Wildcat Nr. 69, Frühjahr 2004, S. 26-31 [w69china.htm]


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China -
Das Fließband läuft.

Noch.

Im letzten Jahrzehnt haben sich die Menschen aus dem bevölkerungsreichsten Land der Erde auf der Weltbühne zurückgemeldet. Die an den Weltmarkt angedockte Ökonomie Chinas boomt und treibt an. Das regierende Management des Reichs der Mitte sitzt international im Rat der Großen. Aus dem Innerender chinesischen Gesellschaft, die eine Transformation in bisher unbekannten Ausmaßen durchmacht, dringen die Nachrichten von sozialen Konflikten und von kollektiven Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die im größten und billigsten Subunternehmen des Weltsupermarkts verheizt werden sollen.

"China bewegt sich insgesamt in eine gute Richtung, das Land ist in guten Händen", konnte der US-Handelsminister kürzlich in Davos feststellen. [1] Aber das gilt nur solange die chinesischen ArbeiterInnen sich damit zufrieden geben, die preisgünstigsten der Welt zu sein. Solange die Stabilität in China vom amtierenden Regime aufrechterhalten werden kann. Von den knapp 1,3 Milliarden Menschen in China wohnen etwa 400 Millionen offiziell in den Städten, 900 Millionen auf dem Land. Mindestens 90 Millionen, tatsächlich wohl mehr als 200 Millionen Menschen, die als Landbevölkerung gezählt werden, haben ihren Hauptaufenthaltsort in der Stadt. Diese Wanderarbeiter (Mingong) sorgen inzwischen für etwa ein Drittel des (Geld-)Einkommens der Landbevölkerung. Eine große Minderheit der Landbevölkerung bestellt nicht mehr das eigene Feld, ist also Landarbeiter und etwa 130 Millionen [2 ]sind nur noch saisonal Bauern, sonst Arbeiter in den Landfabriken. Die chinesische Bevölkerung ist mehrheitlich proletarisch geworden.

Klassengesellschaft ...

