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Lenin in England

Mario Tronti

in: Classe Operaia , Nr. 1, 1964   (dtsch. in: Primo Moroni und Nanni Balestrini: Die goldene Horde. Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien, Berlin: Assoziation A, 2002, S. 86-93)

 

Eine neue Epoche des Klassenkampfs steht vor der Tür. Die Arbeiter haben sie durch die objektive Macht ihrer organisierten Kraft in der Fabrik den Kapitalisten aufgenötigt. Das Machtgleichgewicht scheint solide; das Kräfteverhältnis ist ungünstig. Und trotzdem, dort, wo die Herrschaft des Kapitals am mächtigsten ist, wird sich die proletarische Gefahr am stärksten einnisten. Es ist einfach, nichts zu sehen. Man muß lange und gründlich die Klassensituation der Arbeiterklasse betrachten. Die kapitalistische Gesellschaft hat ihre Entwicklungsgesetze; die Ökonomisten haben sie erfunden, die Regierenden haben sie angewendet und die Arbeiter haben sie erlitten. Aber die Entwicklungsgesetze der Arbeiterklasse, wer wird sie aufdecken? Das Kapital hat seine Geschichte und seine Historiker schreiben sie. Aber die Geschichte der Arbeiterklasse, wer wird sie schreiben? Zahlreich waren die Formen politischer Herrschaft der kapitalistischen Ausbeutung. Aber wie wird man zur nächsten Form der Arbeiterdiktatur, organisiert als herrschende Klasse, kommen? Man muß geduldig im Lebendigen und aus dem Inneren heraus mit diesem explosiven sozialen Material arbeiten.

Auch wir haben erst die kapitalistische Entwicklung gesehen und dann die Arbeiterkämpfe. Das ist ein Irrtum. Man muß das Problem umdrehen, das Vorzeichen ändern, wieder vom Prinzip ausgehen: und das Prinzip ist der proletarische Klassenkampf. Auf der Ebene des gesellschaftlich entwickelten Kapitals ist die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen untergeordnet, sie kommt nach ihnen, und der politische Mechanismus der eigenen Produktion muß ihnen entsprechen. Das ist keine rhetorische Erfindung und dient nicht dazu, wieder Vertrauen zu gewinnen. Es ist richtig: Dringend notwendig ist heute, sich von dieser Atmosphäre der Arbeiterniederlage zu befreien, die seit Jahrzehnten wie eine Schlinge um das liegt, was als einzige revolutionäre Bewegung entstanden ist, nicht nur in unserer Epoche. Aber eine praktische Notwendigkeit ist niemals ausreichend, um eine wissenschaftliche These zu unterstützen: Diese muß auf eigenen Füßen stehen, auf einer historischen Verknüpfung materieller Fakten. Alle sollten wissen, daß zumindest in jenem Juni 1848 die Arbeiter, tausendmal verwünscht von der Bourgeoisie, die Bühne betreten und nicht mehr verlassen haben: Aus freien Stücken haben sie von Mal zu Mal entschieden, als Schauspieler in verschiedenen Rollen aufzutreten, als Souffleure, als Techniker und als Arbeiter, in Erwartung ins Parkett hinabzusteigen, um die Zuschauer anzugreifen. Wie werden sie sich heute auf den modernen Bühnen darstellen?

Der Ausgangspunkt des neuen Diskurses sagt uns, daß auf nationaler und internationaler Ebene die aktuell besondere politische Situation der Arbeiterklasse eine bestimmte Entwicklung des Kapitals bestimmt und erzwingt. Es handelt sich darum, im Licht dieses Prinzips das gesamte Netz sozialer Beziehungen in der Welt zu begreifen. Nehmen wir die grundlegende materielle Tatsache, das heißt die Neubildung des Weltmarkts, die als offensichtlicher Prozeß in Gang ist, seitdem die stalinistische Abwürgung der Entwicklung ausgeschaltet worden ist. Es wäre einfach, eine ökonomistische Erklärung zu finden und sich daran zu setzen, materialistisch das Problem der Märkte in der kapitalistischen Produktion zu betrachten. Aber der Arbeiterstandpunkt sucht eine politische Erklärung. Weltmarkt bedeutet heute die Kontrolle der gesellschaftlichen Arbeitskraft auf internationaler Ebene. Die Warenproduktion kann sich, wenn auch mit Mühe, in einer begrenzten Zone des freien Tausches organisieren. Die Bewegungen der Arbeiterklasse dagegen nicht. Schon historisch entsteht die proletarische Arbeitskraft international homogen und zwingt das Kapital — innerhalb einer langen historischen Periode —, sich gleichfalls zu homogenisieren. Und heute ist es gerade die Einheit der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene, die dem Kapital die schnelle Wiedergewinnung einer einheitlichen Antwort auferlegt.

