Wildcat Nr. 42 - Herbst 1987 - S. 52-67 [w42suedk.htm]


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Südkorea - Demokratie oder Arbeiterautonomie

Die aktuelle Welle von Streiks und Revolten der Arbeiter-innen in Südkorea ist der offene Angriff der Klasse auf das Demokratisierungsprojekt des Kapitals. Die Militanz dieser Kämpfe setzt sich zur Zeit genauso entschlossen über die Warnungen der bürgerlichen Opposition vor einer Gefährdung des Demokratisierungsprozesses hinweg, wie über die Drohungen des Militärs mit demonstrativen Manövern »gegen den inneren und äußeren Feind«.

Die Demokratie der Ausbeutung beruht immer auf der Gewalt der Waffen im Hintergrund, auch wenn dies in den Metropolen nicht täglich erfahrbar ist. Die ständig drohenden oder realen Konfrontationen mit dem Militär in den »jungen Demokratien« Brasilien, Argentinien, den Philippinen oder Haiti stehen nicht im Gegensatz zu dem Demokratisierungsprojekt des internationalen Kapitals. In Argentinien sollen putschende Offiziere die Massen für einen demokratischen Staat auf die Straße treiben, den sie kurz zuvor noch bekämpft haben. In Brasilien läßt die Regierung die bestreikten Ölraffinerien und Häfen vom Militär besetzen, es werden neue Putschgerüchte ausgestreut, um der Klasse klarzumachen, daß die gewaltsame Absicherung der Ausbeutung zur Normalität der Demokratie gehört. Auf den Philippinen wird wie abgesprochen jedesmal, wenn die neue Regierung von der Klasse angegriffen wird, ein militärischer Putsch inszeniert.

Der eigentliche Kern des Demokratisierungsprojekts, für das sich die USA und sozialistische Internationale auf Geheiß des transnationalen Kapitals stark machen, liegt in der neuen Phase von Klassenkämpfen, die in den erwähnten Ländern, also international, offensichtlich ist. In den 70er Jahren und nochmal zu Beginn der 80er blieb dem Kapital nur noch die offene Repression der Waffen, um seine Macht aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig versuchte das Kapital, dieser politischen Klassensubjektivität im weltweiten Rahmen die materielle Basis zu entziehen - durch die technische und regionale Neuzusammensetzung der internationalen Klasse. Dazu gehört zum Beispiel die Verlagerung von arbeitsintensiven Industrien wie Textil und Elektronik in Länder wie Südkorea, aber auch die Auslagerung von Schwerindustrie aus den Metropolen, um hier einer alten Arbeiteravantgarde politisch das Genick zu brechen. An den Niederlagen der Arbeiter-innen-Kämpfe und dem Steckenbleiben der nationalen Befreiungsbewegungen in den 70er Jahren ist ablesbar, wie weit ihm das gelungen ist. Aber das Kapital entwickelt sich nicht von selbst; es beruht auf lebendiger Arbeit und auf deren Subjektivität. Die einzige dynamische Größe im Kapital ist die Klasse. So sehr das Kapital auch immer wieder die Klasse bekämpft, es beruht in seiner Existenz und Entwicklung einzig und allein auf dieser antagonistischen Kraft. Demokratisierung ist der Versuch, die Klasse in ihren Kämpfen als diesen mobilen Motor des Kapitals anzuerkennen und gleichzeitig am politischen Heraustreten aus dem Kapitalverhältnis zu hindern. In seiner historischen Entwicklung beruht das Kapital nicht auf der Ausbeutung isolierter Arbeitskraft, sondern auf der Ausbeutung der Klassenkämpfe. In Südkorea ist das heute aktuell, weil das internationale Kapital allein in einem Funktionalisieren des Klassenkampfs die Chance einer Intensivierung der Ausbeutung sieht (d.h. eines Übergangs zur relativen Mehrwertproduktion). Die entscheidende Frage (und revolutionäre Aufgabe) bezüglich des neuen Zyklus von Arbeiterkämpfen liegt darin, ob die Klasse international diese ständige Ausbeutung ihrer Kämpfe durchbrechen kann. Und diese Frage - wie die Klasse aufhört das Kapital voranzutreiben und es stattdessen zerstört! - kann nur als internationale gestellt werden.

Klassenkampf als Motor der Kapitalproduktivität?

Unter der Überschrift »Werden die Arbeiterunruhen den Boom zerstören?« werden in »business week« vom 31. August Überlegungen in diese Richtung vorgenommen. Daran wird zugleich deutlich, wie Demokratie als die politische Form funktionieren soll, unter der die Klasse die Produktivität des Kapitals - also die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit - entwickelt.

»Wenn die Arbeiter bessere Löhne und Arbeitsbedingungen erreichen können, so könnte dies die Grundlage für Produktivitätssteigerungen über viele Jahre hinweg schaffen. ... Auch die koreanischen Investoren sehen in den Arbeitskonflikten ein gutes Zeichen: am 19. August (einen Tag nach der »Beilegung« des Hyundai-Konflikt durch Regierungs-Vermittlung) erreichte die Börse in Seoul einen noch nie dagewesenen Hochpunkt. Durch den Abbau der Unzufriedenheit unter den Arbeitern, so hoffen die Investoren, werde es zu größeren Unternehmensprofiten kommen.«

An einigen Fällen sei diese Entwicklung bereits ablesbar:

»Optimisten hoffen, daß Arbeiter und Managment in einzelnen Fabriken und Unternehmen rasch zu Vereinbarungen kommen werden. In den meisten Fällen verlangen die Arbeiter, die in der Industrie durchschnittlich $2 pro Stunde verdienen, Lohnerhöhungen von etwa 20%, mehr Freizeit und die Bildung unabhängiger Gewerkschaften. In Unternehmen, die bereits Verträge abgeschlossen haben, fanden sich die Arbeiter dazu bereit, die Produktionsausfälle in 65-Stunden-Wochen wieder hereinzuarbeiten.«

In dieser angeblichen »Bereitschaft zu noch härterer Arbeit« liegt die Hoffnung des Kapitals.

Aber zur Zeit scheitert die Ausbeutung der Kämpfe durch einzelbetriebliche Lösungen daran, daß die Klasse von verschiedenen Sektoren her immer wieder das gesamte Industriesystem blockiert und darin ihre politische Einheit entwickelt. Nachdem es zunächst so aussah, als könnten die beherrschenden Großbetriebe - die »chaebol« wie Hyundai oder Daewoo - den Konflikt tatsächlich in solche Vereinbarungen umsetzen, werden sie nun weiter durch die Streikwelle in den Klein- und Mittelbetrieben blockiert und ebenso drohen ständig Unterbrechungen im Transportsektor. Darin liegt fürs Kapital ein größeres Problem als nur die technische Anfälligkeit der Zulieferstrukturen. Die Ausbeutungsstruktur in Südkorea basiert auf einer extremen Aufspaltung und Individualisierung der Klasse in verschiedene Sektoren. Der Masse der unter dem Existenzminimum entlohnten Arbeiterinnen und Arbeiter in den Klein- und Mittelbetrieben, die ebenso wie das Proletariat der Straßenhändler, Gelegenheitsarbeiter und Kleinkriminellen aus den Slums der Großstädte kommt, standen die privilegierteren und meistens männlichen Arbeiter in den großen Betrieben der Schwerindustrie gegenüber. Bei früheren Streikbewegungen wurde das immer wieder zum Hemmnis. Aber in der Gleichzeitigkeit der jetzigen Kämpfe liegt zumindest die Tendenz, diese Aufspaltungen zu überwinden.

Denn auch die Hoffnungen auf die Gewerkschaftsabkommen in den Großbetrieben wurden von den Arbeitern bei Hyundai und Daewoo schnell wieder zunichte gemacht. In diesen Streiks benutzen die Arbeiter sofort die Angreifbarkeit des konzentrierten fixen Kapitals in der Form des Sit-In-Streik, die seit den amerikanischen Automobilarbeiterkämpfen in den 30er Jahren die wirksamste Kampfform an den Montagelinien ist. Bei den Arbeiterrevolten in den Bergwerken oder Werften wurde das fixe Kapital kurzentschlossen zur effektiven Bewaffnung gegen die Bullen umfunktioniert. In diesem Fall wurden Bulldozer, Gabelstapler oder Sandstrahlgebläse tatsächlich zu »nützlichen Gebrauchswerten« vom Arbeiterstandpunkt aus (anders als es sich die alternativen Apostel »sinnvoller Arbeit« hätten träumen lassen).

Fast sieht es so aus, als würden die südkoreanischen Arbeiter-innen die aus anderen Ländern bekannten Kampfformen des Schachbrett- oder rollenden Streiks nun flächendeckend zur Blockierung des exportorientierten Industriesystems einsetzen. Diese sich ständig abwechselnden Streikbewegungen entspringen auch einer Dynamik in den Auseinandersetzungen, die jede vorläufige Vereinbarung nach ein paar Tagen oder Wochen wieder über den Haufen wirft - das zeigt die Entwicklung bei Hyundai, aber auch in einer Reihe kleinerer Betriebe.

