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10.08.2016

Der Islamische Staat im Irak und Syrien

aus: gekürzt aus Wildcat 100, Sommer 2016

Hysterie

Die letzten Wochen waren geprägt durch eine Folge von kleineren, aber auch großen Anschlägen in Frankreich und der BRD von Tätern, die sich selbst zum IS bekannt haben. In der BRD gab es den ersten dschihadistischen Anschlag mit einer funktionierenden Bombe. In den Medien wurde das zusammen mit dem Amoklauf in München und den Ereignissen in der Türkei zu einem engen Gewebe der Angst zusammengestrickt, das alles vergiftet und hysterische Züge hat – was aber vor allem die »Sicherheitspolitiker« zu massivsten Vorstößen ausnutzen. Bundeswehr im Innern, immer weiterer Ausbau des Gewalt- und Überwachungsapparates, Vorbereitung auf den Bürgerkrieg. Die Absage des Karnevals in Braunschweig im Februar 2015, des Freundschaftsspiels in Hannover im November, die Silvesternacht in München, usw. waren Proben in kleinem Maßstab. Den Amoklauf in München hat die Polizei genutzt, um eine ganze Stadt lahmzulegen und in Panik zu versetzen – obwohl sie sehr schnell wussten, dass es die Aktion eines Einzeltäters in einem eng begrenzten Bereich war. Gleichzeitig riefen die Medien auch den Ausnahmezustand aus und übertrugen die Münchener Verunsicherung auf die ganze Republik. Nach den ersten Meldungen stoppten fast alle Fernsehsender ihr Programm und wiederholten in Sondersendungen immer wieder, dass man nichts wisse, aber islamistischer Terror am wahrscheinlichsten sei – allen voran die ARD, die von 20 Uhr bis Mitternacht diese Schleife sendete.

Nährböden

Noch sind die Menschen im Großen und Ganzen relativ ruhig – was ja auch der realen Gefährdungslage viel mehr entspricht als die mediale Panikmache.

Aber solche Panikmache hat einen tieferliegenden Nährboden: die starke und zunehmende soziale Verunsicherung und A(bstiegsa)ngst. Viele haben heute nach Jahrzehnten Arbeit keine Rente, die ihren Lebensstandard erhält, Kindern geht es schlechter als ihren Eltern, etliche haben keine sicheren Jobs mehr. Die jüngste Krise (seit 2008) und die jüngste Massenimmigration (seit 2015) verschärfen diese Situation. Diese Verunsicherung zeigt sich gerade überall: im Aufstieg der Rechtspopulisten (AfD, FN, etc.), im Brexit, im Zulauf zu den Dschihadisten… Die großen Anschläge in Frankreich und Belgien, »Silvester in Köln«, usw. verstärken die Verunsicherung und Angst. Eine sich selbst ernährende Abwärtsspirale, in der der IS (und andere) rekrutieren können, nämlich aus den Reihen der sogenannten »Abgehängten« – normale, eher unauffällige Leute, die im Niedriglohnsektor arbeiteten und/oder kleinkriminell unterwegs waren. In Nizza waren, soweit man das jetzt weiß, der Täter und sein Umfeld Migranten, die seit knapp zehn Jahren in Europa sind und zu Niedriglohn arbeiteten, in Orlando arbeitete der Täter als Security.

Die deutschen Anschläge fallen etwas aus dem Rahmen, sind dafür aber eng mit der Massenflucht vor den Kriegen im Nahen Osten und den Toten auf dem Mittelmeer verknüpft: in Würzburg war es ein verstörter afghanischer Flüchtling, in Ansbach ein Ex-Kämpfer einer dschihadistischen Miliz in Syrien.

IS: Neustart in Europa?

Ende September 2014 – parallel zum Kampf um Kobane, der ersten großen Niederlage des IS – änderte dieser seine Strategie im Westen: Er rief seine Anhänger dazu auf, Anschläge zu begehen, besonders in Frankreich. Vorher hatte er nie auf Anschläge im Westen gesetzt, er verfügte zwar über Propaganda-, Rekrutierungs- und Finanzierungsstrukturen, aber (im Unterschied zu Al-Quaeda) über keine klandestine Zellenstruktur, die Anschläge ermöglicht.