Aber wie ist es möglich, diese Einheit in den Bewegungen der Arbeiterklasse zu erfassen? Die institutionellen Ebenen der Arbeiterbewegung trennen alles, die kapitalistischen Strukturen vereinigen alles, jedoch im exklusiv eigenen Interesse. Und ein politischer Akt kann keiner empirischen Verifizierung unterzogen werden. Die einzige Art, diese Einheit zu verifizieren, ist dazu überzugehen, sie zu organisieren. Dann wird man entdecken, daß die neue Form der Einheit der Klasse in den neuen Kampfformen der Arbeiter vollständig enthalten ist und daß das neue Terrain dieser Kämpfe die Ebene des internationalen gesellschaftlichen Kapitals ist. Auf dieser Ebene ist die politische Situation der Arbeiter nie so klar gewesen: Überall, wo sich historisch eine soziale Masse industrieller Arbeitskraft konzentriert, wird es möglich, mit bloßem Auge die gleichen kollektiven Verhaltensweisen zu entdecken, die gleichen praktischen Grundentscheidungen und einen einzigen Typus des politischen Wachstums. Keine Zusammenarbeit auf programmatischer Ebene, organisierte Passivität, polemische Erwartung, Ablehnung der Politik und Kontinuität der permanenten Kämpfe sind die historisch besonderen Formen, in denen sich heute der Kampf der Arbeiterklasse allgemein ausdrückt. Transitorische Formen einer transitorischen Situation, wenn die Arbeiter sich gesellschaftlich schon jenseits der alten Organisationen und doch noch diesseits einer neuen Organisation befinden: in der Tat, ohne politische Organisation, weder reformistisch noch revolutionär. Man muß diese Periode des Interregnums der Arbeitergeschichte gründlich erfassen und in ihren Resultaten begreifen: Die politischen Konsequenzen werden entscheidend sein.

Nichtzufällig finden wir als erste Konsequenz eine Schwierigkeit: Die Schwierigkeit, in Abwesenheit der entsprechenden institutionellen Ebenen die materiellen Bewegungen der Klasse zu erfassen, das heißt auf der Ebene, auf der sich normalerweise das Klassenbewußtsein ausdrückt. Daher resultiert die höhere und abstraktere theoretische Anstrengung, die von uns gefordert wird, aber gleichzeitig auch ihre deutlichere praktische Funktion, die uns auf die Analyse der Arbeiterklasse festnagelt, unabhängig von der Arbeiterbewegung. Und als zweite Konsequenz finden wir Widersprüche und scheinbare Unsicherheiten in den Bewegungen der Klasse. Wenn die Arbeiterklasse eine revolutionäre politische Organisation besäße, zielte sie selbstverständlich darauf, überall den höchsten Punkt des reformistischen Kapitalismus für sich zu instrumentalisieren. Der Prozeß der einheitlichen Zusammensetzung des Kapitals auf internationaler Ebene kann die materielle Basis der politischen Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse werden und in diesem Sinn ein strategisch positives Moment für die Revolution, jedoch nur, wenn sie begleitet wird von einem revolutionären Wachstum, nicht nur der Klasse, sondern der Klassenorganisation. Bei Abwesenheit dieses Elements lebt der Gesamtprozeß in Funktion des Kapitals, taktisches Moment der unilateralen Stabilisierung des Systems und der scheinbaren Integration der Arbeiterklasse als solche in das System. Die historische Operation des italienischen Kapitalismus, die organische Übereinstimmung zwischen Katholiken und Sozialisten, könnte sogar erneut ein klassisches Modell des revolutionären Prozesses eröffnen, wenn man dahin kommt, den italienischen Arbeitern eine Arbeiterpartei zurückzugeben, die heute in der Phase der demokratischen Entwicklung ihrer Klassendiktatur gezwungen wäre, direkt gegen das kapitalistische System zu opponieren. Ohne diese legitime Restitution wird die Herrschaft der kapitalistischen Ausbeutung vorübergehend solider werden, und die Arbeiter werden gezwungen sein, andere Wege in ihre Revolution zu suchen. Wenn es wahr ist, daß die Arbeiterklasse dem Kapital objektiv präzise Entscheidungen auferlegt, so ist auch wahr, daß das Kapital die Entscheidungen in antiproletarischer Funktion trifft. Das Kapital ist in diesem Moment besser organisiert als die Arbeiterklasse: Die Entscheidungen, die diese dem Kapital aufzwingt, riskieren, das Kapital zu stärken. Daher das unmittelbare Interesse der Arbeiterklasse, diesen Entscheidungen entgegenzuwirken.