 

Streik bei Hyundai
Nach der angekündigten Wende zur Demokratisierung werden vor allem in einigen Großbetrieben sofort neue Gewerkschaften gebildet, so auch bei einem der größten Mischkonzerne des Landes, Hyundai (Werften, Auto, Elektronik usw) in der südlichen Stadt Ulsan. Aber die Arbeiter setzen sich sehr schnell über diese Vermittlungsversuche hinweg, an denen dem Kapital angesichts der heraufziehenden Arbeiterrevolte sehr gelegen ist. Am Montag den 27. Juli tritt die Hälfte der 24 000 Hyundai-Arbeiter in den Streik. Sie fordern Lohnerhöhungen von 35 bis 50%, den Acht-Stunden-Tag und Neuwahlen des Gewerkschaftsvorstandes. Der bisherige Durchschnittslohn liegt bei 810 DM monatlich, also weit über dem durchschnittlichen Lohnniveau in Südkorea von ca. 350 DM. An diesem, bisher größten Streik dieses Jahrzehnts, wird die Entwicklung der gesamten Streikwelle deutlich.
Nach zwei Wochen Streik, wobei sich am Schluß 20 000 der 24 000 Arbeiter an Sitzstreiks beteiligen, schickt Hyundai die gesamte Belegschaft in einen viertägigen bezahlten (!) Urlaub. Die Hyundai-Autofabriken waren mittlerweile durch Streiks in der Zulieferindustrie lahmglegt worden. Am Donnerstag, den 13. August nehmen die Werftarbeiter die Arbeit wieder auf - nur um dann am Freitag erneut Streikaktionen zur Schaffung einer demokratischen Gewerkschaft einzuleiten. Am Wochenende kündigt die Firmenleitung an, die Produktion werde vorübergehend eingestellt und auf unbestimmte Zeit kein Lohn bezahlt. Damit solle die Bildung »illegaler Arbeitervereinigungen« verhindert werden.
Am Montag, den 17. August, beginnen die militärischen Manöver gegen »die Gefahren von innen und außen«. Am selben Tag besetzen 20 000 ausgesperrte Arbeiter sechs Betriebe von Hyundai. Mit Vorschlaghämmern und Schweißgeräten beseitigen sie Stahlplatten an den Eingangstoren, während es gleichzeitig zu heftigen Kämpfen mit der Polizei kommt. »Es beginnen drei Stunden der Gewalt, nachdem das Management das Tor zur größten Werft des Landes mit Stahlplatten verschlossen hatte.« (The Times) An einigen Stellen ist die unterlegene Polizei gezwungen, sich hinter Barrikaden zu verschanzen. Am folgenden Tag demonstrieren 25 000 Arbeiter durch die Innenstadt, wobei sie von etwa 75 000 Menschen auf den Straßen unterstützt werden. Sie haben sich mit Gabelstaplern, LKWs, Tränengasmasken, Stöcken und Steinen ausgerüstet.
An diesem Punkt greift die Regierung am 18. August demonstrativ ein und drängt die Firmenleitung zu einer Übereinkunft mit den Arbeitern. Der stellvertretende Arbeitsminister erklärt, die Regierung unterstütze die Forderungen der Arbeiter nach höheren Löhnen und freien Gewerkschaften. Es wird schließlich vereinbart, die Arbeit am Donnerstag wieder aufzunehmen und dann weiterzuverhandeln. Nach dieser scheinbaren Beruhigung der Situation im Bereich der Großbetriebe, den Aushängeschildern des Exportbooms, wird nun über zunehmende Streiks in Mittelbetrieben und im Transportsektor berichtet. Die Regierung kündigt einen Mindestlohn von $120 an.
Zwei Wochen nach der exemplarischen Beendigung des Hyundai-Streiks, am Montag den 31. August, treten 15 000 Arbeiter der Werft erneut in den Streik, nachdem Lohnverhandlungen gescheitert sind. Am Mittwoch beginnen 2000 Arbeiter der Hyundai-Maschinenbaufabrik einen Bummelstreik, und 30 000 Arbeiter demonstrieren durch die Innenstadt von Ulsan. Sie setzen dabei neben Gabelstaplern und Bulldozern auch Sandstrahlgeräte ein, gegen die die Polizei machtlos ist. Bei den Auseinandersetzung am Mittwoch werden die Konzernzentrale und das Rathaus verwüstet. Fünf Arbeiter werden von einem angesoffenen Streikbrecher mit einem LKW angefahren; einer von ihnen stirbt. Das Regime versucht nun in Zusammenarbeit mit gemäßigten Gewerkschaftern »radikale Elemente« für die Unruhen verantwortlich zu machen und einzelne Arbeiter als Unruhestifter herauszugreifen. Etwa hundert Arbeiter werden festgenommen. Die Leitung der Hyundai-Werft erklärt den Betrieb am Samstag den 3.9. für geschlossen, worauf 10 000 Arbeiter ihn am Montag wieder besetzen. Neben der Lohnerhöhung fordern sie nun die Freilassung der verhafteten Arbeiter. In Südkorea war es in der Tat überraschend, daß ausgerechnet in diesem »Hochlohn«-Bereich der Kampf derart gut organisiert und militant geführt wurde!

 

Demokratie oder Klassenautonomie?

Die Abwesenheit der Arbeiter im Juni-Kampf

Daß die Arbeiter-innen erst im Anschluß an die Demokratisierungs-Ankündigung durch die herrschenden Militärs die Initiative ergriffen, erscheint vielen als Ausdruck der Unselbständigkeit der Klasse. Warum blieb es im Juni, als sich die Aufruhr auf der Straße von Tag zu Tag steigerte, in den Fabriken und Büros so still?

Die internationalen Zeitungen berichteten erleichtert, daß die Bänder in den Automobilfabriken und in der Elektronikindustrie rund um die Uhr durchliefen, daß sich die Büroangestellten selbst durch die Tränengasschwaden zu ihrem Arbeitsplatz durchkämpften. Südkoreanische Industrielle erklärten, sie sorgten sich lediglich darum, ob ihre Arbeiter-innen trotz des vielen Tränengas noch ihre volle Leistung bringen könnten. Sie selbst störe nur, daß sie als reine Vorsichtsmaßnahme auf ihr wöchentliches Golfspiel verzichteten. In den industriellen Zentren blieb es in der Tat den Juni über ruhig. Die Zuspitzung auf der Straße bezog allerdings zunehmend breitere Schichten ein. Konnten bürgerliche Oppositionspolitiker wie Kim Dae Jung und Kim Young Sam in den Jahren zuvor die radikalen Studenten immer wieder auffordern, sie sollten sich aus den politischen Angelegenheiten heraushalten und gefälligst von der Straße bleiben, so erhielten die Student/inn/en für ihre Militanz auf der Straße im Juni wachsenden Applaus und auch praktische Hilfe. Kleine Geschäftsleute, Büroangestellte oder Straßenhändler unterstützten die Studenten und schlossen sich schließlich den Demonstrationen an. Vor allem die letzte große Demo vor der »Wende« am 26. Juni signalisierte eine sehr viel breitere Beteiligung des Kleinbürgertums und von Teilen des städtischen Proletariats. Am 26. wurden die Kämpfe am Abend, als die Arbeiter aus den Betrieben kamen, an einigen Orten (z.B. in der Industrieansiedlung Songnam bei Seoul) sehr heftig. Das intensivere Eingreifen der USA, so hieß es hier, sei auch durch TV-Bilder von alten Frauen, die Steine warfen, ausgelöst worden.

Was das Einlenken der Regierung - und die Einflußnahme der USA - bestimmte, war aber der in den letzten Jahren schon sichtbar gewordene Druck der Arbeiterklasse. Das herrschende Regime hatte in dieser Entwicklung einen sehr viel klareren Blick für die anstehende Arbeiterrevolte als die bürgerliche Opposition selbst. Seit 1984 haben die Arbeiterinnen und Arbeiter verschiedener Industrien, die städtische Slumbevölkerung und die verarmten Bauern auf dem Land ihre Kraft zu Kämpfen wieder neu entwickelt und sind in der Breite ihrer Aktionen über die Kämpfe der 70er Jahre hinausgekommen. Wir werden das im II. Teil genauer darstellen. Auch der hier bekannt gewordene Streik der Arbeiterinnen bei der deutschen Textilfirma Adler ist Teil dieses seit 1984 beginnenden Kampfzyklus.

