Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 64–66 [w72_mobilismus.htm]



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Der
Automobilismus …


AUTO
konkursbuch 42

Gerburg Treusch-Dieter, Ronald Düker, Claudia Gehrke (Hrsg.)

ISBN 3-88769-242-X, 256 Seiten, viele Abbildungen, 15,50 Euro

Das Konkursbuch gibt es seit über 25 Jahren; wer es genauer wissen will: www.konkursbuch.com.


Im März 2004 ist das konkursbuch 42: Auto erschienen. Über vierzig Artikel rund um das Thema »Auto und Selbst sind dasselbe Wort«, wie meistens im Konkursbuch viel Unterhaltsames und Kluges, manchmal aber auch etwas beliebig – und zuweilen so viele Tippfehler und fehlende Fußnoten, dass man den Eindruck hat, einige Geschichten sind auf den letzten Drücker und fast unredigiert ins Buch gerutscht. Schade ist auch, dass den HerausgeberInnen die ganze Welt der Herstellung von Autos keinen einzigen Beitrag wert war. Hier scheint man zu sehr geläufigen Ideologien aufgesessen zu sein: »Erblicken Sie im Rückspiegel Ihrer Karre die verlorene Zeit des Industriezeitalters, oder entziffern Sie aus dem Display Ihres Hybrid-Autos die Zukunft des Informationszeitalters.« (aus dem Vorwort)

Das Heft ist lesenswert und anregend. Ich will es anhand von drei Artikeln besprechen, Burckhardt Wolf behandelt in »Droit de carosse. Automobilismus und Autonomie in der Versicherungsgesellschaft« den historischen Zusammenhang von Verkehrsstau und anstehender Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Ulrich Raulff: »Der Super-Blitzkasten« und Fabian Kröger: »Automobile DNS in der Kontrollgesellschaft« behandeln die Projekte totaler Kontrolle aller Bewegungen durch neue Technologien im und ums Auto.

 

… ist die wahre Revolution

 

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich die Anzahl der städtischen Kutschen in Paris verfünfzehnfacht, der seit 1680 bestehende droit de carosse aber, das höfisch und ständisch geregelte Nutzungsrecht der Droschken, war unverändert geblieben. Der Romancier und Dramatiker Louis Sébastian Mercier beschrieb 1771 in seiner Zukunftsutopie Das Jahr 2440 ein Pariser Verkehrsleitsystem – und damit auch die Leitlinien der bürgerlichen Revolution. Er will den Fortschritt, in dem »statt des menschenverachtenden Gedränges und waghalsigen Kutschierens … eine zwanglose und doch lebhafte Ordnung auf den Straßen herrscht.« (173)

In der bürgerlichen Verkehrsordnung gelten dann nicht mehr Privilegien, sondern technisch begründete Verkehrsregeln. Ökonomisch unterfüttert wurde der Autoverkehr, dieser »sinnfälligste Ausdruck bürgerlicher Selbststeuerung« (173) durch die Kraftfahrzeugversicherung (in Deutschland mit dem Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871). Sie trägt dazu bei, dass sich auf der Straße die bürgerliche Utopie verwirklicht: »Gerade der freie Individualverkehr, die reale Konkurrenz auf der Straße, stiftet ein Band der Gemeinschaftlichkeit, das nach dem Prinzip der Solidarität alle Schädigungen statistisch kompensiert.« Haftpflichtversicherungen »bahnten jenem solidarischen Prinzip den Weg, nach dem sogar ’fahrlässige‘ Fahrer Versicherungsschutz genießen können.« (176) Denn der Versicherungsstaat stellt nicht in erster Linie Ursache und Schuld fest, sondern versucht, (künftige) Mobilität zu sichern. »Die Haftpflichtversicherung wurde damit zum Kernstück und Testfall dessen, was François Ewald als État-providence (’Vorsorgestaat‘) bezeichnet hat.« (177)

Etwa hundert Jahre später überspannten plötzlich »neue, hässlich-graue Brücken die vertrauten Autobahnen. Unter Taxifahrern kursierten wilde Gerüchte. In diesen Brücken lauere die totale Kontrolle; Deutschland baue den Superblitzkasten.«