Bisher haben nur wenige Bauern und eine Minderheit der Stadtbewohner vom Boom in einer Weise profitiert, die China als Markt für das internationale Kapital interessant macht. Etwa 100 Millionen Menschen umfaßt der Teil der Stadtbevölkerung, dessen Wohlstand zugenommen hat und die in der Lage sind, Autos oder Schmuck zu kaufen. Sie sind Teil der Staatsverwaltung, arbeiten bei ausländischen Unternehmen, in höherer Stellung bei florierenden Staatsbetrieben, betreiben kleine Unternehmen in den Poren des Wohlstandes (z.B. Internet-Cafés) oder sie gehören zu den "Tycoons". Das sind mit viel Geschick, krimineller Energie und guten Beziehungen wirklich reich bis sehr reich gewordene, angesehene Leute. Ihr Status ist aber noch prekär, immer mal wieder opfert die Regierung den einen oder anderen, um Volksnähe zu demonstrieren. Das Wirtschaftswachstum im Inland hält an. Der Absatz von Mobiltelefonen, Computern, Autos steigt auf Grund des Nachholbedarfs in atemberaubendem Tempo. 1992 gab es eine Million Privatautos. In den letzten dreieinhalb Jahren (von 2000 bis Mitte 2003) stieg ihre Zahl um das Doppelte auf etwas über 10 Millionen - Mitte 2003 wurden auch zum ersten Mal mehr Autos an Privatleute verkauft als an den Staat. Jeden Monat wächst die Zahl der Handy-Nutzer um 4 Millionen. Die chinesische Gesellschaft ist eine ungleiche Gesellschaft geworden. Die Unterschiede sind noch nicht so groß wie in den USA, aber größer als etwa in Deutschland. China ist inzwischen die sechstgrößte Handelsnation und hat das sechstgrößte Bruttosozialprodukt. In Pro-Kopf-Größen heißt das aber immer noch, daß China "Entwicklungsland" ist, bzw. geworden ist. Die grandiosen Wachstumszahlen beziehen sich auf ein immer noch niedriges Ausgangsniveau. Die Grundlage des chinesischen Aufschwungs liegt nicht im Binnenmarkt. Das weltweite Kapital hat das schier unerschöpfliche Angebot an extrem billiger Arbeitskraft angenommen. In China steht das Fließband der Welt. Fabrikerzeugnisse machen 90 % des Gesamtexports [3] Chinas aus. "Processing Trade", (auf deutsch etwa Exportveredelung) ist ein Fachbegriff aus dem Zoll- und Steuerrecht und meint, daß alle Einzelteile bis hin zur Verpackung eingeführt, im Land montiert und dann wieder zu 100 % ausgeführt werden. In diesem Fall werden auf die Importe keine Zölle erhoben. Der "Processing Trade" macht etwa die Hälfte [4] des Außenhandels aus, Tendenz steigend. In den "Processing Trade"-Fabriken besorgen die chinesischen WanderarbeiterInnen nur die Fließband-Endmontage der Produkte. Der Anteil Chinas an der kapitalistisch berechneten Gesamtwertschöpfung ist deshalb gering im Vergleich zu Forschung, Entwicklung, Fertigung, Vertrieb, Service, die in anderen Ländern stattfinden. Tatsächlich betrug 1999 der Anteil Chinas an den Gesamtkosten dieser Produkte nur 15 %. [5] Vor allem US-amerikanische Konzerne profitieren von der Ausbeutung der billigen Arbeitskraft. Im Handel zwischen den USA und China entfallen circa 70 Prozent auf "Processing Trade". Eine Erhöhung des Fertigungsanteils am erzeugten Produkt scheitert schon daran, daß es einen eklatanten Mangel an Facharbeitern gibt. Nur 3,5 % der "technischen Arbeiter" gelten als ausgebildet - in entwickelten Industrieländern sind es 40 %. [6] Der staatseigene Sektor (Staatsbetriebe und Betriebe in Kollektivbesitz) erzeugt immer noch 70 % des Bruttoinlandsprodukts. Die weitaus meisten staatseigenen Industriebetriebe leiden jedoch an zwei Problemen. Sie sind relativ unproduktiv, weil ihre Technik veraltet ist und weil sie im Durchschnitt zu viele Beschäftigte haben. Sie sind überschuldet, v.a. weil ihre Ausgaben für Löhne, Sozialleistungen und Pensionen gemessen am Wert der Produkte zu hoch sind. So sind zum Beispiel die knapp 6000 Staatsbetriebe der nordwestlichen Provinz Heilongjiang weitgehend bankrott: Die Schulden erreichen die doppelte Höhe ihres Grundkapitals. [7] Dieses Geld wurde von den ebenfalls staatseigenen Banken aufgebracht und die können nicht damit rechnen, daß es jemals zurückgezahlt wird. Der Staat kann nicht so ohne weiteres die Leine ziehen: Heilongjiang war vor zwei Jahren der Schauplatz großer Arbeiterkämpfe [8] und ein Teil der Staatsbetriebe ist für die Grundversorgung unverzichtbar; in Heilongjiang wird das größte chinesische Erdölfeld ausgebeutet. Insgesamt sitzen die vier chinesischen Staatsbanken auf bis zu 600 Milliarden US$ [9] solcher an Staatsbetriebe gegebener fauler Kredite. Ungefähr 30 Millionen Beschäftigte wurden in den letzten Jahren in dem Versuch entlassen, die Staatsbetriebe produktiver, d.h. profitabler zu machen. Diese ArbeiterInnen gehören zu den Verlierern der Entwicklung. Die offizielle Quote der Arbeitslosigkeit in den Städten liegt bei 4,2%. Allerdings schätzt schon eine andere Abteilung der Regierung (das Amt für gesellschaftliche Entwicklung), daß es tatsächlich wohl so um die 10 % [10] sind . Die Wanderarbeiter hinzugerechnet, die auf der Suche nach Arbeit sind, könnten es bis zu 20 % sein. [11]

... einer Entwicklungsdiktatur ...