Es war also absehbar, daß die Klasse eine Fortführung der Exportindustrialisierung blockieren würde. Sie beruht auf extremen Formen der absoluten Mehrwertproduktion - also niedrigen Löhnen und einem bis an die physischen Grenzen verlängerten Arbeitstag; außerdem auf einer zersplitterten Klassensituation - starker Lohndifferenzierung selbst innerhalb einzelner Betriebe und Industriezweige und hoher Mobilität bzw. Fluktuation. Schon im April hatte das Regime darin eine Grenze weiterer Produktivitätssteigerungen erblickt: Unter Verweis auf drohende protektionistische Maßnahmen - vor allem der USA, deren Handelsbilanzdefizit zunehmend auch aus südkoreanischen Importen entsteht - wurde eine umfassende Restrukturierung der Wirtschaft und der Staatsausgaben vorgeschlagen. Verstärkte Orientierung auf den Binnenmarkt, Erhöhung der Infrastruktur- und Sozialausgaben und Aufhebung von Importbeschränkungen - mit denen bisher der inländische Konsum gesenkt worden war - wurden angekündigt. Das Militärregime hatte also bereits das Wirtschaftsprogramm einer bürgerlich-demokratischen Regierung in der Tasche. Die Wende zur Demokratie, sollte sie erfolgen, soll nun durch Wahlen geeignete Akteure an die Macht bringen, die ein solches Programm gegenüber der Klasse zum Funktionieren bringen könnten.

Die Demokratisierungsangebote zielten daher in erster Linie darauf, die bürgerliche Opposition als dynamische Kapitalfraktion auf die Seite der staatlichen Herrschaft zu bringen, um mit dem drohenden Ansturm der Klasse fertig werden zu können. Was die bürgerliche Opposition angeht, ist das bestens gelungen. Die neue Partei von Kim Young Sam und Kim Dae Jung, die sich selbst als konservativ und auf die USA ausgerichtet begreift, übernahm sofort ihre Verantwortung für das Managen des Klassenkonflikts. Nach dem Einlenken des Regimes verkündete Kim Young Sam, die Partei habe nun eine Untersuchungsgruppe gebildet, die bestimmen solle, wie hoch ein zukünftiger Mindestlohn maximal angesetzt werden dürfte, um nicht den Exportboom des Kapitals zu gefährden. Und mit der beginnenden Arbeiterrevolte warnten diese Figuren sofort vor einer Ausweitung der Kämpfe, die das Militär provozieren und die Demokratisierung gefährden könnten, während sie zu dieser Zeit mit dem Militär bereits die neue Machtaufteilung verhandelten.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Abwesenheit der Arbeiterklasse im Junikampf Ausdruck ihrer Selbständigkeit, ihrer politischen Autonomie ist, die sich nicht dem bürgerlichen Politikverständnis unterordnet. Denn trotz der Radikalität der eigentlichen Aktivisten im Juni-Kampf blieb die dort demonstrierte Einheit auf die Demokratie beschränkt. Gegenüber dem Gejammer in den 60er Jahren über das politische Desinteresse der Arbeiter und ihre Abwesenheit selbst im gewerkschaftlichen Kampf, war es enorm wichtig, zu erkennen, daß die Verweigerung des demokratischen Kampfes eine spezifische Form des Arbeiterkampfes sein kann, »die passive Antwort der Arbeiter auf die kleinbürgerliche Aufforderung, ihre Forderungen auf die Grenzen der Demokratie zu beschränken« (Tronti). Das Verhalten der südkoreanischen Klasse während der Juni-Demonstrationen drückt also alles andere als ihre Unselbständigkeit und Zurückgebliebenheit aus - sondern ihre bereits erreichte Autonomie. Sie existiert bereits als eigene und besondere Klasse, die sich gegen die Gesellschaft stellt. Und das bedeutet auch ein zweites: es gibt keine von der Arbeiterklasse unabhängigen Bewegungen des Volkes mehr; jeder Aufruhr des Volkes ist vom Arbeiterkampf abhängig. Die Wucht des Zusammenstoßes im Juni lag nicht nur auf der Straße, sondern in der schon sichtbar gewordenen Angriffskraft der Klasse.

 

Teil I: Das revolutionäre Proletariat in Südkorea

In der politischen Diskussion Südkoreas stoßen wir ständig auf den Begriff »Minjung« (wörtl: Volksmasse), der zunächst mal einfach Volk im Sinne der Unterdrückung und Armut bedeutet. Seit den 70er Jahren und vor allem nach den Kämpfen in Kwangju vom Mai 1980 hat sich die oppositionelle Bewegung in Südkorea selbst als »Minjung-Bewegung« verstanden; es entwickelt sich eine eigene »Minjung-Kultur« in Opposition sowohl zu den Relikten feudalistischer Herrschaftskultur wie zum westlichen Kulturimperialismus. Und vergleichbar der lateinamerikanischen Befreiungstheologie entwickeln kirchliche Basisgruppen eine »Minjung-Theologie« (deren Grenzen heute verstärkt diskutiert werden). In der revolutionären Diskussion ist versucht worden, diesen Begriff, der selbst von Koreanern oft als unbestimmt und ungenau bezeichnet wird, zu präzisieren. Es ging dabei im ganz fundamentalen Sinn um eine Analyse der Klassenzusammensetzung, um die Frage nach den sozialen Subjekten eines revolutionären Prozesses. Entscheidend ist hier nicht, die zum Teil akademisch geführte Diskussion selbst nachzuzeichnen, sondern die Momente darzustellen, in denen die Klasse selbst diesen Begriff praktisch bestimmt. Dies sind zum einen die verschiedenen Kämpfe in den 70er Jahren, und - für die »Entdeckung« von Minjung als revolutionäre Größe - der Aufstand von Kwangju 1980; nicht als Einzelfall oder tragisches Massaker, sondern als konzentrierter Ausdruck eines revolutionären Potentials.

In diesem Sinne soll auch hier die proletarische Zusammensetzung in den 70er Jahren betrachtet werden. In den üblichen soziologisch-entwicklungstheoretisch orientierten Darstellungen, wird die extrem schnelle Schaffung einer Industriearbeiterklase durch das Kapital untersucht - ergänzt durch reformistische Spekulationen darüber, ob überhaupt von »Entwicklung« gesprochen werden können, wenn die Klasse nicht nach metropolitanem Standard ausgebeutet wird. Vom Klassenstandpunkt (oder Arbeiterstandpunkt) aus stellt sich die Frage umgekehrt: nämlich wie sich die Klasse selbst als subversive, zerstörerische Kraft im Kapitalverhältnis entwickelt. Unsere praktische Absicht ist nicht, das Kapital zu erklären: »Die Arbeiterklasse ist das Geheimnis des Kapitalismus nicht im Sinne seiner Erklärung, sondern in dem seiner Auflösung.«

In diesem Sinne setzt das Kapitalverhältnis historisch das Auftreten einer antagonistischen Klasse voraus. Diese Voraussetzung kann das Kapital nicht selber schaffen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entsteht in den massenhaften Bauernrevolten gegen die feudalistischen Strukturen und imperialistische Eindringung ein kämpferisches Proletariat in Korea. Dies ist der Ausgangspunkt der dann vor allem unter dem japanischen Kolonialismus beginnenden Industrialisierung. Die proletarische Drohung vom Lande her bleibt aber bis in den Korea-Bürgerkrieg hinein ständig präsent. Die Industrialisierung, die im Anschluß an die Aufstandsbewegung von 1960 geplant vorangetrieben wird, ist die Antwort des Kapitals auf diese Drohung. Von da ab wird der proletarische Aufstand in den städtischen Zentren und Fabriken akut.

Arbeiterinnenkämpfe im internationalen Kapital - Thesen

In den ersten zwei Jahrzehnten nach 1960 sind es in Südkorea vor allem Kinder und Frauen, die in neue exportorientierte Industrien hineinmobilisiert werden. Flankiert wird dieser Industrialisierungsangriff durch ein 1962 von der Regierung eingeleitetes Programm der Bevölkerungspolitik (»Nationales Programm zur Familienplanung«), das im Unterschied zur gesundheitlichen Versorgung in den folgenden Jahren stark ausgeweitet wird . Wie überall zielt dieses Programm darauf, die materiellen Ansprüche des Proletariats durch den Verweis auf »Familienplanung« zu einer Frage des individuellen Verhaltens zu erklären. Zugleich ist es funktional für einen Arbeitmarkt, der auf der Arbeitskraft unverheirateter und kinderloser Frauen beruht. Dabei bleibt die Zuweisung der Reproduktionsfunktionen an die Frauen »natürlich« weiter der Hebel, um die Frauen nur für einige Jahre in der Fabrik arbeiten zu lassen, die Zusammensetzung in den Betrieben dadurch ständig neu zu durchmischen und um den Lohn dieser Arbeitskraft auf ein Minimum zu drücken. Die verheirateten Frauen sind auch gezwungen zu arbeiten, aber statt in die Fabrik zu kommen, sind sie auf noch schlechtere Arbeiten, wie z.B. die in den südkoreanischen Slums verbreitete Heimarbeit für die Bekleidungsindustrie, angewiesen.

