Das Bildungsniveau ist trotzdem gestiegen, aber die Aufstiegsversprechen, die mit der teuer erkauften Bildung verbunden waren, wurden enttäuscht. Heute sind 80 Prozent der über 18-Jährigen in Chile verschuldet und laut der letzten Erhebung vom Januar 2020 ist die Anzahl derjenigen, die ihre Schulden nicht mehr abzahlen können, auf 4,7 Millionen gestiegen – jeder dritte Erwachsene.

Im derzeitigen Aufstand geht die Kritik weit über diese materiellen Fragen hinaus. Kritisiert wird der Konsumismus an sich und die Zurichtung der Subjekte auf Konkurrenz und Individualismus. Zum neoliberalen Subjekt gehört der Erfolg. Wer keinen hat, ist selber schuld und sollte dieses Scheitern tunlichst für sich behalten. All das macht einsam. Ein Bericht des Entwicklungsprogramms der UN (PNUD) stellte dieses Unbehagen an den gesellschaftlichen Zuständen bereits 1998 fest. Es sei ein Paradox der chilenischen Modernisierung, dass diese gleichzeitig eine Steigerung des Lebensniveaus und Unzufriedenheit mit der Lebensart hervorbringe. Es herrschten verbreitete Unsicherheit und Misstrauen. Bei Statistiken zu Selbstmordraten, Depressionen und dem Gebrauch von Psychopharmaka steht Chile weit oben.

In den vielen neuen Nachbarschaftsversammlungen wird nun offen über diese Probleme diskutiert. Aktivist*innen berichten, dass die ersten Versammlungen wie eine kollektive Katharsis gewesen seien2. Anstatt sich gegenseitig vorzumachen, wie gut es ihnen ginge und was sie sich alles leisten könnten, hätten Nachbar*innen das Wort ergriffen, um über ihre Schulden und Sorgen zu sprechen. Durch diese neue Offenheit hätte auch das verbreitete Selbstbild, zur Mittelschicht zu gehören, Risse bekommen. »Denk dran: Du bist nicht Mittelschicht. Du bist Arbeiterklasse. Lohnabhängig und verschuldet« heißt es auf Plakaten.

Von den Protesten zum Aufstand: Massenmilitanz und Versammlungen

Seit dem 18. Oktober 2019 sind die Bewegungen in einem Aufstand zusammengekommen und haben eine neue Breite und Qualität erreicht. Spektakulärer Ausdruck sind zum einen die Massendemonstrationen – am 25. Oktober fand in Santiago mit mindestens 1,2 Millionen Beteiligten die größte Demonstration in der Geschichte des Landes statt und gleichzeitig weitere Demonstrationen in anderen Städten. Zum anderen die heftige Militanz der Primera Línea3, der »Ersten Reihe«, die mit Straßenschlachten die Carabineros auf Abstand hält und so die übrigen Demonstrant*innen schützt. Ohne diese Militanz gäbe es auf dem »Platz der Würde«, wie die ehemalige Plaza Italia in Santiago heute heißt, schon lange keine Demonstrationen mehr. Im Dezember versuchten die Carabineros mit Gittern und massiver Präsenz, dort Demonstrationen zu verhindern, aber der Platz wurde von der Primera Línea wieder zurückerobert. Andererseits wäre eine solche Militanz auch nicht möglich ohne die Massen von Demonstrant*innen, die sich gar nicht so weit hinter der Ersten Reihe selbst von der härtesten Repression, die schon viele Todesopfer und Schwerverletzte gefordert hat, ebenso wenig vertreiben lassen.

Weniger spektakulär, aber sicher nicht weniger wichtig, ist die breite Basisorganisierung, die seit den ersten Tagen des Aufstands in den Stadtteilen und Poblaciones stattfindet. Ähnlich wie im Aufstand in Argentinien im Dezember 2001 trafen sich Nachbar*innen auf der Straße zu Cacerolazos – Krachschlagen mit Töpfen und Pfannen –und organisierten sich spontan als Nachbarschaftsversammlungen. Die Horizontalität – die Ablehnung von Politik und Führungsfiguren – ist in diesem Aufstand eher noch stärker ausgeprägt als damals in Argentinien, wo der auf Führungspersonen ausgerichtete Peronismus nach wie vor stark ist. In Chile haben die Versammlungen nicht nur die Vorgeschichte der sehr weitgehenden Organisierung in den Poblaciones, die auch nach dem Putsch eine Basis des Widerstands war. Auch in den Bewegungen von 2006 und 2011 sowie in von Umweltkonflikten betroffenen Ortschaften bildeten sich Versammlungsstrukturen. Diese waren aber nicht von längerer Dauer.