Die Staatsbetriebe konservieren das Auslaufmodell der überkommenen sozialistischen Arbeits- und Sozialordnung. Zugleich bilden sie neben den Wanderarbeitern das immer noch ungeheure Reservoir für den ungeschützten Arbeitsmarkt, wo schon die Peitsche des Weltmarkts regiert. Von exterritorialen Fertigungsinseln ausländischer Investoren, Joint-Ventures zwischen Weltmarktkapital und einheimischer Staatsbürokratie, Zulieferbetrieben für ausländische Fertigungsstätten, ausgelagerten Fertigungslinien einheimischer Subunternehmer bis hin zu der Legion von Schwitzbuden, die sich wabenartig um Endfertigungszentren lagern, in denen Abschlußkontrollen, Verwandlung der Produkte in Markenartikel und Verpackung für den Export stattfinden - ein einziger Dschungel neuer Ausbeutungsformen, der flüssige Arbeitskraft ansaugt, vernutzte ausstößt, im Überangebot gärt und doch nach Spezialqualifikationen hungert. Über das nach allen Richtungen wuchernde Verwertungslabor, in dem die angelegten Kulturen längst die Zauberlehrlinge kommandieren, hält der chinesische Staat seine schützende Hand und tritt in den Knochenmühlen der alten Staatsbetriebe zugleich selbst als des Planeten größter Anbieter von Arbeitskraft in Erscheinung: Dompteur und Ausbeuter in einer Person - der Subunternehmer des Weltmarkts. Die chinesische Gesellschaft vereint jetzt "das schlechteste aus beiden Ordnungen", aus der sozialistischen Planwirtschaft und einem noch weitgehend ungeregelten Kapitalismus. Es ist eine Gesellschaft im Umbruch, in der die Anpassung der Regeln nicht Schritt halten kann mit den Veränderungen der Verkehrsformen. Das betrifft vor allem zwei Bereiche: Grund und Boden sowie die Privatisierung der Staatsbetriebe. Nominell ist der Boden noch immer Eigentum des Staates. Er vergibt das Nutzungsrecht, also den Besitz, je nach Art der Nutzung für 40 bis 70 Jahre an Privatleute oder Firmen. Dabei ist aber weitgehend ungeklärt, welche Ebene des Staates für welchen Grund und Boden zuständig ist; wie der Besitz gehandelt werden kann etc. Hier öffnet sich ein unermeßliches Feld für alle Spielarten der Korruption. Eine ähnliche Quelle privaten Reichtums (von dem natürlich ebenfalls etwas an alle Zuständigen in der Staats - und KP-Bürokratie abzuführen ist) stellt das Privatisierungsmodell dar, das wir schon Anfang der 90er Jahre im Ostblock erlebt haben. Oft ruinieren die Manager ihren Betrieb, indem sie dessen Vermögen auf ihr eigenes Konto (oder das eines Vertrauten) verschieben. Sie organisieren den Bankrott und kaufen dann den Betrieb, von Pensions- und Schuldenlasten befreit, wieder auf. China ist traditionell ein Zentralstaat. Etwa 30 Millionen Menschen sind in allen Ebenen der Staatsverwaltung beschäftigt. Im Zuge der Auflösung von Normen und dem Entstehen neuer Verkehrsformen verlagern sich Macht und Einfluß. Erst mal nach unten, in die Verwaltungen der Provinzen bis hin zu den einzelnen Städten oder Regionen. Daneben entstehen neue Machtzentren, wie etwa die Seilschaften rund um die großen und wichtigen Staatsbetriebe. Aber auch, noch regional begrenzt, Mafiastrukturen am Rande des Staatsapparats. Was in Beijing Gesetz wird, gilt deshalb noch lange nicht und schon gar nicht überall. In einer Situation, in der alte Regeln oft nicht anwendbar sind, neue noch nicht anerkannt, "jeder jeden frißt", machen die regionalen und lokalen Fürsten nicht nur gegen Beijing, sondern auch gegeneinander Front. Sie konkurrieren um Kapital, darum, möglichst viel einzunehmen und möglichst wenig an die Zentralverwaltung abzugeben. So erheben einige Provinzen Abgaben auf Produkte aus anderen Provinzen, um die eigene Industrie zu schützen. Stückweise zerfällt die Autorität der Zentralregierung - soweit bekannt, könnte sie sich allerdings immer noch auf die Volksarmee stützen.

... die ihre Macht mit Repression ...