Die Klassenkämpfe in den 70er Jahren sind in erster Linie eine Arbeiterinnen-Bewegung, die Frauen bilden die Avantgarde der Fabrikkämpfe. Die Kämpfe konfrontieren sich mit einer Ausbeutungsstruktur, die sich der gesellschaftlichen Frauen- und Kinderunterdrückung bedient und greifen damit diese grundlegende Klassenspaltung an. In diesen Kämpfen liegt daher die Hoffnung, daß die Arbeiterinnen aus der Entwicklung einer politischen Macht gegen das Kapital heraus, den gesamten Mechanismus der Reproduktion der Arbeiterklasse in Frage stellen. In dieser Weise war in der hiesigen Diskussion der alte Streit um Klasse und Patriarchat auf die Füße gestellt worden: »Macht für die Frauen und damit für die Klasse.« (Selma James) Das folgende sind also Thesen zur Entwicklung einer solchen revolutionären Subjektivität in den Arbeiterinnenkämpfen.

Obwohl die Masse der Arbeiterinnen aus den ländlichen Strukturen kommt und einer ständigen Mobilisierung unterworfen ist, befinden sie sich in den strategischen Sektoren des internationalen Kapitals in Südkorea. Auf die permanente Mobilisierung neuer Arbeitskraft weist die Altersstruktur der Lohnarbeiterinnen hin. Zwischen 1965 und 1975 dominiert in den Fabriken die Gruppe der 14 bis unter 20-jährigen. Danach verschiebt sie sich bei den Arbeiterinnen zur Gruppe der 20 bis unter 25-jährigen, bei den Männern zu den 25 bis unter 40-jährigen. (Diese Angaben aus der offiziellen Statistik können natürlich nur Tendenzen andeuten, da sie weite Teile der kleinbetrieblichen und informellen Ökonomie nicht erfassen.) Zentraler Sektor ist in dieser Zeit die Textil- und Bekleidungsindustrie. Die Zahl der hier Arbeitenden verdreifacht sich in den 70er Jahren und sie bilden etwa ein Drittel aller in der Produktion Ausgebeuteten. Die Macht der Arbeiterinnen entwickelt sich auch daraus, daß dieser Sektor die höchste Konzentration aufweist. Ein Viertel aller Textilarbeiterinnen (auf Betriebe mit mehr als 5 Beschäftigten bezogen!) arbeitet in Großbetrieben (über 500). Und die Regierung fördert die regionale Konzentration durch die Einrichtung von Industriegebieten.

Aus einer regionalen Konzentration heraus entwickeln sich die Kämpfe der Textilarbeiterinnen am »Friedensmarkt« in Seoul. Dort befindet sich eine Ansammlung kleiner und kleinster Textilfabriken, in denen etwa 70% des Inlandbedarfs hergestellt wird. Die Region war damals von Slums aus Bretterhütten umgeben und 90% der Arbeiter/innen waren junge Frauen im Alter von 14 bis 24 Jahren, die meistens gerade vom Land kommen, wo ihre Familie noch lebte. Symbol für diese Kampfbewegungen wurde in Korea allerdings die individuelle, heroische Tat eines privilegierten männlichen Arbeiters, die gerade nicht die Kämpfe der Arbeiterinnen selbst ausdrückt. Einerseits sind solche Symbole Antworten auf die politische Repression, aber zugleich versperren sie den Blick auf die Stärke als kollektive Arbeiterinnen-Macht - und diese war und ist die Grundlage der Fabrikarbeiterinnen-Bewegung!

»Am 13. November 1970 verbrannte sich der 22jährige Arbeiter (Chun Tae-Il) aus Protest gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Er arbeitete in einer kleinen Kleiderfabrik im Friedensmarkt, in dem Hunderte solcher Fabriken versammelt sind. Seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen arbeiten jeden Tag ohne Feiertage ab 8 Uhr morgens bis 20 Uhr abends. Trotzdem waren ihre Löhne weit unter dem Existenzminimum. Die Situation der minderjährigen Lehrlinge war noch schlimmer, weil sie während ihrer Lehrlingszeit von zwei Jahren beinahe kein Geld erhielten. Deshalb mußten sie oft ohne Mittagessen Hunger ertragen. Herr Chun war besonders von ihrem Elend tief getroffen. Er war Näher, aber bildete sich zum Schneider aus, damit er die Not der Mitarbeiter verringern konnte, weil an seinem Arbeitsplatz in der Kleiderfabrik der Schneider als Chef fungierte. Er kam jedoch zur Erkenntnis, daß er, trotz seiner persönlich guten Absichten, in diesem unmenschlichen System hilflos war. Daher fand er es nötig, eine Gewerkschaft zu organisieren. Sein Versuch sie zu organisieren, scheiterte an der Behinderung durch die Arbeitgeber und an dem Eingreifen der Polizei. Chun und seine Kollegen wurden schließlich von den Arbeitsplätzen entlassen. Gegen diese ungerechten Maßnahmen des Arbeitgebers sowie gegen die Arbeiterpolitik der Regierung veranstalteten sie eine Demonstration auf der belebten Straße vor dem Friedensmarkt. Als die Polizisten die Demonstration mit Gewalt angriffen, goß Chun Tae-Il Benzin über sich, zündete sich an und rief, das Heft mit dem Arbeitnehmerschutzrecht hochhebend: 'Wir sind keine Maschinen! Haltet das Arbeitnehmerschutzrecht ein!' Seine Mutter weigerte sich, die Leiche ihres Sohnes zu übernehmen, bevor die Arbeitsbehörde ihr die Erfüllung der Forderungen ihres Sohnes versprach. So, durch das Lebensopfer eines Arbeiters, den entschiedenen Protest seiner Mutter und die daran anschließenden Demonstrationen der Studenten, konnte eine Gewerkschaft der Kleiderfabriken am Friedensmarkt gegründet werden.«

Zentrale Figur für die weitere Organisierung blieb die Mutter von Chun Tae-Il, die eine Abendschule für die jungen Arbeiterinnen einrichtete und leitete. Durch einen Hungerstreik in dieser Schule erreichten die Arbeiterinnen 1975 die Beachtung des vorgeschrieben Arbeitsendes um 20.00 Uhr; Anfang 1976 setzen sie Lohnerhöhungen von etwa 32% für alle Beschäftigten durch.

Zu Streiks kommt es in den Jahren 1970/71 auch in einer Textilfabrik in der Produktionszone von Masan, in mehreren Rohseide- und Wollwarenbetrieben. In einer Reihe von Großfabriken versuchen die Arbeiterinnen die Gewerkschaft für ihre Ziele zu benutzen. In der Textilfabrik Dong-Il in Inchon mit etwa 1400 Arbeiterinnen organisieren die Arbeiterinnen 1972 gegen den Widerstand der Firmenleitung eine Betriebsgewerkschaft, bei der zum ersten Mal eine Arbeiterin zur Vorsitzenden gewählt wird. Dieser Fall ist später vor allem durch die bestialische Repression der Firmenleitung bekannt geworden.

Durch die meistens vereinzelten, aber spektakulären Aktionen wenden sich die Studenten, Intellektuelle und vor allem auch kirchliche Kreise den Arbeiterinnen zu. In den 70er Jahren übernehmen die christlichen Industriemissionen Schutzfunktionen für die Aktionen der Arbeiterinnen, was noch die Schwäche der selbständigen Kraft als Industriearbeiterklasse wiederspiegelt.

Obwohl sich die Frauen in ihren Kämpfen mit dem alltäglichen Sexismus in der Fabrik konfrontieren, bleibt die Abhängigkeit in den alten Familienstrukturen noch wirksam. Viele Frauen arbeiten in den städtischen Fabriken, damit die Familie das Schulgeld für die Söhne aufbringen kann, und umgekehrt bleiben die Arbeiterinnen aufgrund der minimalen Löhne davon abhängig, weiter mit Lebensmitteln vom Land versorgt zu werden. Bei den meisten Auseinandersetzungen machen sich die Unternehmer diese Abhängigkeit zunutze - bis heute, wie der Fall Adler zeigt. Bei Streikaktionen werden die Eltern eingeschaltet, sie werden unter Druck gesetzt, ihre Töchter zu disziplinieren oder aufs Land zurückzuholen. Und genauso versucht das Kapital in seinen Unterdrückungsmaßnahmen, sich der inneren Disziplinierung der Frauen durch ihr Ehr- und Schamgefühl zu bedienen, indem gezielt diese Verletzbarkeit ausgespielt wird. Die systematische Folter durch sexuelle Gewalt wurde aber letztes Jahr in Südkorea zum Politikum, weil eine Frau sie endlich selbst publik machte. Eine Studentin, die mit falschen Papieren in einer Motorenfabrik arbeitete, wurde im Juni 1986 verhaftet und von Polizisten sexuell gefoltert. Sie entschloß sich, trotz der gesellschaftlichen Tabus an die Öffentlichkeit zu gehen und zeigte die Polizisten an, was zu Massenkundgebungen und Demonstrationen in Seoul führte.