Um diese Hürde zu überwinden, machte der IS klar, dass die Ziele von Anschlägen nicht wichtig sind: egal ob Zivilisten oder Militärs, Gläubige oder Ungläubige, viele oder wenige Tote: wer im Feindesland angreift, ist Teil des Kampfes (einige Ziele hatten natürlich trotzdem auch Symbolcharakter: eine Satirezeitung, ein Rock-Konzert, ein Schwulenclub…) und der Tod der Täter ist dabei immer eingeplant. So wurde es für den IS möglich, schnell Anschläge zu begehen. Diese werden auf verschiedenen Wegen durchgeführt: über die Aktivierung alter Al-Quaeda-Strukturen in Frankreich (Charlie Hebdo), von Rückkehrern zusammen mit ihrem aus der Zeit vor Syrien bestehenden lokalen Umfeld (Paris und Belgien), von Attentätern ohne direkten Kontakt zum IS oder anderen dschihadistischen Strukturen, mit keinem oder nur einem kleinen lokalen Umfeld (San Bernadino, Orlando).

In den letzten Wochen wurde deutlich, dass der IS seit 2014 auch eigene klandestine Strukturen in Europa aufgebaut hat. Das wurde beim Anschlag von Nizza offensichtlich, der über ein Jahr lang von einer IS-Gruppe (die den Sicherheitsbehörden wohl unbekannt war) geplant wurde. Genauso der Attentäter von Würzburg, ein junger Afghane, wurde wahrscheinlich von lokalen Strukturen zu dem Anschlag überredet. Und über den Attentäter von Ansbach veröffentlichten IS-Nachrichtenseiten direkt nach der Tat detaillierte Informationen. Auch er war den Behörden angeblich nicht bekannt und auch bei ihm gibt es Hinweise, dass er in eine Planungsstruktur eingebunden war.

Terroranschläge im Westen sind eins der Ausweichmanöver des IS angesichts seines Niedergangs in seinem Kerngebiet, dem Irak und Syrien, wo er militärisch immer mehr ins Hintertreffen gerät. Dieser Strategiewechsel hat ihn in Europa erstmal organisatorisch gestärkt. Über seine Zukunft wird aber im Irak und in Syrien entschieden. Im folgenden der gekürzte Artikel aus der Wildcat 100.

Der Islamische Staat im Irak und Syrien

Der Islamische Staat (IS) ist in Europa, aber auch im Nahen Osten zu einer Front in der Auseinandersetzung mit den Unterklassen geworden. Geopolitisch hat er die Fronten im Nahen Osten durcheinandergewirbelt. Er ist aber nicht die Ursache der Instabilität in der Region und der von dort ausgehenden seismischen Wellen rund um den Erdball, sondern deren Produkt.

Der IS vor dem syrischen Bürgerkrieg

Das US-amerikanische Besatzungsregime im Irak schuf die sozialen Bedingungen, aus denen der IS entstehen konnte. Durch die De-Baathisierung verloren große Teile der sunnitischen (genauer gesagt der sunnitisch-arabischen) Bevölkerung ihre Jobs, die freigewordenen Stellen in Staat und Armee wurden durch schiitische Iraker aufgefüllt. Mittels Vertreibungen und Umsiedlungen schufen die schiitischen Eliten ein zusammenhängendes schiitisch dominiertes Gebiet. De facto wurde der Irak in drei Regionen geteilt: ein »schiitisches«, ein »sunnitisches« und ein »kurdisches« (die kurdische Autonomie-Region).

Als Reaktion darauf kam es zum Aufstand von Teilen der sunnitischen Bevölkerung gegen die amerikanische Besatzung, zunächst großteils von den Baathisten angefacht und finanziert. Doch von Anfang an spielten dabei auch Dschihadisten1 eine Rolle.