Die neuen Chefs in Beijing (Hu Jintao und Wen Jiabao) haben keine "revolutionäre" Vergangenheit. Sie stehen nicht mehr kraft persönlicher Autorität über der Bürokratie (wie dies Mao Zedong, Deng Xiaoping und selbst noch Jiang Zemin kennzeichnete), sondern sind Teil von Ihr. Sie nehmen Zuflucht zu Populismus, der nicht nur "das Volk" beruhigen, sondern auch die Korruption im Zaume halten soll. Weder das eine noch das andere scheint zu gelingen. Einzelne Skandale werden unter großer Anteilnahme der Presse aufgegriffen und meist mit der Verurteilung eines hohen Offiziellen beendet. Dabei kann es durchaus zu Todesstrafen kommen. Oder eine große Kampagne wird gestartet, um den Bauarbeitern, meist Wanderarbeitern vom Land, zu ihren Löhnen zu verhelfen. In den vergangenen Jahren hatte es viele, zum Teil gewalttätige Proteste von Arbeitern gegeben, die von den Baufirmen um ihre Löhne betrogen worden waren. 2004 hat sich die oberste Staatsführung dieses Problems angenommen. Dabei läßt sich der Premierminister schon mal selbst aufs Land fahren, um Tuchfühlung zu bekommen. Einmal fragt er eine Bäuerin auf der Straße, wieviel Lohn ihr Mann noch zu kriegen habe, und erhält präzise Antwort. Tatsächlich wird diesem einen Arbeiter noch am gleichen Tag der ausstehende Lohn gebracht. Hunderte andere Arbeiter aus dem gleichen Projekt aber mußten weiter warten. [12] Später wurde die Bäuerin vom Staatsfernsehen zur "Wirtschaftsperson des Jahres" gekürt. [13] Weil solch Populismus nicht reicht, um den Zorn der Leute zu besänftigen, bleibt Repression die wesentliche Basis der Macht. Wie eng das zusammenhängt, zeigt der Fall des Shanghaier Immobilientycoons Zhou Zhengyi. Seine Firma erhielt riesige Flächen in Shanghai, zum Teil für umme. Um die 10 000 Leute wurden entwohnt. Soweit nichts besonderes. Weil aber ein Teil der Leute sich wehrte - mit Demos, Sitzstreiks, Proteste selbst in Beijing - kam auf, daß Zhou Zhengyi einige Versprechen nicht gehalten, manche Steuern nicht bezahlt hatte. So sitzt Zhou Zhengyi, vor zwei Jahren noch auf Platz 11 der reichsten Leute Chinas, heute in Untersuchungshaft, zusammen mit einigen anderen. Die Protestierer allerdings wurden mehrmals verhaftet, ihr Anwalt schließlich zu drei Jahren Haft verurteilt - wegen "Verrat von Staatsgeheimnissen" [14] Seit den großen Arbeiterkämpfen in Liaoning und Daqing im nordöstlichen "Rostgürtel" vor knapp zwei Jahren sind die Anstrengungen, Informationen über Kämpfe zu unterdrücken, deutlich intensiviert worden. Die Zensur hat zugenommen. Nicht nur im Internet werden (mit Hilfe von Firmen wie Yahoo! oder Cisco) Informationen und Diskussionen unterdrückt. An die 30 000 Internet-Cops sollen tätig sein; [15] Urteile gegen Leute, die auf ihrer Website für mehr Demokratie eintreten, gehen bis zu 10 Jahre in Haft. [16] Mehrere Zeitungen, darunter ein Magazin aus dem Verlag der Arbeiterzeitung, sind im Jahr 2003 vorübergehend verboten worden. [17] Vor allem die Weitergabe von Informationen über Kämpfe an ausländische Medien wird scharf verfolgt, und die Polizei verhaftet bei Streiks oder Demos offenbar bevorzugt diejenigen, die Fotos machen und Interviews aufnehmen oder die gar Flugis verteilen. Deshalb scheint es hier im Ausland so, als ob die Zahl der Arbeiter- und Bauernkämpfe etwas zurückgegangen sei; wir vermuten allerdings das Gegenteil, aus verschiedenen Gründen. Vor allem deswegen, weil die Sorge über "labor unrest", also Arbeiterkämpfe aller Art inzwischen sowohl die Regierung als auch die ausländischen Beobachter bewegt. [18] Kaum ein größerer Artikel über China vergißt, diese Gefahr zu erwähnen. Zweitens deutet die Zunahme der offiziell eingereichten Beschwerden und Petitionen (plus 20 % im letzten Jahr) in diese Richtung. In Shanghai dürfen Petitionen nicht von mehr als 5 Leuten unterzeichnet werden [19] - die Verwaltungen mögen zwar Petitionen, weil sie frühzeitig Probleme anzeigen. Zu Aktionen soll es aber nicht kommen. Drittens zeigen auch offizielle Zahlen eine Steigerung, ohne aber das wirkliche Ausmaß zu benennen. "Wir sehen uns wachsendem Druck und Widerstand gegenüber - Streiks, kollektive Petitionen, Explosionen und gewalttätige Ausbrüche", so Kang Xiaoguang von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. [20]

... kaum noch aufrecht erhalten kann.

