Wildcat Nr. 78, Winter 2006/2007, S. 13–14 [w78_arbeiter.htm]



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Wo sind die ArbeiterInnen?

»In solchem Leporello-Stil verkünden Wirtschaftsunternehmen heutzutage Entlassungen und Arbeitsplatzabbau: Bei Karmann 1250, bei Bayer-Schering 6000, bei Siemens-Nokia 9000, 14 500 bei DC, 20 000 bei VW und bei der Telekom 32 000. Angesichts der Gewinne…« (SZ, 07.06.2006)

Die ArbeiterInnen sind als statistische Größe und somit auch scheinbar als gesellschaftlicher Machtfaktor verschwunden. Sie sind nicht mehr »dauerhafter Bezugspunkt und zentrales Problem« meint M. Perrot im Buch von Stephan Beaud und Michel Pialoux. In Die verlorene Zukunft der Arbeiter: fragen sie sich »Was ist übrig geblieben von der Arbeiterklasse?« und schreiben: »Man gewinnt immer mehr den Eindruck, dass sich die Arbeiter auf sich selbst zurückgezogen haben, angesichts der normativen Kraft der Tatsachen […] verstummt sind.«

Die »Tatsachen« versuchen wir im folgenden durch statistisches Material aus der BRD nachzuvollziehen und so die Diskussionen um Verlagerung, Betriebsschließung und Möglichkeiten der Abwehrkämpfe mit einigen Zahlen unterfüttern.

Mehr Arbeit

Seit Abwicklung der DDR und Abräumen einer ganzen ArbeiterInnengeneration ist die Erwerbstätigenquote von 65 Prozent Mitte der 90er Jahre auf 68 Prozent im Jahr 2005 gestiegen. Von 82,6 Mio. »Wohnbevölkerung« der BRD gelten etwas über die Hälfte, 42,2 Mio., als Erwerbspersonen – 66,8 Prozent aller Frauen und 80,4 Prozent aller Männer. 38,8 Mio. sind Erwerbstätige, und wenn man über die offiziellen Zahlen hinaus die FrührentnerInnen und die stille Reserve hinzurechnet, die sich aus Frust schon gar nicht mehr arbeitslos melden, kommt man in erweiterter Definition auf gut und gerne 7,4 Mio. Arbeitslose in der BRD. Im Vergleich zu 1993 arbeiten 1,3 Mio. Menschen mehr. Der besonders starke Zuwachs 2004 – um 161 000 Erwerbstätige im Vergleich zum Vorjahr – basiert zum größten Teil auf Minijobs, Zunahme der Teilzeitarbeit, Ich AGs und zum anderen Teil auf Bereinigung der Statistik durch Hartz I-IV.

38,8 Mio. »Erwerbstätige im Inland«setzen sich zusammen aus:

19,1 Mio. Angestellte, davon 10,6 Mio. Frauen

10,7 Mio. ArbeiterInnen, davon 3,4 Mio. Frauen

4,1 Mio. Selbständigen, davon 1,2 Mio. Frauen

0,4 Mio. mithelfenden Familienangehörigen, davon 0,3 Mio. Frauen

2,2 Mio. BeamtInnen, davon 0,8 Mio. Frauen

Seit zehn Jahren steigt zwar die Zahl der abhängig Beschäftigten, aber die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ging seit dem Höchststand 1993 um über zwei Mio. zurück, 2005 waren es 26,2 Mio. – 14,3 Mio. Männer und 11,9 Mio. Frauen. Der Rückgang findet hauptsächlich in der ehemaligen DDR einschließlich West-Berlin und im gesamten Fertigungsbereich statt; hier wurden allein 1,11 Mio. sozialversicherungspflichtige Stellen gestrichen, betroffen sind davon auch die technischen Berufe (Ingenieure und Techniker um 100 000) und Dienstleistungsberufe (um 280 000). Überraschend ist der Zuwachs der Hilfsarbeiter im produzierenden Gewerbe.

Seit 2003 (Beginn der Förderung der Selbstständigkeit durch Ich-AGs) hat die Zahl der Selbstständigen jährlich um rund 150 000 zugenommen. (Zuwachsrate von 1,6 Prozent im Vergleich zu 0,2 Prozent gerechnet auf alle Erwerbstätigen)

Die Zahl der Ein-Euro-Jobs ist im Jahr 2005 um 149 000 auf insgesamt 270 000 gestiegen. Sie nimmt weiter zu, aber längst nicht mehr so stark wie bisher.