Die neu entstandenen Versammlungen nennen sich entweder Asamblea (Territorial, Autoconvocada) oder Cabildo (Abierto). Cabildos Abiertos – Offene Bürgerversammlungen – waren die Selbstverwaltungsstruktur der Gemeinden zur Kolonialzeit und nach der Unabhängigkeit, die aber nicht wirklich »offen« waren, weil hier nur von der Spanischen Krone abgesegnete Bürger teilnehmen durften. Die neu entstandenen Strukturen sind von daher eher Versammlungen, aber welche Bezeichnung sich die spontan versammelten Nachbar*innen gaben, war oft von Zufällen abhängig. Organisatorisch gibt es keine Unterschiede. Die Versammlungen dienen der Bildung von Gemeinschaft, sie organisieren Demonstrationen und diskutieren über Forderungen und Wege der Politik. Sie beginnen im Kleinen damit zu experimentieren, wie eine wirkliche Demokratie aussehen könnte. Es gibt verschiedene Koordinationen, zwischen benachbarten Versammlungen und in größeren Zusammenhängen.

Das alternative Nachrichtenportal ciperchile.cl hat im Februar versucht, einen Überblick über die Asambleas, Cabildos und Coordinadoras zu bekommen, und hat dafür 17 Versammlungen im ganzen Land befragt, in denen insgesamt mehr als 2000 Personen organisiert sind4. Wie viele Versammlungen es im Land gibt, kann niemand sagen. Über verschiedene Koordinationen hat Ciper 200 erfasst, aber es sind wesentlich mehr, da nicht alle an Koordinationen teilnehmen. Im Januar trafen sich in Santiago 1200 Leute aus 118 Asambleas der Hauptstadtregion in der Coordinadora de Asambleas Territoriales CAT, um Forderungen und Vorgehen abzustimmen.

Bei der Befragung stellte Ciper einige Gemeinsamkeiten fest. Die Versammlungen bezeichnen sich als horizontal und feministisch. Der Feminismus hat in den letzten Jahren in Lateinamerika enorm an Stärke gewonnen, und die Versammlungen verwirklichen viele seiner Prinzipien wie Gleichberechtigung, keine Bevormundung, keine Führer, oder auch die Aufteilung der Kinderbetreuung, damit die Frauen an den Versammlungen teilnehmen können. Politische Aktivist*innen verschiedener Gruppierungen beteiligen sich an dem Prozess, aber sie übernehmen keine Führung und bestimmen nicht alleine die Debatte. Stattdessen wird darauf geachtet, dass alle zu Wort kommen. Wissen und Fähigkeiten werden geteilt. In den Stadtteilen entstehen eigene Bildungsprojekte. Einige Hauptthemen werden überall diskutiert – Verhalten im Verfassungsprozess, Aufrechterhalten der Demonstrationen, Ende der Menschenrechtsverletzungen, Renten, Gesundheitssystem. Je nach Ort kommen jeweils lokal wichtige Themen hinzu wie Wohnen, Stadtplanung, Umwelt, Repression in den Poblaciones, Drogenhandel und Sicherheit in den Poblaciones (für die es keine Carabineros braucht), Wasserknappheit (Es ist nicht Dürre, sondern Plünderung), Integration von Immigrant*innen oder die Situation der Mapuche. Trotz Sommerloch haben die Versammlungen weiter stattgefunden, wenn auch mit weniger Beteiligung. Nun bereiten sie sich auf den März vor und wollen die Verbindung zwischen territorialer Organisierung und Straßenprotesten verstärken.

Vorrevolutionäre Situation?