Die Entwicklung nahm Fahrt auf, als eine Gruppe von Al-Qaida-Kämpfern mit Unterstützung durch Saudi-Arabien (Geld und lokale Kontakte) aus Afghanistan einreiste, um gegen die amerikanische Besatzung zu kämpfen. Diese Kämpfer um den Jordanier Zarqawi wollten das Kalifat im Irak als dem Zentrum der islamischen Welt errichten, damit es sich von dort aus global ausbreite. Sie forcierten von Anfang an die Strategie, den Aufstand gegen die USA zu einem Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten zu machen.

Anfangs hatten sie große Probleme, im Irak Verbündete zu finden und eigene Nachschub- und Rückzugstrukturen zu entwickeln. Aber je länger der Aufstand dauerte, um so einflussreicher wurden die Dschihadisten.

Allerdings wurde 2006 klar, dass sie weder stark genug waren, die Angriffe der schiitischen irakischen Armee und der USA zurückzuschlagen, noch die sunnitische Bevölkerung vor den schiitischen Todesschwadronen zu schützen. Die USA konnten den sunnitischen Widerstand mit Angeboten spalten. Als sie Zarqawi töteten, kam zur bröckelnden Unterstützung durch die Bevölkerung eine Führungskrise von AQI hinzu.

In dieser Situation trat die mittlerweile junge und großteils irakische Führung von AQI die Flucht nach vorne an: im Oktober 2006 benannte sie sich in Islamischer Staat Irak um und gab ihrem Anführer Abu Omar al-Baghdadi den Titel Amir al-Muminin (‏»Befehlshaber der Gläubigen«), was für alle als Titel eines Kalifen erkennbar war. Der Kampf im Irak wurde zur Sackgasse – als Ausweg erschien eine Verlagerung nach Syrien. Mit seinem autoritären, säkular-baathistischen Regime unter Präsident Assad, dessen Führungsriege auch noch der »häretischen« Sekte der Alawiten angehörten, war Syrien der »perfekte Feind«.

Im Irak wurde der Dschihad bis 2010 immer schwächer. Im Juli 2010 schätzten die USA die Anzahl der Kämpfer des ISI auf nur noch 200. Erst nach dem Scheitern der Ausläufer des »arabischen Frühlings« im Irak stieg die Zahl der Kämpfer erneut, im November 2011 waren es laut den USA wieder 8000, Mitte 2013 war der ISI wieder die klar dominierende Kraft im sunnitischen Irak.

Bürgerkrieg in Syrien – Aufstieg des IS

2011 eskalierten die Aufstandsversuche in Syrien rasend schnell zu einem Bürgerkrieg, wodurch für den IS eine extrem günstige Situation entstand. Er zog viele Kämpfer aus dem Irak nach Syrien ab und konnte dabei auf schon vorhandene Strukturen zurückgreifen. Assad hatte den Aufständischen gegen das amerikanische Besatzungsregime im Irak (und besonders den Dschihadisten) Unterschlupf gewährt und ihnen erlaubt, sich in Syrien frei zu bewegen und Unterstützungsstrukturen aufzubauen, um den Irak zu schwächen.

Assad ließ eine große Zahl von Dschihadisten aus den Gefängnissen frei, um den Aufstand zu delegitimieren und zu schwächen. Und er sperrte rebellierende Mittelschichtsjugendliche mit Dschihadisten in gemeinsame Zellen, wodurch Erstere sich radikalisierten.

Mit Beginn des syrischen Bürgerkriegs Ende 2011wurden die Dschihadisten massiv von den sunnitischen Ölstaaten wie Saudi-Arabien, den Emiraten, Katar, aber auch der Türkei und dem Westen unterstützt. Hiermit beginnt die neue Phase des IS als territorialem Staat, der auch tatsächlich eine einheitliche Staatlichkeit zu schaffen versucht (Gesetze werden überall gleich angewendet, die Milizen verhalten sich diszipliniert usw.). 2013/14 schaffte der IS den Übergang von einem propagandistisch verkündeten Staat zu einem realen Staat in großen Teilen der sunnitischen Gebiete. Im Juni 2014 erklärte sich der IS erneut zum Kalifat und benutzte nun für Abu Bakr al-Baghdadi den Titel »Kalif« auch offiziell.