 

… Toll Collect »die endliche Realisierung dessen, was einst als ’Sonnenstaat des Dr. Herold‘ verspottet und gefürchtet wurde«

 

Toll Collect soll nicht nur Maut einsammeln, es ist »das Großprojekt einer landesweiten elektronischen Erfassung und Lenkung der Verkehrsströme…« (Raulff, 157) Das Auto selber wird zum »Kontrolltechnologieträger«: Sender, Mobiltelefone, in Reifen implantierte Chips, GPS, UDS… Vor allem mit den billiger werdenden Unfalldatenschreibern (UDS) ergeben sich neue Überwachungsmöglichkeiten. Anfang 2004 hat sich der 41. Verkehrsgerichtstag in Goslar für die obligatorische Einführung dieser »Blackbox für das Auto« ausgesprochen. Sie zeichnet fortlaufend bestimmte Fahrdaten wie Geschwindigkeit, Beschleunigung, Richtungsänderungen, Benutzung des Sicherheitsgurts, scharfe Bremsvorgänge, Gaspedalstellung, schnelles Kurvenfahren, Überholmanöver, Schleudern, Stoßvorgänge, Betätigung der Bremsen, des Blinkers oder des Lichts auf und überschreibt sie wieder. Unfälle und kritische Fahrmanöver werden automatisch gespeichert, wobei ein bestimmter Zeitraum vor und nach dem Vorfall festgehalten wird.

In den USA müssen noch nicht einmal die Käufer von neuen Autos informiert werden, dass diese mit einem UDS ausgestattet sind. Nach einer Umfrage im Jahr 2002 haben zwei Drittel der Autokäufer keine Ahnung. Dabei sind die meisten Neuwagen damit ausgerüstet, 25 bis 40 Millionen Fahrzeuge haben schon ein UDS. GM baut seit 1974 in die mit Airbags ausgestatteten PKW entsprechende Geräte ein, die nicht nur die Airbags auslösen, sondern auch Unfalldaten speichern. Airbags sind die Tür, durch die UDS ohne Wissen der Besitzer eingeschleust werden. In der BRD sollen bisher etwa 30 000 Autos mit UDS ausgerüstet sein.

Nach den Fahrern von Firmen und Behörden sind jugendliche Anfänger das erste Einsatzziel der Blackbox. Sie gibt z.B. einen lauten Warnton ab, wenn der Fahrer zu schnell fährt oder sich anderweitig riskant verhält. Und in Kombination mit einem GPS-System lässt sich jederzeit sehen, wohin der Kontrollierte gefahren ist.

Interessiert sind an den Daten nicht nur Eltern, Hersteller und Polizei, sondern auch die Versicherungen. Für diese hat Injury Sciences 2003 ein Webportal eröffnet, damit schnell erfasst werden kann, welche Autos mit einem UDS ausgestattet sind und welche Daten sie erfassen. Zudem werden Links zu Firmen angeboten, die die Daten auslesen und analysieren können. Auch der ursprüngliche Sinn der Versicherungen dreht sich um (ein Prozess, der allerdings schon seit längerem im Gange ist).

In »Automobile DNS in der Kontrollgesellschaft« (161 ff.) versucht Fabian Kröger in der Tradition von Roland Barthes‘ Mythologien des Alltags die Durchsetzung eines umfassenden Kontroll- und Überwachungsstaats durch die »ideologische Figur Unfall« auch theoretisch zu erfassen.