Die jungen Arbeiterinnen verbinden mit dem Leben in der Stadt und der eigenen Lohnarbeit die Hoffnung auf ein Ausbrechen aus den gerade auf dem Land ausgeprägten patriarchalischen Strukturen. »Die meisten aktiven Arbeiterinnen stehen der Ehe positiv-skeptisch gegenüber; sie wollen zwar heiraten, aber nicht zu bald, und wenn möglich weiterhin erwerbstätig bleiben und gesellschaftspolitisch aktiv sein.« Die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums, die Mitte der 70er Jahre einsetzt, dürfte weniger auf dem von der Regierung behaupteten Erfolg ihrer Bevölkerungspolitik beruhen, sondern auf der Infragestellung der weiblichen Reproduktionsfunktionen durch die jungen Frauen in den Fabriken.

In letzter Zeit zeigt sich das Regime selbst besorgt über eine zu weit gehende Auspowerung weiblicher Arbeitskraft, womit sie auch die Furcht vor einer zunehmenden Stärke der Arbeiterinnenbewegung meint. Als neues Modell der physischen Reproduktion der Arbeiterklasse propagiert sie daher die westliche Kleinfamilie mit Hausfrau. Dies deckt sich mit den personalpolitischen Interessen der großen Konzerne, die versuchen männliche Arbeiter langfristiger an die Ausbeutung zu binden. So werden in den Hyundai-Autofabriken neuerdings bevorzugt verheiratete Arbeiter eingestellt, da ein »geregeltes Familienleben« von gewerkschaftlicher Organisierung und Aufsässigkeit abhalte. Ob es dem Kapital gelingen wird, dieses Modell einer geschlechtlichen Neuzusammensetzung der Klasse zum Funktionieren zu bringen, ist noch lange nicht ausgemacht.

(Im Anschluß dokumentieren wir den Bericht einer jungen Arbeiterin aus der taz, weil in ihm sowohl die Situation der Arbeiterinnen wie die gezielten Versuche der Student/inn/en exemplarisch deutlich werden.)


»Kein Geld, um irgendetwas zu kaufen«

Die 22-jährige südkoreanische Arbeiterin Ji-Hang erzählt der taz in der evangelischen Industriemission von Seoul über ihr Leben, ihre Erfahrungen in den Fabriken und über den Versuch, eine unabhängige Gewerkschaft zu bilden / Gegen Sonntagsarbeit und Hungerlöhne

Ich heiße Ji-Hang und bin 22 Jahre alt. Zusammen mit meinen drei Geschwistern bin ich in einem Armenviertel in der Nähe des Flughafens von Seoul aufgewachsen. Mein Vater versuchte sich in allen möglichen Geschäften, aber er hatte nie Erfolg, und als ich 16 war, konnte er das Schulgeld für uns nicht mehr aufbringen. Also ging ich in die Fabrik. Mein erster Arbeitsplatz war in der Qualitätskontrolle einer Strumpffirma, es war sehr staubig, viele Arbeiterinnen hatten Lungenkrankheiten, und die Beleuchtung war so schlecht, daß wir die Fehler kaum erkennen konnten. Trotzdem strengte ich mich an, so sehr ich konnte, denn damals dachte ich: wenn ich hart arbeite, kann ich vielleicht genug sparen, um weiterzulernen oder gar zu studieren.

Abends besuchte ich Kurse, um mich auf die Eingangstests für Highschool und Universität vorzubereiten. Ich bestand sie auch, aber bald darauf ging die Firma bankrott, weil der Boss Geld aus der Kasse für private Zwecke vewendet hatte.

Arbeit ohne Lohn

Bei meiner zweiten Stelle, einer kleinen koreanischen Firma in der Elektroindustrie, waren die Arbeitsbedingungen ähnlich wie bei der ersten. Wir mußten den ganzen Tag sitzen. Sogar um aufs Klo zu gehen, mußte man den Vorgesetzten um Erlaubnis fragen. Wir wußten nie, wieviel wir im Monat verdienten. Der Lohn wurde häppchenweise ausgezahlt, so daß wir nie etwas planen konnten und als dann auch die Firma pleite ging, behielten sie den Rest des ausstehenden Lohnes einfach ein.

In der nächsten Firma, in der ich anderthalb Jahre beschäftigt war, arbeiteten wir direkt neben den Büroangestellten. Die durften sich natürlich frei bewegen, aber wir konnten nur mit der Genehmigung des Vorgesetzten aufstehen. Außerdem wurden wir beschimpft und herablassend behandelt. Als eine Arbeiterin es einmal wagte, sich dem Abteilungsleiter zu widersetzen, ohrfeigte er sie. Viele Kollegen bekamen von der Arbeit mit den Chemikalien Hautausschläge, aber wir durften nie zum Arzt gehen.

Die Diskriminierung gegenüber den Angestellten äußerte sich in vielen Kleinigkeiten. So erhielten wir Essensmarken für 500 Won, die Angestellten aber für 800 Won. Und wenn wir am Ende der Nachtschicht frühstückten, so gab es meist Instantnudeln für nur 300 Won, den Rest des Geldes behielt die Firma einfach. Als wir protestierten, gaben sie nur ein Glas Milch dazu, aber kein Koreaner trinkt Milch zum Frühstück!

Der Studienzirkel

Das alles machte mich sehr wütend und ich fragte mich, ob es so sein muß. Als mir eine Freundin erzählte, daß es eine Abendschule für Arbeiter gibt, hat mich das sehr interessiert. Studenten hatten einfach eine Kirche angemietet und hielten dort Studienzirkel für Arbeiter ab. In kleinen Gruppen studierten wir Geschichtsbücher, die speziell für Arbeiter geschrieben waren, zum ersten Mal las ich »Away to Seoul« und »Outcry of a Sandstone«, zwei Romane von Arbeitern, die in die Stadt kommen. Wir begannen auch, uns mit der russischen Revolution zu beschäftigen. Christen und Nichtchristen haben zusammengearbeitet. Die Studenten sagten: die Abendschule ist der einzige Ort, wo man wirklich etwas über die Realität unseres Landes lernen kann.

In dieser Zeit hat sich auch mein Verhältnis zu Ausländern geändert. Es fing damit an, daß meine Schwester eine »kleine Prinzessin« wurde. So werden bei uns die Frauen genannt, die mit US-Soldaten von den Militärbasen zusammenleben um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wie unzählige andere Frauen in Korea arbeitete meine Schwester als Prostituierte, um den Schulbesuch meines Bruders zu finanzieren. Und aus Scham darüber beging sie vier Selbstmordversuche, heute ist sie mit dem Amerikaner verheiratet und lebt in den USA.

Die Regierung sagt, Korea sei ein unabhängiges Land. Aber das ist nicht wahr: die USA waren an der Teilung zwischen Nord- und Süd des Landes beteiligt, sie haben die Militärdiktatur gestützt, sie lagern ihre Atomwaffen bei uns und zwingen uns, ihre Agrarprodukte zu importieren.

Nachtschicht bei »Ilshin Electronics«

Im Frühjahr letzten Jahres stand ich wieder ohne Arbeit da, weil die Firma pleite gemacht hatte. Nach ein paar vergeblichen Bewerbungen schlugen Kollegen aus der Abendschule vor, wir sollten gezielt bei Ilshin Electronics einsteigen und unsere politischen Ideen in die Praxis umsetzen. Bei Ilshin hatte es schon mehrmals spontane Proteste gegeben, die mangels Vorbereitung nie Erfolg hatten. Es hieß, daß dort auch ein paar ehemalige Studenten untergetaucht seien, die aber kein Bein auf den Boden bekämen, weil sie für den Geschmack der Arbeiter »zu viel redeten«.

Ich ging hin, bekam den Job und ging ab Juni 86 in die Nachtschicht. Bei Ilshin wurde im Zweischichtsystem gearbeitet, jeweils von 8.30 bis 8.30, also zwölf Stunden lang, sechs Tage in der Woche und zweimal im Monat auch sonntags. Um zwei Uhr nachts gab es eine Reismahlzeit und um fünf Uhr die billigen Nudeln. Der Grundlohn lag bei 110.000 Won (rund 250 Mark), mit Bonus und Nachtzulage kam ich auf 160 - 170.000 Won im Monat.

Das klingt gut, aber zwölf Stun den sind verdammt lang, und oft habe ich morgens gedacht, ich will nur noch umfallen und aufgeben. Es gibt ein Arbeiterlied darüber, wie man sich nach einer Nacht in der Fabrik fühlt, wenn der Morgen graut - das haben wir oft gesungen.