Von 2014 bis Anfang 2016 war der IS faktisch die führende Kraft in großen Teilen des Irak mit sunnitischer Mehrheit und in großen Teilen des sunnitisch dominierten ländlichen Syrien. Entscheidend war seine Anziehungskraft für Teile der frustrierten Aufständischen des »arabischen Frühlings«. Der IS hat sich seit 2006 immer deutlich gegen die Mächtigen im Nahen Osten gestellt, das war etwas Neues im Dschihadismus. Strategisch war es nicht besonders aussichtsreich, ohne Ansehen der jeweiligen Kräfteverhältnisse alle zu Feinden zu erklären.

Der IS: ein »Patchwork-Staat«

Das extrem schnelle Anwachsen führte zu einer zusammengewürfelten, teilweise widersprüchlichen Struktur. Im Zentrum steht immer noch eine sehr kleine Kaderstruktur im Untergrund, die den IS schon vor 2010 anführte. Diese ist gut organisiert und scheint über einen bürokratischen Apparat zu verfügen. Der Kalif wird von der Schura (Ratgebergremium) gewählt; ihre Mitglieder sind nicht genau bekannt, es gehören ihr aber die unter Kampfnamen bekannten Gouverneure der Regionen und einige wichtige Militärführer an.

In den verschiedenen Regionen ist die Organisation unterschiedlich stark verankert. Trotzdem versuchte der IS seit Mitte 2014, eine einheitliche Staatlichkeit zu konstruieren. In Syrien beendete er die wilden Plünderungen und Vergewaltigungen und legte viel Wert auf die juristische Begründung seiner eigenen Brutalität und Exzesse; darüber wurden lange juristische Debatten geführt. Trotz der extremen Zwänge führten die größere Berechenbarkeit (im Vergleich zu den anderen sunnitischen Milizen) und der Versuch, eine (subventionierte) Krankenversorgung und Lebensmittelversorgung sicherzustellen, anfangs auch zu einer gewissen »Attraktivität« der IS-Herrschaft für die jeweilige lokale Bevölkerung.

Auch wenn »Stämme« in der lokalen Situation eine große Rolle spielen, ist der IS weder an Stammesverpflichtungen noch an konkrete Gebiete gebunden. Somit kann er eroberte Gebiete schnell einbinden, sie aber auch wieder aufgeben. Sein Universalismus und der »ausländische« bzw. pragmatische Charakter (Ex-Baathisten, Dschihadisten) ermöglichen es ihm, schnell in Gebiete vorzustoßen, in denen die Strukturen der vorigen Ordnung zerstört sind. In Gebieten ohne sunnitisch-arabische Mehrheit ist es ihm allerdings fast unmöglich, wirksam zu werden.

Finanzierung

Eine wichtige Rolle für die Finanzierung spielen Steuern, Wegzölle und der Zugriff auf einen Teil der riesigen Dollarsubventionen, die die USA in den Irak schütten. Sie sind wichtiger als der Öl-Außenhandel (der keineswegs unbedeutend ist!). Hinzu kamen während der Eroberungen die Einnahmen aus der Konfiszierung von Privateigentum. Durch die Mischung von Einnahmen aus diesen Quellen, den weiter gezahlten Löhnen an Staatsbedienstete im Irak und Syrien und dem Export von regionalen Produkten konnte der IS sich als erste dschihadistische Kraft von der Finanzierung durch Staaten und Geheimdienste unabhängig machen.

Armee

Ähnlich wie der IS in seiner Gesamtheit, ist auch seine Armee nicht einheitlich. Im Irak sind viele politisch-militärische Anführer durch die Armee, Polizei oder die Geheimdienste Saddam Husseins ausgebildet worden und haben ihre Kampferfahrung im Kampf gegen die amerikanische Besatzung erworben; in Syrien spielen daneben auch viele Kämpfer aus Ex-Sowjetrepubliken wie Tschetschenien oder Georgien eine wichtige Rolle, von denen viele nach der (zweiten) Ausrufung des Kalifats aus syrischen Gruppen wie al-Nusra zum IS wechselten. Die (irakischen) Führungskader kommen aus angesehenen Familien.