Die Ziellinie der Arbeiterstrategie ist heute so klar, daß man denken könnte, sie finge erst heute an, die Zeit ihrer strahlenden Reife zu erleben. Sie hat das wahre Geheimnis entdeckt oder wiederentdeckt, das ihren Klassenfeind zu einem gewaltsamen Tod verurteilt: die politische Fähigkeit, den Reformismus geschickt gegen das Kapital durchzusetzen und ihn ohne falsche Höflichkeit für die Revolution zu nutzen. Aber die gegenwärtige taktische Position der Arbeiterklasse — Klasse ohne Organisation — ist und muß notwendigerweise weniger klar und, sagen wir es nur, subtil zweideutig sein. Sie ist noch gezwungen, die Widersprüche zu nutzen, die den kapitalistischen Reformismus in eine Krise bringen, die Elemente zu verschärfen, die als Bremse seines Entwicklungsprozesses dienen, weil sie weiß, fühlt, daß freie Bahn für die reformistische Operation des Kapitals in Abwesenheit einer politischen Organisation der Arbeiterklasse für eine lange Periode die Stillegung des gesamten revolutionären Prozesses bedeuten würde, wie in Anwesenheit dieser Organisation seine unmittelbare Eröffnung. In diesem Fall würden sich die beiden Reformismen, der des Kapitals und der der Arbeiterbewegung, sicher treffen, aber aufgrund einer unmittelbar proletarischen Initiative; wenn dagegen, wie heute, die Initiative gänzlich kapitalistisch ist, besteht das unmittelbar proletarische Interesse darin, sie getrennt zu halten. Ein Treffen der beiden Reformismen ist auch dann taktisch richtig, wenn die Arbeiterklasse nicht nur Kampferfahrungen, sondern revolutionäre Kampferfahrungen und alternative Organisationsmodelle hat. Dann wird das historische Treffen des kapitalistischen Reformismus mit dem Reformismus der Arbeiterbewegung wirklich den Beginn des revolutionären Prozesses bedeuten. Die heutige Situation ist nicht so: sie bereitet ihn vor und geht ihm voraus. Daher die strategische Unterstützung der allgemeinen Entwicklung des Kapitals von Seiten der Arbeiter und die taktische Opposition gegen bestimmte Arten dieser Entwicklung. Taktik und Strategie widersprechen sich heute in der Arbeiterklasse.

Das heißt, das politische Moment der Taktik und das theoretische Moment der Strategie widersprechen sich in einer komplexen und sehr vermittelten Beziehung zwischen revolutionärer Organisation und Arbeiterwissenschaft. Auf theoretischer Ebene darf der proletarische Standpunkt heute keine Grenzen kennen, er darf sich keine Barrieren setzen, er muß nach vorne springen und dabei alle Tatsachenbeweise überwinden und ablehnen, die die intellektuelle Feigheit des Kleinbürgers dauernd von ihm fordert. Für den Arbeiterstandpunkt ist der Augenblick der Entdeckung zurückgekommen. Die Zeit der Systematisierungen, der Wiederholungen und der gewählten Einfachheit der systematischen Diskurse ist endgültig vorbei: eine eiserne Logik der Parteilichkeit, engagierter Mut für sich selbst und desinteressierte Ironie gegenüber den anderen ist wieder notwendig. Es ist der Fehler zu vermeiden, dies alles mit einem politischen Programm zu verwechseln; es muß die Versuchung bekämpft werden, dieses theoretische Verhalten unmittelbar in den politischen Kampf einzubringen, einen Kampf, der sich auf der Basis präziser Inhaltsvorgaben bewegt, die in einigen Fällen korrekterweise dahin kommen, der Form der theoretischen Behauptungen zu widersprechen. Die praktische Antwort auf praktische Probleme des unmittelbaren Kampfes, der unmittelbaren Organisation, des unmittelbaren Eingreifens in eine Klassensituation, all dies muß an erster Stelle an der objektiven Entwicklung der Bewegung gemessen und erst in zweiter Instanz an der allgemeinen Linie überprüft werden, die sie subjektiv dem Klassenfeind aufzwingt.