Das Auto war das »Versprechen von Individualität und Freiheit, von Autonomie und Allbeweglichkeit«: »Vom Autokörper umgeben glaubt der Mensch, freies und autonomes Subjekt zu sein, und ist dennoch ’effektiv an Prozeduren der Unterwerfung gebunden‘ (Käte Meyer-Drawe)… Dieser Widerspruch spitzt sich derzeit immer stärker zu.« (161) Zum einen »von außen«: durch immer stärkere Überwachung und (»verdachtsunabhängige«) Kontrolle des Verkehrs, zum anderen durch die »technologische Mutation des Autos selbst« (ebenda). Der Hebel dazu ist die »Utopie des unfallfreien Verkehrs«. »Der Verkehr wird zum Einfallstor für den Polizeistaat.« (162)

1959 wurde in der BRD die erste Radarfalle aufgestellt. In den letzten Jahren wird das Prinzip umgekehrt, nicht mehr der »Verkehrssünder« wird erfasst, sondern erstmal werden alle registriert und daraus werden die Verkehrssünder (Section Control in Österreich) ausgefiltert. Toll Collect in der BRD und das Mautsystem in Großlondon verfahren nach demselben Prinzip, um Straßengebühren zu berechnen. Sehr einfach ließen sich auch andere »Zielgruppen« ausfiltern: »Die Kameras eignen sich ideal für Rasterfahndungen oder die gezielte Erstellung von Bewegungsbildern.« (163) Kröger verweist darauf, dass solche Systeme ihre Akzeptanz über das Versprechen der Unfallvermeidung erlangen. »Die Utopie des unfallfreien Verkehrs trifft sich hier mit der Utopie einer kriminalitätsfreien Gesellschaft – beide lassen sich nur in einem Polizeistaat realisieren, in dem jeder lückenlos überprüft wird.« (ebd.)

Die ins Innere des Autos gewanderte Kontrolle bespricht Kröger anhand der »Fahrerassistenz-Systeme« wie ABS, ASR, ESP und der verschiedenen GPS-Ansätze (z.B. DigitalDNA von Motorola) und setzt sie in Bezug zur Genomforschung: »Die Fremdsteuerung des Selbst durch die DNS soll aufgehoben, die Fremdsteuerung des Menschen durch das Auto soll eingeführt werden.« (165)

Der Staat benutzt nicht nur die Einführung der LKW-Maut zur massiven Ausweitung der Kontrolle. Auch Hartz IV, die Gesundheitsreform (Patientenkarte) usw. usf. werden in diesem Sinn genutzt. Bei Hartz IV hat sich der Staat von der rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeit zur Wahrung des Sozialgeheimnisses von Anfang an verabschiedet. Arbeitgeber werden von der Hilfsbedürftigkeit erfahren, zwischen Haushalts- und Bedarfsgemeinschaft wird nicht unterschieden, so dass Antragsteller auch über Dritte viele Daten offenbaren müssen. Die Software zur Erfassung der Antragsdaten und zur Hilfeberechnung mit dem Namen A2LL erfasst zentral alle Hilfeempfänger, sämtliche Sachbearbeiter von Flensburg bis Konstanz können darauf zugreifen. Auch HIV-Infizierte und Aidskranke können ihre gesundheitlich begründeten Mehrbedarfszuschläge nur noch dann kriegen, wenn ihre HIV-Infektion in dieser zentralen Datenbank gespeichert wird.

Biometrische Daten im Ausweis, Aufhebung des Bankgeheimnisses, die juristische Eskalation und technologische Aufrüstungen scheinen keine Grenze mehr zu kennen. Der neueste Clou ist RFID-Technologie. Eine Mailänder Firma hat vorgemacht, was sich damit anstellen lässt: alle Beschäftigten haben einen Anstecker mit einem passiven RFID-Chip. Nur damit können sie das Firmengelände betreten und ihre Anwesenheit dokumentieren (»Stechuhr«), der Unternehmer kann zu jedem Zeitpunkt sehen, wer sich gerade wo befindet und Bewegungsprofile erstellen (wer redet mit wem, wer macht wie viele Kaffeepausen, ist wie lange auf dem Klo, war im Betriebsratsbüro usw.). Das einzige, was dafür nötig ist, sind übers Firmengelände verteilte Lesegeräte. (Aktive RFID-Chips senden selber, sie brauchen aber eine Batterie; passive Chips, die inzwischen auch »versuchsweise« in Kleidung eingenäht werden oder von Metro zur Logistiksteuerung eingesetzt werden, haben nur eine geringe Reichweite, sind dafür aber extrem klein und sehr langlebig.)