Daneben gibt es Kämpfer, für die der Kampf in der IS-Armee die einzig mögliche Einkommensquelle ist. Mit der Ausweitung ab 2013 wurden die Einheiten des IS immer diffuser, auch deswegen ist es schwer, seine militärische Stärke zu beziffern, die Schätzungen gehen von 15000 bis auf über 150000 Kämpfer, wobei zumindest die Zahl der gut ausgebildeten Soldaten beim unteren Wert liegt.

Der kommende Untergang

Seit Mitte 2015 befindet sich der IS auf dem Rückzug und die Einnahmen sinken. Im Dezember 2015 musste der IS in ar-Raqqa den Sold um die Hälfte kürzen. Dennoch ist der IS noch nicht vom direkten finanziellen Zusammenbruch bedroht; der IHS Conflict Monitor schätzte im Juni 2016 die Einnahmen aus Ölproduktion, -export und Besteuerung immer noch auf 26 Millionen Dollar im Monat. Aber die militärische Ausweitung ist vorbei.

Scheitern in Kobane als Wendepunkt

Kobane war die entscheidende Schlacht für den IS. Bis dahin war es ihm gelungen, seine Kräfte sehr viel stärker aussehen zu lassen, als sie wirklich waren. Die meisten Gefechte hatten in mehrheitlich sunnitischen Gebieten gegen nicht-sunnitische Gegner stattgefunden, die lieber flohen, als ihr Leben zu riskieren. In Kobane war der IS dann gezwungen, eine offene Schlacht auf nicht-arabisch-sunnitischem Gebiet zu riskieren. Durch die Erfolge geblendet überschätzten selbst seine Führer ihre militärischen Fähigkeiten und versuchten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften, Kobane einzunehmen. Dabei erlitt der IS zum ersten Mal wirklich hohe Verluste (wenn auch vor allem an unerfahrenen Soldaten, aber die Wirkung war dennoch enorm). Die Niederlage wirkte demoralisierend, denn sie machte offensichtlich, dass seine Erfolge nicht auf die eigene Stärke, sondern auf die Schwäche der Gegner zurückgingen. Seither hat der IS sämtliche wichtigen Gefechte verloren, und obwohl er sich fast immer schnell zurückgezogen hat, summieren sich die Gebietsverluste und die Verluste an Soldaten.

Schon im November 2014 hatte der IS im Irak die Kontrolle über die Industriestadt Baidschi verloren, im März 2015 kam Tikrit dazu, im November Sindschar und damit der Verlust der wichtigsten Verbindung zwischen Mossul und ar-Raqqa, im Dezember Ramadi. Im März fiel Palmyra, im Juni Falludscha (womit die Anbar-Provinz, eine traditionelle Hochburg des IS, fast vollständig unter der Kontrolle der irakischen Armee ist), und heute (6.8.2016) scheint auch Manbidsch gefallen zu sein.

Nun zeigt sich, dass der IS nicht genug Soldaten hat, um militärisch zu bestehen; seine Offiziere müssen sich stärker exponieren und können deshalb leichter gezielt ermordet werden.

Inzwischen werden auch die inneren Risse sichtbarer: Durch den Verlust von Verbindungsstraßen und Gebieten wird die Versorgung und Verwaltung der Städte immer schwieriger. Selbst in den zuvor gut versorgten Gebieten wie Mossul gibt es seit einem Jahr wieder Probleme mit der Stromversorgung.