Ich teilte mir zu dieser Zeit mit drei Freundinnen ein Zimmer in einem der »chickenbox-houses«. Wir nannten sie so, weil es dort so eng wie im Hühnerstall war. Wir hatten kaum alle nebeneinander Platz zum Schlafen und am öffentlichen Wasserhahn mußte man oft Schlange stehen, um sich überhaupt das Gesicht waschen zu können. Um nach der Arbeit nicht total abzuschlaffen, hatten wir unsere Zeit ganz genau eingeteilt: von dann bis dann essen, von dann bis dann lesen, usw. Trotz der miesen Wohnbedingungen brauchte ich allein für Miete, Bus und Essen 120.000 Won im Monat, also drei Viertel meines Lohnes.

Die meisten der 350 Arbeiter bei Ilshin waren Frauen. Außer mir kamen alle vom Land, d.h. sie waren jung und ziemlich unbedarft. Daß Frauen Verhältnisse mit den Vorgesetzten hatten, kam häufig vor. Der Aufseher unserer Abteilung z.B. war mit einem der Manager verschwägert und nutzte das weidlich aus. So setzte er eine Freundin von mir unter Druck mit ihm zu schlafen, und hinterher drohte er ihr, sie dürfe es niemandem erzählen.

Frauen, denen sowas passiert, sind in einer ausweglosen Situation: sprechen sie darüber und geben damit öffentlich zu, daß sie nicht mehr Jungfrau sind, ist ihr Ruf ruiniert. Schweigen sie, dann bilden sich sehr subtile Abhängigkeiten heraus. Die meisten Frauen schweigen, und weil sie dann vom Vorgesetzten abhängig sind, ist es schwer, mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Der Arbeitskampf

Einschließlich der Studenten waren wir acht Aktivisten in der Fabrik. Wie kann man da die Arbeiter organisieren? Wir bildeten kleine Hobbygruppen und veranstalteten sonntags Picknicks außerhalb von Seoul. Schon nach ein paar Monaten hatten wir 25 zuverlässige Leute - die meisten Frauen -, die bereit waren, einen Arbeitskampf vorzubereiten.

Heimlich begannen wir, Graffitis an die Toilettentüren zu schreiben: »Wir haben Hunger« oder »Was sind unsere größten Probleme? 1. Zu lange Arbeitszeit. 2... 3...« Schon bald haben andere Arbeiter die Listen ergänzt mit Dingen wie »erzwungene Überstunden« oder »zu viel Staub«.

Am 6. Mai dieses Jahres beschlossen wir dann, ein sit-in im Eßsaal zu veranstalten. Wir überlegten auch, ob wir öffentlich Repräsentanten wählen sollten, aber die Mehrheit der Arbeiter meinte, wir sollten lieber ohne Führung agieren, damit das Management nicht einzelne Rädelsführer heraussuchen könnte.

Wir setzten uns also hin und riefen »Weg mit den erzwungenen Überstunden und der Sonntagsarbeit! Für eine Lohnerhöhung von 1.000 Won pro Tag! Veröffentlicht die Arbeitsgesetze!« Dazu verteilten wir Flugblätter. Ursprünglich wollten wir darin auch das Problem der sexuellen Abhängigkeit von den Vorgesetzten ansprechen, aber die betroffenen Frauen waren dagegen, und so ließen wir es.

Schon nach ein paar Stunden drängten die Manager uns auf die Straße. Dann baten sie zwölf von uns ins Büro, um »zu einer Einigung zu kommen«. Doch kaum waren wir drin, verschloß der Manager die Tür und zwang uns, zu unterschreiben, daß wir mit einer Kündigung einverstanden wären. Das ist natürlich selbst für koreanische Verhältnisse illegal, denn normalerweise tritt in solchen Fällen ein sogenanntes »Bestrafungskomitee« auf den Plan, dem auch ein Vertreter der Arbeiter angehören muß. Wir brachten die Sache vor Gericht und vor das Arbeitsministerium, aber eine Entscheidung ist noch nicht gefallen.

Für mich war diese Erfahrung mehr wert als tausend Bücher. Es war die Bestätigung dafür, daß wir wirklich für die richtige Sache kämpften. Trotzdem fühle ich mich oft schwach, und auch die Trennung von der Familie macht mir zu schaffen. Ich lebe nicht mehr zu Hause, weil meine Eltern sagen, ich soll mich nur um meine eigenen Belange kümmern. Als sie herausfanden, daß ich zu den Arbeiterschulen gehe, versteckten sie meine Schuhe und schlossen mich ein, mein Bruder schlug mich mehrmals zusammen, damit ich nicht zu den Treffen gehe.

Das Komitee der Entlassenen

Am 19. Juli haben wir mit Arbeitern aus anderen Fabriken das »Komitee der entlassenen Arbeiter in Seoul« gegründet. Wir waren schon mehrmals mit Flugblättern vor der Fabrik, aber die Manager versuchen natürlich, uns wegzujagen. Auch die Arbeiterinnen müssen aufpassen, damit sie nicht mit uns gesehen werden. Wie wir überleben? Es ist schwierig. Ich bin mit der Miete im Rückstand, das Essen kommt meist irgendwie über Freunde zusammen, und ansonsten ist schlicht und einfach kein Geld da, um irgendetwas zu kaufen. Wenn es mir schlecht geht, denke ich an die Arbeiter, die sich selbst verbrannt haben, um auf ihre Rechte aufmerksam zu machen.

Im Mai wollten wir uns schon neue Jobs suchen, aber dann kamen die ganzen Proteste und der Friedensmarsch (Großkundgebung der Opposition, nach dem die Regierung Demokratisierungsmaßnahmen versprach, d.Red.). Jetzt haben wir beschlossen, daß wir noch zwei Monate abwarten und sehen, ob wir nicht auch von der sogenannten »Demokratisierung« profitieren können und wie die Studenten unsere Wiedereinstellung erreichen. Natürlich können nicht alle Arbeiter wieder eingestellt werden, die je entlassen worden sind. So konzentrieren wir uns aus taktischen Gründen auf diejenigen, die in diesem Jahr gefeuert wurden, und zwar von Firmen, für die die Wiedereinstellung kein ökonomisches Problem ist.

Von der Regierung erwarten wir nichts. Ihre Vorschläge sind nur ein Versuch, an der Macht zu bleiben und in dem Acht-Punkte- Programm von Roo Tae Woo (dem Präsidentschaftskandidat der Regierungspartei) wurden die Arbeiter mit keinem Wort erwähnt.

Aber die Reaktion der Oppositionspartei auf unsere Forderungen ist auch sehr reserviert. Als wir und auch die entlassenen Arbeiterinnen von Flair Fashion (die koreanische Niederlassung der deutschen Textilfirma Adler, d.Red.) in ihr Büro gegangen sind, um über unsere Wiedereinstellung zu reden, haben sie zwar zugehört, aber ihre Position ist die von Beobachtern. Sie wollen sich nicht in unseren Kämpfen engagieren, und ich glaube, wenn die Basis sich nicht wirklich organisiert, wird sich auch nichts ändern.

TAZ vom 17.08.1987


»Yushin«-Verfassung gegen Massenkämpfe (1972)

Neben dem strategischen Sektor der Textilindustrie beginnen Anfang der 70er Jahre aber auch die Arbeiter in den neuen Fabriken der Automobil- und Maschinenbauindustrie, im Bausektor und im informellen Sektor der Großstädte mit Aktionen. Parallel dazu kommt es zu massenhafteren Bewegungen aus den Slumvierteln. Die Kämpfe bleiben allerdings insgesamt immer wieder auf einzelne Betriebe oder Gebiete beschränkt, obwohl diese einzelnen Fälle in der Öffentlichkeit breite Beachtung finden. Aber erst Ende der 70er Jahre kommt es zu einem massenhaften Überspringen der Kämpfe von einzelnen Sektoren oder Gebieten aus, was schließlich den Exportboom und die Militärdiktatur zu Fall bringt.