Die gewöhnlich gut informierte Straits Times (Singapur) stellen fest: "Jeden Tag demonstrieren hunderte, manchmal tausende Arbeiter von bankrotten Staatsbetrieben vor den Werkstoren oder vor der Stadtverwaltung und verlangen Entschädigung". [21] Anfang Februar 2004 kam es in Suizhou, Provinz Hubei, zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und tausenden ArbeiterInnen der geschlossenen Tieshu Textilfabrik; es gab Verletzte und 20 Festnahmen. Der Kampf der Arbeiter der Tieshu dauert seit mehr als einem Jahr an; sie beschuldigen das Management, die Fabrik absichtlich in den Ruin getrieben zu haben. Dabei haben sie jetzt nicht nur ihre Aktienanteile verloren (die sie hatten kaufen müssen), sondern auch ihre Pensionsansprüche. Monatelang haben die Arbeiter demonstriert und die Fabriktore blockiert. [22] Weitere Beispiele aus dem Jahr 2003: Die Betroffenen der Privatisierung von Staatsbetrieben protestieren meist, nachdem sie schon entlassen sind; sie verlangen höhere Abfindungen oder Unterstützungen. Es gibt aber auch Beispiele, wo noch aktive ArbeiterInnen für bessere Bedingungen kämpfen. Im Februar streiken mehr als 300 Stahlarbeiter in Wuhan gegen Kürzungen in der Krankenversorgung; [23] Ende Oktober werden die Tore der Baumaschinenfabrik Zhengzhou von den Arbeitern blockiert, die gegen die (kostenlose) Übergabe ihrer Fabrik an das Management protestieren; [24] im November streiken 10 000 Automobilarbeiter in Xianfan, Hubei, gegen die Auswirkungen der Privatisierung ihrer Fabrik; [25]im Dezember blockieren 500 ArbeiterInnen eine Autobahn in Changsha, Hunan, um gegen den Plan der Privatisierung zu protestieren. [26] Mehr als 400 Beschäftigte der Krankenhäuser von Wafangdan, Liaoning, demonstrierten im April gegen den Plan der Stadtverwaltung, die Häuser zu privatisieren. [27] Manchmal sind Infos über Streiks etwas versteckt: Die New York Times berichtete über die Verlagerung der Produktion der Spielzeugserie "Etch A Sketch" von Ohio (wo die ArbeiterInnen zuletzt 9 Dollar je Stunde verdient hatten) nach Shenzhen, wo 24 Cents bezahlt werden. Dabei wird am Rande erwähnt, daß in dieser Fabrik "kürzlich" schon zwei Mal gestreikt wurde, weil der Lohn immer noch unter dem lokalen Mindestlohn von 33 Cents/Stunde liegt. [28] Die Kämpfe der Bauern, Stadtbewohner, WanderarbeiterInnen, ArbeiterInnen bleiben nicht ohne Folgen. Die Regierung hat eine ganze Reihe sozialpolitischer Maßnahmen auf den Weg gebracht. Etwa 3 Millionen Bauern und gut 11 Millionen Städter erhalten so etwas wie Sozialhilfe. Für legal Beschäftigte gibt es im Prinzip auch Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. [29] Im letzten Jahr hat es weitere Versuche gegeben, die WanderarbeiterInnen besser zu integrieren. Welche Dringlichkeit dies für die Aufrechterhaltung der Stabilität hat, erfuhren die Behörden während der SARS-Krise im April. In den wenigen Tagen nach Bekanntgabe der SARS-Infektion in Beijing verließen etwa 1 Million Wanderarbeiter die Stadt. Mit der Folge, daß den Krankenhäusern ihre Reinigungskräfte genau in dem Moment