Aber die Trennung zwischen Theorie und Politik ist nur die Konsequenz des Widerspruchs zwischen Strategie und Taktik. Die eine wie die andere haben ihre materielle Basis in dem heute noch stattfindenden langsamen Prozeß, zuerst der Trennung und dann der Gegenposition zwischen der Klasse und den historischen Organisationen der Klasse, zwischen der »Arbeiterklasse« und der »Arbeiterbewegung«. Was wollen diese Ausführungen konkret sagen und worauf wollen sie hinaus? Es ist besser, sofort klarzustellen, daß das zu erreichende Ziel die Neubildung einer politisch korrekten Beziehung zwischen den beiden Momenten ist: ihre Trennung darf nicht theoretisiert werden, in keinem Punkt darf eine Position der Gegensätzlichkeit, auch nicht provisorisch, eingenommen werden. Wenn ein Teil der Arbeiterklasse den von der Klasse vorgezeichneten Weg der Revolution wiederfindet, wird der Prozeß der Vereinigung schneller, einfacher, direkter und sicherer sein; im umgekehrten Fall wird der Prozeß gleichermaßen sicher sein, aber weniger klar, weniger entschieden, länger und dramatischer. Es ist leicht, die Mystifizierungen der neuen Kämpfe durch die alten Organisationen zu durchschauen. Schwieriger ist es, die kontinuierliche, bewußte proletarische Instrumentalisierung dessen, zu erfassen, was dem Kapitalisten noch als die organisierte Arbeiterbewegung erscheint.

Im besonderen: Die Arbeiterklasse hat den Händen ihrer traditionellen Organisationen alle taktischen Probleme überlassen, um sich eine autonome strategische Vision vorzubehalten, frei von Hindernissen und ohne Kompromisse. Auch wenn, wie gewöhnlich, das Gegenteil wahr erscheint. Es scheint, als ob die Arbeiter jetzt in einer Perspektive der Zustimmung zum System und nur gelegentlich in Opposition zu ihm stünden; aber das ist die »bürgerliche« Erscheinung der kapitalistischen sozialen Verhältnisse. Die Wahrheit ist, daß sogar die gewerkschaftlichen Scharmützel für die Arbeiter in ihrem Kampf um die Macht politisch akademische Übungen sind, und als solche nehmen sie sie auf, nutzen sie, und so benutzt schenken sie sie dem Unternehmer. Es ist wahr, auf proletarischer Ebene lebt noch die klassisch marxistische These: Das taktische Moment der Gewerkschaft, der Partei das strategische Moment. Wenn deshalb noch eine Verbindung zwischen Arbeiterklasse und Gewerkschaft besteht, so besteht diese Beziehung nicht mehr zwischen Arbeiterklasse und Partei. Daher rührt die Befreiung der strategischen Perspektive von unmittelbar organisatorischen Aufgaben, die transitorische Spaltung zwischen Klassenkampf und Klassenorganisation, zwischen dem permanenten Moment des Kampfes und provisorischen organisatorischen Formen, die Konsequenz eines historischen Scheiterns des sozialistischen Reformismus und Prämisse einer politischen Entwicklung der proletarischen Revolution.

Auf diesen Entwicklungsmechanismus — nicht mehr des Kapitalismus, sondern der Revolution — muß die Aufmerksamkeit der theoretischen Forschung und der praktischen Arbeit tatkräftig gelenkt werden. Es existieren keine Modelle. Die Geschichte der vergangenen Erfahrungen dient uns, um uns davon zu befreien. Wir müssen alles einem neuen Typus von wissenschaftlicher Voraussage anvertrauen. Wir wissen, daß sich der gesamte Entwicklungsprozeß materiell im neuen Niveau der Arbeiterkämpfe verkörpert. Der Ausgangspunkt liegt also in der Entdeckung von bestimmten Kampfformen der Arbeiter, die einen bestimmten Typ der kapitalistischen Entwicklung beweisen, der in Richtung Revolution geht. Davon ausgehend muß man dazu übergehen, an der Basis diese Erfahrungen zu entfalten und subjektiv die neuralgischen Punkte zu wählen, wo es möglich ist, den kapitalistischen Produktionsprozeß zu treffen. Und auf dieser Grundlage muß man probieren und wieder probieren und das Problem auf den Tisch bringen, wie man eine diesen neuen Kämpfen entsprechende neue, stabile Organisation schafft. Dann wird man vielleicht entdecken, daß »Organisationswunder« schon geschehen sind, daß sie in diesen außerordentlichen Kämpfen der Arbeiterklasse immer passieren, die keiner begreift, keiner begreifen will, die aber dennoch alleine mehr revolutionäre Geschichte gemacht haben und machen als alle Kolonialvölker zusammen.