Die Aktionen der Arbeiterinnen vom »Friedensmarkt« nach Chun Tae-Ils Aufopferung wirken als Signal für eine Welle von Kämpfen. Bauarbeiter, die in Vietnam eingesetzt waren, machen 1971 nach ihrer Rückkehr im Gebäude der Korean-Air-Lines einen Sitzstreik um versprochene Lohnzahlungen einzufordern, wobei es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt. In Inchon demonstrieren tausend Straßenhändler gegen ihre Vertreibung aus der Innenstadt. Viele der Bauarbeiter, die ins Ausland gehen, die Straßenhändler und Gelegenheitsarbeiter stammen aus den Slumgebieten, die Anfang der 70er Jahre den Sanierungsplänen der Stadtverwaltungen ausgesetzt sind. Die ersten Auseinandersetzungen darum bleiben vereinzelt, weil die Stadt nach und nach kleinere Flächen saniert. 1971 kommt es aber in einem Randbezirk von Seoul zu einer massenhaften Revolte von Vertriebenen, die für ganz Südkorea zum Anstoß für weitere Kämpfe aus den Slums heraus wird. Ab 1969 hatte die Stadtverwaltung über 23 000 Familien (etwa 125 000 Menschen) aus verschiedenen Slums, insbesondere den um den Friedensmarkt herum gelegenen, vertrieben und in Zelt- und Barackenlager auf dem ansonsten noch unbebauten Gebiet Kwang-Ju außerhalb Seouls untergebracht. In der Nähe sollte eine neue Satellitenstadt mit Industriegebiet (Songnam) gebaut werden und den Leuten waren Jobs in Aussicht gestellt worden. Die Stadt hatte mit dieser Maßnahme selbst eine brisante Konzentration der Armutsbevölkerung geschaffen. Mit der Vertreibung waren ihre bisherigen Einkommensmöglichkeiten im informellen Sektor der Innenstadt zerstört worden, viele Menschen hungerten und die Situation spitzte sich im Herbst 1971 zu. Am 11. August wird eine Massenkundgebung organisiert und eine Delegation verhandelt mit dem Bürgermeister über sofortige Nahrungsmittelhilfen, Unterstützung für die Arbeitslosen und eine Senkung der Grundstückspreise in Kwang-Ju. Als die Stadtverwaltung nicht einlenkt, beginnt eine Demonstration von 50 000 Menschen, vom 10jährigen bis zum 70jährigen, mit Holzknüppeln und Küchenmessern bewaffnet, durch das Gebiet zu ziehen. Mehrere Polizeistationen werden überrannt, Verwaltungsgebäude verwüstet, eine Tankstelle und alle greifbaren Nahrungsmittel geplündert. Die Polizei ist im Gebiet selbst zwar ohnmächtig, schafft es aber, die Zufahrt nach Seoul abzuriegeln. Zweitausend Leute hatten versucht, mit zehn Bussen nach Seoul zu fahren, um dort wirkungsvoller zu demonstrieren. Gegen 17 Uhr verspricht der Bürgermeister, die Forderungen zu erfüllen, und kündigt die kostenlose Verteilung von Reis an.

Die verschiedenen Beispiele zeigen, in welcher Breite sich die Kämpfe Anfang der 70er Jahre entwickeln, wie sich Streiks in der Fabrik und Revolten in den Slums miteinander verbinden. Hinzu kommt die Revolte der Student/inn/en an den Universitäten, gegen die das Regime schon 1971 die militärische Besetzung der Unis anordnet. Als Antwort auf diese Entwicklung verkündet die Militärdiktatur unter Park 1972 die »Yushin«(Erneuerungs)-Verfassung, mit der Streiks in allen »öffentlich wichtigen Bereichen« (z.B. Transport, Minen, Elektrizität, Banken usw.) verboten werden. Schon 1969 hatte das Regime Streiks in allen Betrieben, die mit ausländischem Kapital arbeiten, verboten. Ab 1972 werden »sae-ma-ul«-Komitees, die auf dem Land zur »Dorf-Erneuerung« eingerichtet worden waren, auch in Fabriken gegründet. Sie dienen als ideologisches Instrument, um unbezahlte Überstunden und extremen Gehorsam für die »nationale Erneuerung« durchzusetzen. Trotzdem gibt es die ganzen 70er Jahre über weitere Fabrikkämpfe. Die Slumbewegungen werden zunächst schwächer, da sich der Staat nach der Kwang-Ju-Erfahrung mit größeren Projekten zurückhält. Statt Totalabriß werden Renovierungsprogramme durchgeführt, die Sanierung auf kleine Gebiete begrenzt.

Minjung gegen das »Schwellenland«

Ende der 70er Jahre scheitert das Projekt der Yushin-Verfassung. In der Textil- und Elektronikindustrie kommt es zu neuen Streikbewegungen, vor allem in den Industriezonen und der Freihandelszone von Masan. Das Konzept, die Produktion auf Industriegebiete zu konzentrieren, insbesondere das ausländische Kapital in Freihandelszonen mit Streikverbot, wird nun von den Arbeiter-innen als Moment ihrer konzentrierten Macht genutzt. Auch in den 80er Jahren sind die Industriezonen Ansatzpunkt für die Entwicklung betriebsübergreifender Kämpfe.

Im Februar 1978 setzen sich die Bergarbeiter bei einem Streik im nordwestlichen Bergbaurevier mit Steinen und Knüppeln gegen die anrückende Polizei zur Wehr. Das Bild ist in vielen Fällen das gleiche: die Aktionen und alle Organisierungsversuche werden brutal unterdrückt, aber gleichzeitig Lohnerhöhungen und andere Verbesserungen zugestanden.

Die Baukonjunktur, die auf dem starken Arbeitskraftexport in die Ölförderländer beruht, wird durch Lohnforderungen und den Protest gegen die Arbeitsbedingungen infrage gestellt. Im März 1977 streiken 2000 südkoreanische Bauarbeiter in Saudi-Arabien. Der Streik, es soll der erste große Arbeiteraufstand in der Geschichte Saudi-Arabiens gewesen sein, wird nach vier Tagen durch das Eingreifen der saudi-arabischen Polizei und Armee beendet. Im Verlaufe des Aufstands hatten die Arbeiter das Verwaltungsgebäude, fünf Arbeiterheime und 30 Autos abgebrannt oder zerstört.

Im Sommer 1979 entwickelt sich erstmals eine breitere, gleichzeitige Streikbewegung. Arbeiterinnen der YH-Fabrik, die geschlossen werden soll, führen einen Sitzstreik im Gebäude der Oppositionspartei durch, nachdem sie aus dem Wohnheim durch das Absperren von Strom und Wasser vertrieben worden waren. Bei der Räumung des Parteigebäudes durch 1000 Polizisten am 11. August kommt eine Arbeiterin ums Leben. Die übrigen Arbeiterinnen werden mit Polizeibussen zurück aufs Land verfrachtet. Diese Auseinandersetzung wird zum Auslöser des Aufstandes von Arbeitern und Studenten in Pusan und Masan. Da dieser Aufstand den wichtigsten Exporthafen des Landes lahmlegt und droht, auf die Rüstungsindustrie in Masan überzuspringen, gerät das Regime in eine politische Krise und interne Machtauseinandersetzungen. Als Park am 26. Oktober von seinem eigenen Geheimdienstchef ausgeschaltet wird, bricht die landesweite Protestwelle zunächst ab. Die bürgerliche Öffentlichkeit propagiert eine Wende zur Demokratie - »politischer Frühling« - und wird dabei von US-Präsident Carter unterstützt.

Anfang 1980 wird im ganzen Land wieder gestreikt, an etwa 900 Arbeitsniederlegungen sind insgesamt 200 000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligt. So setzt zum Beispiel die schon erwähnte Gewerkschaft vom Friedensmarkt Lohnerhöhungen um 30% durch. Der Streik der Bergarbeiter in Sabuk vom 21. bis 24. April deutet die Tendenz zum bewaffneten Massenaufstand an. Mit Steinen und Grubenwerkzeugen vertreiben die Streikenden die Polizei und bringen Sabuk und die umliegenden Dörfer für drei Tage in ihre Hand. Im Nachhinein sind die Illusionen dieses Aufstandes kritisiert worden: die Aufständischen verhandeln mit der Regierung und setzen auf die Demokratisierung der bestehenden Gewerkschaft. Nach Streikabbruch werden 31 Arbeiter in den Knast gesteckt und die ausgehandelten Zusagen nicht erfüllt.

Aber die Zeiten der absoluten Mehrwertproduktion scheinen vorbei zu sein. »Schon vor den Unruhen [in Kwangju] waren viele Regierungsbeamte besorgt. Korea ist keine Quelle von Billiglohnarbeit mehr. In den letzten drei Jahren haben sich die Löhne verdoppelt, und bei einer Inflationsrate von über 20% steht zu erwarten, daß die Arbeiter weiterhin höhere Löhne verlangen werden. Hinzu kommen Engpässe bei den Rohstoffen und Arbeiterunruhen im Überfluß.« (newsweek, 1980) Jede Möglichkeit reformistischer Vermittlung wird durch die Kämpfe blockiert - und die internationale Zuspitzung läßt dem Kapital auch keine Spielräume für solche Vermittlungen. Nach anfänglichen Bekundungen für die »Demokratisierung« entscheidet sich die US-Administration, vor allem aufgrund ihrer Niederlage im Iran und der Erfahrung, dort militärisch nicht mehr intervenieren zu können, für die Festigung einer neuen Militärdiktatur in Südkorea. Parallel zu den Streikbewegungen hatte der General Chun Doo Hwan die Militärdiktatur schrittweise wieder restauriert. Nach der Niederschlagung des Aufstandes von Kwangju im Mai 1980 beginnt eine breite Unterdrückung - zigtausende werden in die Gefängnisse und neu eingerichteten »Umerziehungslager« gebracht, durch ein neues Arbeitsgesetz Arbeiteraktionen fast völlig verboten und jede »Einmischung von außen« mit Knast bedroht.