In der letzten Ausgabe der Wildcat wurde die Vermutung angestellt, dass es sich in Chile bereits um eine vorrevolutionäre Situation handeln könne. Tatsächlich vermittelt dieser Aufstand ein solches Gefühl. Was diesen Eindruck ausmacht, dass es hier ums Ganze geht, ist schwer zu sagen. Da ist zum einen die unglaubliche Entschlossenheit und Todesverachtung, mit der die Primera Línea jeden Tag an verschiedensten Orten gegen die Militärpolizei Carabineros kämpft. Nicht nur in den Zentren der Städte (vor allem in Santiago, Antofagasta, Valparaiso und Concepción), sondern auch in den Poblaciones, von denen sich einige in permanentem Aufstand befinden. Diese Militanz ist wiederum möglich, weil sich die übrigen Demonstrant*innen nicht distanzieren und eine Spaltung in »Gut« und »Böse« nicht zulassen. Da ist diese breite Mischung von Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Milieus, die sich mit komplizenhafter Heiterkeit gemeinsam die Straße nimmt. Die große Solidarität gegenüber der Repression und die Achtsamkeit der Demonstrierenden untereinander. Das veränderte Klima in der Stadt, in dem Leute, an deren Ausrüstung klar zu erkennen ist, dass sie auf dem Weg zur nächsten Straßenschlacht sind, von Passant*innen nicht etwa schräg angesehen, sondern mit einem netten »Pass gut auf dich auf« bedacht werden. Da ist die Explosion von Kreativität – kämpferische Musik, Theater und Performances auf den Straßen sowie Parolen und Kunst an sämtlichen Wänden. Die Begeisterung, mit der Menschen ganz selbstverständlich von ihrer »Revolution« sprechen und wie diese ihr ganzes Leben verändert hat. Die Neuentdeckung von Gemeinschaft und Solidarität in den Wohnvierteln. Die allgemeine Politisierung und die Ernsthaftigkeit, mit der über eine andere Gesellschaft diskutiert wird. Die demonstrierenden Kinder von 11, 12 Jahren, die bei Interviews schon viele gute Gründe für den Protest aufzählen können. Und wenn verfeindete Gruppen von Ultras (Barras Bravas) gemeinsam gegen Polizei und Staat demonstrieren und Fußballspiele verhindern, weil jetzt der Aufstand wichtiger ist, dann ist das zwar noch keine Revolution, aber schon mal ein ziemlich gutes Zeichen.

Leider ist die Arbeiterklasse an diesem Aufstand bislang nicht organisiert beteiligt. Seit November gab es keine Streikaufrufe mehr. Arbeiter*innen beteiligen sich nach Feierabend an den Straßenkämpfen und Versammlungen, aber ihre Macht, das Land viel gründlicher lahmzulegen, haben sie erst spärlich eingesetzt. Durch Geschäftsschließungen, Brände und Plünderungen sind wirtschaftliche Schäden entstanden, aber in vielen Bereichen laufen Arbeit und Alltag relativ ungestört weiter. Auf der Straße wird immer wieder betont, dass dies erst der Anfang ist. Aber wie lange ist der Widerstand gegen eine immer grausamere Repression durchzuhalten? Wird es dem Parteiensystem gelingen, die Bewegung mit dem Verfahren zur Verfassungsänderung wieder in die üblichen Kanäle zu lenken, oder entsteht an der Basis gerade eine ganz neue Form von Demokratie? Wie diese aussehen wird, kann noch niemand sagen, und kollektive Prozesse ohne Führung brauchen Zeit. Manche Aktivist*innen befürchten, dass sie mit ihrem Aufstand alleine gelassen werden und den Neoliberalismus alleine in Chile nicht besiegen können. Aber die Bewegung ist selbst in diesen Sommermonaten unerwartet stark geblieben und für den März gibt es bereits eine volle Agenda. Der 2. März soll der »Supermontag« für den Rücktritt Piñeras werden. Am 6. März wird gegen SENAME demonstriert, die staatliche Institution, die die Horror-Heime betreibt, in denen viele Jugendliche der Primera Línea misshandelt wurden und werden. Feminist*innen rufen nicht nur zu Demonstrationen am 8. März auf, die sicher gigantisch werden, sondern für Montag, den 9. März auch zum Streik. Könnte das vielleicht auch die Kollegen mitziehen? Am 11. März wird wegen zwei Jahren Piñera-Regierung demonstriert, und am 15. März werden fünf Monate Aufstand gefeiert. Am 22. ist Welttag des Wassers, und am 29. März der »Tag des jungen Kämpfers«, an dem der Ermordung von zwei Brüdern 1985 durch die Pinochet-Diktatur gedacht wird, und an dem es traditionell Straßenschlachten gibt. #EstoNoHaTerminado – Dies ist noch nicht zu Ende.

Alix Arnold

Fußnoten:

[1] Franck Gaudichaud, Las fisuras del neoliberalismo maduro chileno. Trabajo, »Democracia protegida« y conflictos de clases. CLACSO, Buenos Aires 2015.
http://biblioteca.clacso.edu.ar/clacso/becas/20151203023022/fisuras.pdf
Franck Gaudichaud ist Historiker, arbeitet an der Universität Grenoble und hat seine Doktorarbeit über die Cordones Industriales geschrieben, die Selbstverwaltung der Arbeiter*innen in den Fabriken und »Industriegürteln« in Chile zur Zeit der Regierung Allendes. Als Buch auf spanisch und französisch erschienen: »Chili 1970-1973. Mille jours qui ébranlèrent le monde.«

[2] Siehe Die erste Versammlung war wie eine kollektive Katharsis

[3] Zur Primera Línea siehe Primera Línea: Heimkinder in der ersten Reihe

[4] Siehe Yo me organizo en la plaza: las cientos de asambleas que surgieron tras el estallido social

 
 
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