So wie die Zahl der Teilzeitbeschäftigten (ohne Mini- und Ein-Euro-Jobs) zunimmt, 2005 waren es 657 000 Männer und 3,7 Mio. Frauen, nimmt die der Vollzeitbeschäftigten ab.

Weniger Kohle

2004 gingen die Einkommen der Lohnabhängigen zum ersten Mal seit 1989 auch absolut um durchschnittlich 0,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück; das war ein Reallohnverlust von 1,5 Prozent. Im Dienstleistungsgewerbe wird nur 73 Prozent des durchschnittlichen Einkommens im produzierenden Gewerbe verdient. Teilzeitbeschäftigte verdienen weniger als Vollzeitbeschäftigte, diese wiederum müssen jedoch durch tarifliche Verlängerungen der wöchentlichen Regelarbeitszeit und weiterhin sinkendem Krankenstand real länger arbeiten Die tägliche Arbeitszeit soll sich laut einem Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Schnitt um 0,8 Prozent verlängern.

Vom Arbeiten zum Dienen und Vorleisten

1970 arbeiteten noch 46 Prozent der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe, heute nur noch 26 Prozent, das sind 10,2 Mio.. Im Dienstleistungsbereich verlief die Entwicklung genau umgekehrt. Im Jahr 2004 »dienten« bereits 71 Prozent oder 27,7 Mio. (1970 waren es erst 45 Prozent oder 12 Mio., 1993 waren es 23 Mio.). In der Landwirtschaft ist durch Industrialisierung und Internationalisierung die Zahl der Beschäftigten noch einmal von 9 Prozent auf 2 Prozent gesunken.

Diese Veränderungen schlagen sich auch in der Bruttowertschöpfung nieder. Während 1970 der Dienstleistungssektor und das produzierende Gewerbe mit jeweils 48 Prozent beitrugen, erhöhte sich seither der Anteil des tertiären Sektors bis auf fast 70 Prozent im Jahr 2004. Gleichzeitig fiel der Anteil des produzierenden Gewerbes auf knapp 30 Prozent.

Und doch stieg die Industrieproduktion von 1995 bis 2005 um 15 Prozent. Dahinter verbirgt sich die Fortentwicklung der betrieblichen Arbeitsteilung, Auslagerung und Verlagerung von Unternehmensteilen mit »Diensleistungsfunktion«, die zumindest statistisch die Produktivität der industriellen Produktion steigert. So wurden beispielsweise Kantinen industrieller Großbetriebe von Catering-Unternehmen übernommen; durch Sklavenhändler beschäftigte ArbeiterInnen in der Produktion tauchen in der Statistik in den Dienstleistungssektor ab. 40 Prozent aller Dienstleistungen werden vom verarbeitenden Gewerbe nachgefragt. Im Bereich Forschung und Entwicklung lag der Anteil der Industrie sogar bei 73 Prozent. Am deutlichsten wird die Bedeutung der Arbeitsteilung an der vertikalen Produktionskette der Automobilindustrie, 330 000 von 770 000 Beschäftigten arbeiten bei Zulieferunternehmen. Bis 2010 soll ihr Anteil an der Fertigung auf 80 Prozent, bei der Entwicklung auf 50 Prozent steigen. 1995 kamen 59 Prozent der Vorleistungen des Verarbeitenden Gewerbes in Deutschland aus dem Verarbeitenden Gewerbes selbst, gut ein Viertel (26,9 Prozent) der Vorleistungen des Verarbeitenden Gewerbes gelten als Dienstleistungen.

Große Abräume

Im Zuge der Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung und der Modularisierung der Produktion komplexer Produkte seit den 90er Jahren sind viele Arbeitsschritte ins Ausland verlagert worden. Der Löwenanteil des industriellen Produktionswachstums fällt auf die Zunahme der ausländischen Vorleistungen, die von der Industrie eingekauft werden. Zwischen 1995 und 2004 stieg der reale Import von Vorleistungen für die Industrie um 64 Prozent. Die Industriebeschäftigung in der BRD fiel im gleichen Zeitraum um zehn Prozent.