Kwangju Mai 1980

»Noch ist es nicht die Zeit zu trauern!«

Der Aufstand in Kwangju bedeutet für die theoretische Diskussion und die praktische Initiative von Gruppen in Südkorea eine Art »strategische Wende« zum Proletariat (oder »Minjung« in einer präziseren Bestimmung). Schon Ende der 70er Jahre hatten die Student/inn/en die Abendschulbewegung intensiviert, um Aufklärungsarbeit unter den Arbeiter-innen betreiben zu können, und einige begannen, selbst in die Fabriken zu gehen. Fabrikarbeiter und Slumbevölkerung galten als wichtige Verbündete im politischen Kampf. In den Diskussionen nach Kwangju wird »Minjung« als autonomes Subjekt jeder revolutionären Veränderung entdeckt, die innere Zusammensetzung dieses Subjekts wird zum Diskussionsgegenstand. Dabei gilt »Kwangju« nur als konzentrierter Ausdruck und symbolische Zuspitzung der Angriffskraft der Klasse, die sich in den 70er Jahren herausgebildet hat. Die Art, wie einige Gruppen die Erfahrung von Kwangju aufarbeiten und sich dabei die Debatte um die russische Revolution aneignen, kommt unserer eigenen Diskussion um Klassensubjektivität sehr nahe. Und die Entscheidung für Minjung als autonomes revolutionäres Subjekt drückt sich bis heute in der Ernsthaftigkeit von breit getragenen Interventionsversuchen in der Klasse aus.

Anfang Mai entwickeln sich gegen die drohende Machtübernahme von Chun landesweit Demonstrationen der Student/inn/en und der Opposition. Schon damals übernahm Kim Dae Jung die Rolle, die Studenten zur Mäßigung aufzurufen. Am 17. Mai übernimmt Chun die Regierungsgewalt und verhängt über das ganze Land das Notstands-Kriegsrecht. Eine Versammlung von Studentendelegierten aus 55 Universitäten, die in Seoul über das weitere Vorgehen beraten wollte, wird aufgelöst.

In Kwangju, der Hauptstadt der südlichen Provinz Cholla-Namdo, gehen die Demonstrationen unvermindert weiter und führen schließlich zum bewaffneten Massenaufstand. Der Aufstand in Kwangju und umliegenden Kleinstädten der Provinz ist von der regionalen Besonderheit dieser Gegend gekennzeichnet. Die Drohung des Aufstandes lag aber genauso in Zentren wie Pusan, von denen Ende 79 die Massenkämpfe ausgingen. Cholla-Namdo ist eine vorwiegend agrarische Region, deren Ruf als »Reiskammer« des Landes auf der Ausbeutung und Verarmung der Bauern beruht. Kwangju ist die einzige größere Stadt mit einigen Industriebetrieben und einem städtischen Mittelstand. Für die Masse bildet Kwangju aber Zwischenstation ihrer Landflucht. Ein Drittel der drei Millionen Slumbewohner in Seoul stammen aus dieser Provinz. Diese regionale Besonderheit mag erklären, warum es im ersten Moment des Aufstandes zu einer so breiten Solidarisierung kommt.

Der Umschlag der zunächst von den Studenten getragenen Demonstrationen in bewaffnete Angriffe auf die Militärs am 19. Mai wird durch die mörderische Repression der eingesetzten Fallschirmjäger (mit Vietnam-Kriegs-Erfahrung!) ausgelöst. In den beiden Tagen nach Chuns Machtübernahme am 17. Mai waren bereits einige hundert Menschen vom Militär niedergemetzelt worden. Die Demonstranten können etwa 3500 Gewehre erbeuten und verjagen Truppen und Polizei damit aus der Stadt. Vom 22. bis zum 27. Mai ist Kwangju »befreit«.

Vom Volksaufstand zum »Proletariat in Waffen«

Die eigentlichen Aktivisten bei diesen ersten bewaffneten Auseinandersetzungen sind neben den Studenten vor allem Gelegenheitsarbeiter aus den Slums, Taxi- und LKW-Fahrer, die ihre Fahrzeuge für die Auseinandersetzungen zur Verfügung stellen. Die soziale Polarisierung wird beim weiteren Vorgehen sofort deutlich. Ein aus Studenten und Vertretern des Bürgertums zusammengesetztes Komitee beginnt Verhandlungen mit der Regierung und ruft die Bevölkerung auf, die Waffen wieder abzugeben.

Eine Minderheit der Studenten organisiert gegen diese »Kapitulationsfraktion« für den 25.Mai eine Massenkundgebung, auf der sie die Notwendigkeit der weiteren Bewaffnung für die Durchsetzung der »sozialen Existenzrechte« propagieren. Es bildet sich ein zweites Komitee, das sich als »Minjung-Kampf-Komitee« bezeichnet und in dem neben einigen Studenten Taxifahrer, Büroarbeiter, Arbeitslose und Straßenhändler mitarbeiten. Die Arbeiter der wenigen Großfabriken beteiligten sich allerdings kaum an dem Aufstand. Die Hoffnungen des Aufstandes hatten sich von Anfang an auf seine Ausbreitung übers ganze Land gerichtet. Eine der ersten Maßnahmen war es, mit beschlagnahmten LKWs in die umliegenden Kleinstädte und Dörfer zu fahren. An etwa 20 anderen Orten von Cholla-Namdo wird auch gekämpft, aber der Aufstand springt noch nicht auf die städtischen Zentren über, was bei einem Andauern der Kämpfe in Kwangju möglich gewesen wäre.

Bei der Niederschlagung des Aufstandes durch Truppen, die vom US-Oberkommandierenden freigegeben worden waren, kämpfen etwa fünfhundert Leute, die fast alle getötet werden, bis zum Schluß gegen die Soldaten. Die meisten dieser Aufständischen gehörten zum Proletariat der Gelegenheitsarbeiter und Slumbevölkerung. In der Zuspitzung des Kampfes war das Proletariat also als selbständige politische Kraft aufgetreten.

Im Unterschied zur demokratischen Bewegung, die in »Kwangju« das »Massaker« sieht, ging es in der revolutionären Diskussion um die hier skizzierte innere soziale Zusammensetzung des Aufstandes. Die Erfahrung des Klassenkampfs in den 70er Jahren, seine Intensivierung durch Pusan und Sabuk wird in der Einschätzung des Kwangju-Aufstands zusammengefaßt:

»1. Der Aufstand zeigt, daß Minjung das revolutionäre Subjekt ist. Die Arbeiterklasse und die ärmsten Schichten des Proletariats erfahren den ausbeuterischen und unterdrückerischen Charakter des Sytems täglich am eigenen Leib. Hier liegt daher die produktive Kraft für den revolutionären Kampf.

2. Trotz der bisherigen Schwäche und Unorganisiertheit hat der spontane Aufstand gezeigt, daß Minjung sehr schnell in der Lage war, sich zu organisieren und zu bewaffnen, zur Minjung-Macht zu werden. Der Aufstand zeigt daher die historische Notwendigkeit und Wissenschaftlichkeit von Minjung als revolutionärem Subjekt.

3. Der Aufstand zeigt auch die Fähigkeit von Minjung, den Kampf um die revolutionäre Macht autonom und selbständig zu führen. Kwangju ist eine Erfahrung von Sowjets, also eigenständigen Organen proletarischer Macht.

4. An dem Aufstand ist die Notwendigkeit der Konfrontation mit dem militaristischen Regime und der direkten imperialistischen Gewalt durch die Beteiligung der USA an der Niederschlagung deutlich geworden.«

Diese hier sinngemäß wiedergegebene Einschätzung findet sich bei verschiedenen südkoreanischen Gruppen. Der Begriff von Minjung wird damit zur »revolutionären Idee«. Humanistische Vorstellungen eines Bezugs auf die Klasse, wie sie die Abendschulbewegung in den 70er Jahren noch prägten, werden kritisiert und zurückgewiesen. Die Diskussion um Kwangju führt bei vielen Student/inn/en zur praktischen Konsequenz, die Universität zu verlassen und in die Fabrik zu gehen. Als das Regime 1981 mit einem neuen Arbeitsgesetz jede »Einmischung von außen« unterbindet, gehen auf einen Schlag etwa tausend Student/inn/en in die Fabriken. In den heutigen Interventionsversuchen sind die Einschätzungen von »Kwangju« als dem selbstständigen Auftreten des Proletariats nach wie vor präsent.

 

Teil II: Südkorea (Chronik der Kämpfe nach 1980, Klassenstruktur und -dynamik, Streikwelle im Sommer 1987)


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