Aber diese auf der Basis der Fabrik entfaltete praktische Arbeit erfordert, um auf dem Terrain der gesellschaftlichen Beziehungen der Produktion zu funktionieren, eine dauernde Beurteilung und Vermittlung durch eine politische Ebene, die sie verallgemeinert. Von dieser neuen politischen Ebene aus muß eine neue Form der Arbeiterzeitung gesucht und organisiert werden: Eine Zeitung, die nicht unmittelbar alle partikularen Erfahrungen wiederholt und aufnimmt, sondern sie in einem allgemein politischen Diskurs fokussiert. Die Zeitung ist in diesem Sinn ein Kontrollpunkt oder besser eine Selbstkontrolle des strategischen Wertes der einzelnen Kampferfahrungen. Die formale Prozedur der Überprüfung muß entschieden umgestülpt werden. Es ist der politische Diskurs, der die Korrektheit der partikularen Erfahrungen überprüfen muß, und nicht umgekehrt, da auf dieser Basis der politische Diskurs der verallgemeinerte Klassenstandpunkt und so materieller Fakt und realer Prozeß ist. Es ist einfach zu sehen, wie man sich auf diesem Weg von der leninistischen Konzeption einer Arbeiterzeitung entfernt, die kollektiver Organisator auf der Basis oder in Voraussicht einer bolschewistischen Klassenorganisation und Partei war. In der aktuellen Phase des Klassenkampfs für uns unzulässige Ziele, da es erforderlich ist, von der Entdeckung einer politischen Organisation auszugehen, nicht von einer vorgeschobenen Avantgarde, sondern von der kompakten sozialen Masse, zu der die Arbeiterklasse in der Periode ihrer geschichtlichen Reife geworden ist. Gerade wegen dieser Charakteristiken ist sie die einzige revolutionäre Kraft, die drohend und schrecklich die herrschende Ordnung kontrolliert.

Wir wissen es. Und vor uns wußte es Lenin. Und vor Lenin hat Marx es in seiner eigenen menschlichen Erfahrung entdeckt, daß der schwierigste Punkt der Übergang zur Organisation ist. Die Kontinuität des Kampfes ist einfach: die Arbeiter brauchen nur sich selbst und den Unternehmer ihnen gegenüber. Aber die Kontinuität der Organisation ist eine seltene und komplexe Sache: sobald sie sich in einer Form institutionalisiert hat, wird sie sofort vom Kapitalismus oder von der Arbeiterbewegung im Namen des Kapitalismus benutzt. Von daher die Schnelligkeit, mit der die Arbeiter in passiver Weise die organisatorischen Formen ablehnen, die sie gerade erobert haben. Mit dem permanenten Kampf in der Fabrik, in immer neuen Formen, die nur die intellektuelle Phantasie der produktiven Arbeit entdecken kann, ersetzen die Arbeiter die bürokratische Leere einer allgemein politischen Organisation. Der revolutionäre Prozeß kann nicht beginnen, ohne daß eine politisch unmittelbar proletarische Organisation allgemein wird: die Arbeiter wissen dies, und deshalb findet ihr sie heute nicht bereit, in den Kirchen der Partei die demokratische Litanei der Revolution zu singen. Die Realität der Arbeiterklasse ist endgültig an den Namen Marx gebunden. Die Notwendigkeit ihrer politischen Organisation ist genauso endgültig an den Namen Lenin gebunden. Die leninistische Strategie brachte Marx mit einem Meisterschlag nach Petersburg: nur der proletarische Standpunkt war zu einer derartigen revolutionären Kühnheit fähig. Versuchen wir den umgekehrten Weg mit dem gleichen wissenschaftlichen Geist der kühnen politischen Entdeckung zu gehen. Lenin in England ist die Suche nach einer neuen marxistischen Praxis der Arbeiterpartei: das Thema des Kampfes und der Organisation auf dem höchsten Niveau der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse. Auf diesem Niveau lohnt es, Marx davon zu überzeugen, »die mysteriöse Kurve in der Grundlinie von Lenin« wieder zu durchlaufen.

 

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