fehlten, als sie am dringendsten gebraucht wurden. Auch aufgestockte Lohnangebote hielten die Putzen nicht zurück. Allerdings sollen sie nach wie vor nicht seßhaft werden - ein Zusammenkommen der Wanderarbeiter mit den städtischen Armen soll auf jeden Fall verhindert werden. [30] Die Wanderarbeiter dürfen jetzt im Prinzip Mitglied in der Staatsgewerkschaft werden. Wesentliche Bestimmungen des Melderechtes wurden zu ihren Gunsten geändert. Mindestlöhne wurden eingeführt, oder erhöht. Und tatsächlich steigen nicht nur die Einkommen in der Stadt, sondern auch die Löhne in den "Processing Trade"-Fabriken. So beklagten kleinere koreanische Firmen, daß überall dort in China, wo sie tätig seien, die Löhne in den letzten Jahren um je 10% gestiegen seien - dabei seien die Lohnkosten doch der wesentliche Grund für eine Produktion in China. [31] Wenig ist über die Art und Weise bekannt, in der sich die ArbeiterInnen organisieren, um ihre Interessen zu verfolgen. Es wäre für die Aktivisten viel zu gefährlich, wenn Ausländer versuchen sollten, sie ausfindig zu machen. Seit jeher fürchtet die Staatsmacht in China den Einfluß von Geheimgesellschaften. Die Angst der KP, das Organisierungsmonopol zu verlieren, zeigt sich in der Dauerattacke gegen die Sekte Falungong. Von daher ist es eher überraschend, daß in den Arbeiterkämpfen des Jahres 2002 in Daqing und Liaoning sogar formell organisierte Arbeiterzusammenschlüsse wie das "Provisorische Gewerkschaftskomitee der von der Erdölbehörde abgebauten Arbeiter" aufgetaucht sind. Solche Organisationen konnten offenbar Kontakte in vielen Teilen Chinas herzustellen. Die Kämpfe zeigen durchweg einen hohen Grad an Zusammenhalt; dies könnte bei den abgebauten Staatsarbeitern aus der gemeinsamen Erfahrung desselben Betriebs, aus dem Wohnen im gleichen Viertel kommen. Bei den Wanderarbeitern aus dem Zusammenhalt der Communities, in denen sich die Leute aus der gleichen Herkunftsprovinz bewegen. Doch es gibt Berichte, die andeuten, daß es auch weit darüber hinaus gehen kann. So wurden z.B. im Mai 2002 in Ruian und in Tangxia (benachbart in Zheijang) Vereinigungen von Wanderarbeitern gegründet. Sie bekamen zunächst sogar eine polizeiliche Zulassung, gaben Mitgliedsausweise aus und verteilten Flugis. Von Teilen der regionalen Presse wurde dies als Fortschritt begrüßt, auf Druck der Staatsgewerkschaft das Experiment jedoch bald beendet. [32] Es gibt darüber hinaus Hinweise, daß ein kleiner Teil der chinesischen Intellektuellen die Arbeiterkämpfe aktiv unterstützt. Deutlich wird das bei Verurteilungen, die öffentlichen Widerhall finden. Während entsprechende Diskussionen an den Unis derzeit geduldet werden, kommen Leute, die wirklich etwas machen und dabei erwischt werden, meist nicht unter 10 Jahren Lager davon. [33] Wie viele zum Handeln bereit sind und ob sie sich organisieren, ist unbekannt. Anscheinend entwickelt sich auch im Gewerkschaftsapparat - vor allem in der Jugendorganisation - ein "linker Flügel", der den Arbeitern, auch den Wanderarbeitern, manchmal praktische Hilfe bietet.