Neue Transport- und Verkehrsweisen?

Im Dezember 2004 haben BMW, Audi, Daimler Chrysler, Renault und Fiat einen Zuschuss der Bundesregierung gewonnen, um die Basis für ein eigenes »Auto-Internet« zu entwickeln. Hiermit sollen sich die Autos untereinander vor Gefahren, Staus, schlechtem Wetter und etwaigen Straßenproblemen warnen können. Das Geld fließt dem Projekt Network on Wheels (NOW) der Universitäten Mannheim und Karlsruhe zu, an dem auch das Fraunhofer Institut, Siemens und NEC beteiligt sind. Ein erster Prototyp soll Mitte 2005 hergestellt werden, im ersten Quartal 2006 sollen Tests mit ausgereifteren Modellen starten.

Die Absatzprobleme der Autoindustrie, die Angst vor dem Ende des Erdölzeitalters, die Debatte um die ökologischen Folgekosten (Abgase, Schrottentsorgung…) und noch viel stärker solche Anstrengungen zeigen, dass der Autoverkehr an sein historisches Ende kommt. EPS, Abstandswarner, Bremsassistent, NOW… sind auch technologische Versuche, die Verkehrsgeschwindigkeit bei wachsender Verstopfung der Straßen hochzuhalten. Laut ADAC verwandeln sich etwa 10 Prozent des 12 000 km langen deutschen Autobahnnetzes täglich zum Parkplatz. Die Zeit, die Menschen täglich für Fortbewegung aufwenden, beträgt etwa eine Stunde, dafür geben sie nicht mehr als 10 bis 15 Prozent ihres Einkommens aus. Diese Werte sind unabhängig von Kultur und technologischer Entwicklung historisch relativ starr. Sie gelten für mittelalterliche Städte genauso wie für moderne Großstädte. Heute wird der Verkehr durch just in time-Produktion und immer weitere Wege zur Arbeit zum Stressfaktor, er zwingt Menschen dazu, dieses Zeitbudget zu überschreiten. Und die Belastung soll noch zunehmen. Die Bundesregierung ging in ihrem »Verkehrsbericht 2000« davon aus, dass der Personenverkehr bis 2015 um 20 Prozent, der Güterverkehr sogar um 64 Prozent steigen wird. Mit dem Verkehrsinfarkt verliert das Automobil seine Akzeptanz.

Das Internet vereinfacht zwar die Kommunikation und damit den Handel, jedoch wollen die elektronisch verkauften Waren auch transportiert werden. Es entsteht eine Situation, die das frühe 19. Jahrhundert schon einmal kannte (»Kutschenstau«). In den neuen, mit Dampfmaschinen betriebenen Fabriken stieg die Produktivität rasant an, die Waren wurden schneller und arbeitskraftsparender produziert, aber sie mussten auch zu den Märkten gelangen und ungeheure Mengen Kohle zu den Fabriken. Zunächst erhöhte der Bau von Kanälen die Transportkapazitäten, aber dies erreichte bald seine Grenzen. Die Lösung brachte erst die Eisenbahn. Sie revolutionierte den Transport und begründete damit eine lange Phase der wirtschaftlichen Entwicklung und eine neue Lebenskultur, das bürgerliche Zeitalter. (Das Auto hat sich mit ungeheurer Dynamik ausgebreitet zu einer Zeit, als bereits ein Schienennetz zur Verfügung stand, das damalige {ökonomische} Bedürfnisse durchaus hätte befriedigen können – ein vielschichtiger Zugang wie der des Konkursbuchs ist also durchaus angebracht.)

Nur ist ein Ausweg im Transport auf dem Boden trotz aller Ideen zu Verkehrsleitsystemen heute nicht mehr vorstellbar. In dieser Hinsicht symbolisiert die Krise des Autos auch die Krise der kapitalistischen Vergesellschaftung.

jaa



aus: Wildcat 72, Januar 2005



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