Gleichzeitig wächst der Widerstand in der Bevölkerung. Es vergeht fast kein Tag ohne Proteste, im November und Dezember gab es zwei Berichte darüber, dass die lokale Bevölkerung versuchte, Richter des IS zu erschießen. Im Februar kam es zu Gefechten in Falludscha zwischen dem IS und »Stammesangehörigen«. Außerdem wurde in den letzten Monaten immer wieder über Zwangsrekrutierungen sowie Massenhinrichtungen von angeblichen Kollaborateuren in den vom IS beherrschten Städten berichtet. Immer mehr Kämpfer wollen raus. Und trotz vieler Einknastungen und Hinrichtungen schaffen es viele Deserteure zurück in ihre Heimatländer, z. B. nach Europa.

Ausweichmanöver

Die Terroranschläge im Westen sind Ausdruck der Schwäche des IS in seinem Kerngebiet. Trotz (oder wegen?) dieser Anschläge sank die Zahl der Rekruten aus dem Westen weiter.

Die Anschläge kommen auf verschiedenen Wegen zustande: In Frankreich und Belgien sind es zurückgekehrte Kämpfer, die auf die Unterstützung ihres lokalen Bekanntenkreises bzw. durch lokale Strukturen zurückgreifen können; in San Bernardino und Orlando waren es »inspirierte« Einzeltäter; in Asien (Bangladesch, Indonesien…) sind es lokale Gruppierungen ohne direkte Verbindung zum IS, die aber »als IS« handeln.

Im Nahen Osten (Libanon, Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien, Türkei…) haben die Attentäter meist direkte Verbindung zu den logistischen Strukturen des IS in Syrien und dem Irak. Dort hat der IS seine Terrorstrategie erneut ausgeweitet. Ende Juni und Anfang Juli gab es in Istanbul, Bagdad und Medina schwere Anschläge. Während der Anschlag in Bagdad als Reaktion auf die Eroberung Falludschas gesehen werden kann, sind die Anschläge auf einen Flughafen in der Türkei, zu Beginn der Reisesaison, und auf eines der höchsten islamischen Heiligtümer in Saudi-Arabien zum Ende des Ramadan Kriegserklärungen, die die jeweiligen Regimes vor große Probleme stellen. Im Unterschied zu Saudi-Arabien hat Erdoğan den IS lange Zeit weniger als Bedrohung denn als Werkzeug gesehen, das er in Syrien, aber auch innenpolitisch benutzen konnte. Die Anschläge in Suruç und Ankara passten innenpolitisch sehr gut in seinen Wahlkampf. Das ist spätestens seit dem Anschlag auf deutsche Touristen in Istanbul im Januar 2016 vorbei. Allerdings ist die Türkei immer noch auf den IS angewiesen, um die (vor allem turkmenischen) Milizen in Syrien zu unterstützen, die durch den Vormarsch der syrischen Armee den direkten Zugang in die Türkei verloren haben. Seit Juni bekämpfte die Türkei den IS an der Grenze trotzdem auch mit eigenen Truppen, kurz danach fand der Anschlag auf den Istanbuler Flughafen statt.

Was kommt?

Die Staatlichkeit des IS ist keine realistische Agenda. Die erfahrenen Kader können wahrscheinlich mit den Enttäuschungen und Niederlagen umgehen. Sie haben mehr als ein Jahrzehnt Erfahrung im Guerillakrieg gegen Gegner, die über die Lufthoheit verfügen, und es schon zwei Mal geschafft, sich nach ziemlich verheerenden Niederlagen den veränderten Bedingungen anzupassen und wiederzukommen. Aber es sieht nicht so aus, als würden die in den letzten Jahren gewonnenen neuen Soldaten ihnen weiterhin folgen, das gilt besonders für die internationalen Rekruten.

Der IS ist keine urbane Kraft, sein stabiler Kern betritt nur selten Städte, seine wichtigen Basen befinden sich außerhalb. Er kann die Städte nur durch Bündnisse mit lokalen Eliten und durch Terror unter Kontrolle behalten. Bis Sommer 2016 nahm der IS bei der Verteidigung von Städten keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Das war in Falludscha anders. Im Unterschied zu z.B. Ramadi ist es nach der Eroberung keine komplett zerstörte Stadt. Der IS hatte auf die von ihm sonst betriebene zerstörerische Verteidigung verzichtet, deutlich weniger Häuser waren vermint. Die Schäden sind aber trotzdem massiv: Seit Sommer 2014 stand die Stadt unter ständigem Artilleriefeuer, dazu kamen die Bombardierung und der Anfang Juli noch andauernde Straßenkampf.