Augen zu und durch

China ist die letzte große Entwicklungsdiktatur und Diktaturen fallen, wenn sie nicht wenigstens die Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt für den größten Teil ihrer Bevölkerung aufrecht erhalten können. Da die Unruhe im Land wächst, gibt es weder bei der KP noch bei den kapitalistischen Kommentatoren aus dem Ausland den geringsten Zweifel, daß die Geschwindigkeit, mit der der Tiger geritten wird, beibehalten werden muß. Alle Hoffnungen auf ruhige soziale Verhältnisse in China gründen sich auf die Perspektive gleichmäßigen, ausgeglichenen Wachstums der Ökonomie. Tatsächlich ist die Balance jedoch ziemlich labilund kann jederzeit kippen. Im Jahr 2002 lagen die Hauptprobleme in der Deflation und der Kaufzurückhaltung im Inland. Chinesische Haushalte sparen im Durchschnitt 30 % ihres Einkommens, was mit ihrer Einschätzung der Zukunft zu tun hat. Zur Zeit herrscht Angst vor Inflation und Überhitzung: Die Wirtschaft wächst so schnell, daß der Ausbau von Infrastruktur (Energie, Kommunikation) nachhinkt und deshalb die Preise ebenso steigen wie die Löhne bestimmter Gruppen, bei denen Arbeitskräftemangel herrscht. Darüber hinaus ist jetzt schon klar, daß in weiten Bereichen riesige Überkapazitäten entstanden sind. Das betrifft einige Grundstoffindustrien, aber vor allem den Immobilienbereich in den Städten. Da gibt es nach einer Preisexplosion erste Leerstände: ziemlich genau das Szenario, mit dem sich die erste Asienkrise angekündigt hatte.

Das chinesische Fließband brummt. Noch.

Karl

Weitere Links zu China:

Asien Aktuell von Welt in Umwälzung

China Labour Bulletin

Labour News

Asian Labour News

The Straits Times

Yahoo! Singapore News

Fußnoten

[1] Financial Times Deutschland, 23.1.04

[2] People's Daily, 19.12.02

[3] C.H.Kwan, China: Wrong part of the smiling curve, Asia Times, 4.10.02

[4] Je nach Quelle und Berechnungsgrundlage zwischen 49% (Chinesische Botschaft in Polen, nach Angaben des chinesischen Zolls, 2002) und 55% (Newsletter von Helmut Janus GmbH China Consult Nr 10, 28.11.02, 1-9/2002)

[5] Xianquan Xu, Sino-U.S. Economic And Trade Relations, in China, the United States, and the Global Economy, RAND Corp.2000

[6] China News Digest Global, 9.9.02

[7] Li Yong Yan, China' SOE Trap, Asia Times, 22.10.03

[8] siehe: China: Klassenkämpfe im Wirtschaftswunder, Wildcat-Zirkular 64, Juli 2002, Beilage

[9] Dexter Roberts et al., Worrying About Cina, Business Week, 19.1.04

[10] Sam Ng, China's paradox, Growth and unemployment, Asia Times, 17.10.03

[11] Zhang Kai, China- Intensified contradictions and people's resistance in China, HK, 26.4.02

[12] Joseph Kahn, Populism in China brings smiles, not changes, Taipei Times, 12.1.04

[13] China Daily, 17.1.04

[14] Taiwan News, 29.10.03

[15] laut "Reporter ohne Grenzen"

[16] BBC News, 29.5.03

[17] The Straits Times, 24.6.03

[18] siehe dazu etwa Christopher Horton, New revolution threatens 'mandate of heaven', Asia Times, 14.3.03

[19] Asia Times Online, 23.12.03

[20] zitiert in: Elisabeth Rosenthal, Worker's Plight Brings New Militancy in China, The New York Times, 10.3.03

[21] Goh Sui Noi, Jason Leow, China drives into the fast lane, The Straits Times, 1.2.03

[22] siehe Welt in Umwälzung

[23] China Labour Bulletin, 5.3.03

[24] China Labour Bulletin, 8.12.03

[25] China Labour Bulletin, 21.11.03

[26] Yahoo! Singapore News, 15.12.03

[27] The Straits Times, 8.4.03

[28] Joseph Kahn, Ruse in Toyland: Chinese Workers' Hidden Woe, The New York Times, 7.12.03

[29] siehe dazu Dr Barbara Darimont, Die Sozialpolitik der chinesischen Regierung, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, o.D., ca 2003

[30] siehe dazu Francisco Sisci, Lu Xiang, China's Achilles' heel: The 'floating population', Asia Times, 17.5.03

[31] Nho Joon-hun, Wage Hikes in China Hurt Korean Cos., The Korea Times, 2.3.03

[32] John Chen, Alternative Organising and the ACFTU, China Labour Bulletin, ca. 2/03

[33] Elisabeth Rosenthal, China enjoys new freedoms, The International Herald Tribune, 12.2.03


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