Wichtigste Industriezweige nach Beschäftigung

Maschinen- und Anlagenbau – 868 000

Elektrotechnische und Elektronikindustrie – 807 000

Straßenfahrzeugbau – 777 000

Bauwirtschaft – 747 000

Ernährungsgewerbe – 523 000

Chemieindustrie – 428 000

Die Unternehmen dieser sechs Branchen sind die wichtigsten Anbieter industrieller Arbeitsplätze. 70 Prozent aller Industriebeschäftigten arbeiten dort. 2004 arbeitete jeder sechste Erwerbstätige in einem der 46 000 Industrieunternehmen, die zusammen einen Umsatz von 1,41 Billionen Euro erwirtschaften.

Textilindustrie, Teile der Stahl- und der Elektroindustrie, die »Weiße Ware« … ganze Industriezweige oder zumindest deren produzierende Bereiche sind spätestens mit dem großen »Strukturwandel« der 90er Jahre ins Ausland verlagert worden. Ostdeutschland verlor mit mehr als zwei Mio. Beschäftigten fast ein Fünftel der »Erwerbspersonen«. Die Stahlindustrie, in der 1960 noch 417 000 Leute beschäftigt waren, ist auf mittlerweile 80 000 Beschäftigte geschrumpft. Produziert wird vor allem Spezialstahl, aber auch Vorprodukte für die Autoindustrie. Beispielsweise werden in deutschen Stahlunternehmen maßgeschneidertenBleche für die Automobilherstellung bis zur direkten Einsatzfähigkeit bearbeitet, und liegen mit einer Arbeitsproduktivität von knapp 390 Tonnen Stahl je 1000 Arbeitsstunden in Europa an der Spitze. Im Massenstahlbereich dagegen ist Europa seit 2000 zum Nettoimporteur geworden ist.

Die Kernbereiche der Industrie, die übrig blieben, wurden radikal auf Exportorientierung und Produktivitätsteigerung getrimmt. So haben sich die Exportquoten im Maschinen- und Anlagenbau zwischen 1995 und 2005 von 42,7 Prozent auf 73 Prozent, in der Chemieindustrie von 46,2 Prozent auf 68,5 Prozent, der Automobilindustrie von 57 Prozent auf 70,9 Prozent und in der Elektroindustrie von 33,8 Prozent auf 46,6 Prozent erhöht. Auch diese Änderung in der Arbeitsteilung führte zu einer Stellenzunahme im Dienstleistungsbereich, jedoch zu einer deutlichen Senkung im Produktionsbereich und somit netto zu einem Stellenabbau.

In der Industrie hat sich eine Art neue Arbeitsteilung durchgesetzt, die das Arbeiter-Sein verändert. Die Proletarität verliert teilweise ihre »angestammten« Plätze in der Welt der Industrie und dringt mit der Proletarisierung der Angestellten auch in den tertiären Sektor.

Stephan Beaud, Michel Pialoux: Die verlorene Zukunft der Arbeiter, Konstanz 2004 (UVK). Siehe Besprechung in wildcat 75

Erwerbspersonen sind Personen mit Wohnsitz in Deutschland (Inländerkonzept), die eine unmittelbar oder mittelbar auf Erwerb gerichtete Tätigkeit ausüben oder suchen (Selbstständige, mithelfende Familienangehörige, abhängig Beschäftigte), unabhängig von der Bedeutung des Ertrages dieser Tätigkeit für ihren Lebensunterhalt und ohne Rücksicht auf den Umfang der von ihnen tatsächlich geleisteten oder vertragsmäßig zu leistendenArbeitszeit. Erwerbspersonen setzen sich aus den Erwerbstätigen und den Erwerbslosen zusammen.

Sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind alle Arbeiter/-innen, Angestellten und Personen in beruflicher Ausbildung, die in der gesetzlichen Renten-, Kranken-, Pflege- und/oder Arbeitslosenversicherung pflichtversichert sind oder für die Beitragsanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden.

In der Statistik werden folgende Wirtschaftsabschnitte zum Dienstleistungsbereich gezählt: Handel und Gastgewerbe, Verkehr und Nachrichtenübermittlung, Kredit- und Versicherungsgewerbe, Grundstücks- und Wohnungswesen, Vermietung beweglicher Sachen, Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen, Gebietskörperschaften und Sozialversicherung, Erziehung und Unterricht, Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen sowie sonstige öffentliche und persönliche Dienstleistungen.

Zum Produzierenden Gewerbe gehören neben dem Verarbeitenden Gewerbe (einschließlich produzierendes Handwerk) die Bereiche Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden, Energie- und Wasserversorgung sowie das Baugewerbe



aus: Wildcat 78, Winter 2006/2007



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