Mit der Rückeroberung sind die Probleme nicht gelöst: Im Irak misstraut die sunnitische Bevölkerung der irakischen Armee und den Peschmerga, sie fühlt sich seit Jahren benachteiligt und hat von den systematischen Vertreibungen von Sunniten sowohl durch die »irakische Armee« und die sie unterstützenden schiitischen Milizen als auch durch die irakisch-kurdischen Peschmerga gehört. Eine »Befriedung« ist letztlich nur vorstellbar, wenn die Bevölkerung eine eigene politische Perspektive entwickelt. Durch den Zerfall des IS eröffnet sich im Irak erneut eine (kleine) Chance, dass die sunnitische Bevölkerung ihren Unmut anders als durch dschihadistische Gruppen ausdrückt. Aber der Terror, mit dem der IS zurzeit den Irak überzieht, droht diese Chance zu zerstören. Gerade die Bombenanschläge in Bagdad nehmen zu, dort übernehmen schiitische Milizen Polizeiaufgaben, und die sunnitischen Vorstädte werden als »Antiterrormaßnahme« weiter entvölkert.

Obwohl die Lage insgesamt ziemlich düster ist, gibt es immer wieder kleine Hoffnungsschimmer: Fünf Jahre nach den Aufständen in Nordafrika haben die Menschen in Tunesien erneut die Straßen in Besitz genommen. Und sie protestieren nicht unter dem Banner des Islam, sondern für die Umsetzung sozialer Forderungen. Gleichzeitig erlebte auch der Irak in den letzten Monaten eine (kleine) Massenbewegung, vor allem in Bagdad.2 Unter dem Slogan »Die Diebe haben uns im Namen der Religion bestohlen« protestierten sie gegen die schiitisch geprägte Regierung (und die lokalen Autoritäten), aber auch gegen die Parteien im Parlament oder die verschiedenen politisch-religiösen Kräfte und forderten stattdessen einen pluralistischen Irak. Diese Bewegung, auf deren Demonstrationen zum Höhepunkt im Dezember 2015 über 50 000 Leute waren, heißt madaniyya (Bürgerlichkeit/ Zivilgesellschaft). Seit Frühjahr 2016 werden die Straßen Bagdads allerdings durch die Mobilisierungen der Anhänger Muqtada as-Sadrs dominiert, einem schiitischen Prediger und irakisch-nationalistischen Populisten, der eine Technokratenregierung zur Lösung der Wirtschaftskrise fordert. Im April 2016 stürmten seine Anhänger sogar das Parlament. Wieder wurde eine säkulare Bewegung durch eine religiöse ersetzt. Aber auch wenn die Bewegungen von unten, die für eine bessere Zukunft gegen den zerstörerischen Status quo kämpfen, bisher immer nur kurz aufleuchten, um schnell wieder in Terror, religiösem Extremismus und Bürgerkrieg zu verschwinden – nur in ihnen liegt eine Chance auf eine bessere Welt.

Fußnoten:

[1] Dschihadisten meint in diesem Text alle Kräfte und Personen, die aus der durch Al-Qaida zusammengehaltenen globalen Strategiediskussion und den daraus entstandenen Organisationen hervorgegangen sind. Im Kern geht es dabei um sunnitisch-arabische Kader.
IS wird manchmal auch als Name der Gruppe in Zeiten benutzt, als sie sich anders nannte: 2003 bis 2006 Al-Qaida Irak, ab 2006 Islamischer Staat Irak, ab 2013 ISIS/ISIL – ab 2014 dann IS.

[2] Nibras Kazimi: Did the ›Twitter Revolutions‹ Fail?, Januar 2016, talisman-gate.com.

 
 
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