Wildcat Nr. 84, Sommer 2009, [giussani]



[Startseite] [Dossier_Krise] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: Wildcat #84 – Inhalt [Gesamtindex]


Paolo Giussani

Wie, schon vorbei? Was für eine lustige Krise!

Aktuelles Vorwort vom 28. Juni 2009

Gewisse Typen, von denen die Welt heute so voll ist, dass man nicht mehr weiß, wo man sie hinpacken soll, nennt man in Italien Arschgesichter. Unglaublich, wie Alan Greenspan weiterhin nach rechts und nach links predigt, anstatt sich auf irgendeiner einsamen Insel, 3000 Meilen von der nächsten Küste entfernt, zu verstecken. Und er findet sogar Zuhörer! In der Financial Times vom 25. Juni 2009, mitten in einem Wust von Lügen und unlogischen Argumenten, die aus seinem ganze 70 Zeilen langen Text ein Meisterwerk von ideologischem Schwindel machen, schämt er sich nicht zu versichern,

  1. dass die Krise wesentlich vom amerikanischen Immobilisensektor herrühre und ende, wenn die Wohnungspreise sich stabilisieren;
  2. dass der Anstieg der Aktienindizes seit März die notwendige Voraussetzung einer neuen nun bevorstehenden Phase von nachhaltigem Wachstum sei;
  3. dass langfristig eine Inflation drohe, falls die Regierung in die »Allokation« der Investitionen eingreife durch die Ausweitung der Staatsverschuldung.

Es ist ein wenig die Summe der gängigen Propaganda, die unter dem absoluten Druck steht, die aktuellen Erscheinungen kleinzureden und in einen zufälligen Unfall zu verwandeln, der nur aufgrund psychologischer Faktoren zu einer ernsten Sache werden könne. Dass diese Argumente Greenspans und aller postmodernen Schüler Goebbels mit Abschluss in business management inhaltsleer sind, ist unschwer zu erkennen:

  1. Die Krise hängt nicht im geringsten am amerikanischen Immobiliensektor, der war lediglich der Auslöser. Jede andere Branche mit wachsender Verschuldung im Verhältnis zum Einkommen (Kreditkarten, Handelskredite, Gewerbeimmobilien) hätte genauso gut, wenn nicht besser, dieselbe Funktion ausüben können. Und dazu wird es auch kommen, sobald man einen anderen Zünder braucht.
    Selbstverständlich werden sich die Immobilienpreise früher oder später stabilisieren, sie können ja nicht unendlich fallen: aber warum sollte die Krise dann vorbei sein? Die Phase konstanter Preise bedeutet im Gegenteil eine Phase von konstanten Preisen auf niedrigst möglichem Niveau, und sie muss mit einer mehr oder weniger allgemeinen Stagnation der Wirtschaft zusammenfallen.
  2. Greenspan ist einer der größten Ideologen des spekulativen Kapitals (nicht einer der intelligentesten, sondern eher ein Depp). Er meint, dass je mehr die Aktienpreise steigen, desto mehr an den Nicht-Finanzsektor verleihbares Kapital stünde den Banken zur Verfügung und desto mehr wüchsen die Akkumulation und das Gesamteinkommen.
    Abgesehen von der banalen Feststellung, dass niemand jemals etwas Derartiges erlebt hat, wäre es nach Greenspan in der Praxis so, dass wenn der Nominalwert des amerikanischen oder irgendeines anderen Landes oder auch des weltweiten Aktienkapitals in einem Jahr um das Zehnfache stiege, die amerikanischen oder welche Banken auch immer wundersamerweise über ein verleihbares Kapital derselben Dimension verfügten, so dass es folglich das effektive Kapital des »Nicht-Finanzsektors« um das Zehnfache seines Ursprungswerts vermehren könne.
    Es ist dagegen absolut banal zu wiederholen, dass es zwischen dem Niveau oder der Bewegung der Aktienkurse und der Größe des von den Banken ausleihbaren Geldkapitals keinerlei Zusammenhang gibt. Nicht nur das, sondern Greenspan stellt offen zur Schau, dass er nicht weiß, wovon er redet. Die normalen Banken (Handelsbanken) verleihen – außer in Ausnahmefällen – in den USA kein Kapital für Produktivinvestitionen, sondern nur das Geldkapital für den laufenden Geschäftsbetrieb oder als Vorschuss auf den realisierten Umsatz, was nichts mit der Börse, den Aktien usw. zu tun hat.
    Nur in einem einzigen entscheidenden Fall besteht ein Zusammenhang zwischen dem Kreditgeschäft der Banken und der Bewegung der Börsenindizes: beim Kredit an das spekulative Kapital, wo der Nominalwert der Titel zur Absicherung benutzt wird, um Geldkapital als Darlehen zu bekommen, oder beim Hypothekenkredit an Familien/Haushalte, wo der Nominalwert der Immobilien diese Funktion ausübt. Der schwachsinnige Traum von Greenspan ist eine unbestimmte Fortsetzung der Spekulation – mit ungeheuren Profiten für seine Freunde an der Wall Street und die zum Top Management der Großkonzerne Gekürten – finanziert von einem Kredit, der ebenfalls unbegrenzt ist, weil er von der Regierung umgehend aufgefüllt wird, wenn er zu versiegen droht.
  3. »Diese neue Regierung mit diesem neuen Präsidenten – der ja kein Fachmann ist – soll ja nicht davon träumen, Geld in den Produktivsektor zu stecken. Das Geld muss alles in den Finanzsektor fließen, andernfalls gibt es eine Inflation, eine Katastrophe, das Ende von allem ...« Endlich hat man urbi et orbi kapiert, was die innerste Ursache der Anti-Inflationspolitik der letzten 30 und mehr Jahre ist: die negative Korrelation zwischen Inflation der Warenpreise und Inflation der Aktienpreise. Dazu bedurfte es jedoch nicht viel.

Der unermessliche Honoré de Balzac unterteilte die Gesellschaft in Schurken und Schwachköpfe. Aber für ihn war alles viel einfacher, zu seiner Zeit waren die Charaktere sehr eindeutig und erforschbar. In der sogenannten herrschenden Elite heute ist schwer zu unterscheiden, ob einer ein Schurke oder ein Schwachkopf ist. Mit der letzten Krise hat die Kreuzung aus beiden nun das Stadium der Perfektion erreicht.


Polit-Fiction: Der wahre Mörder in diesem Krimi …


   Des Kapitalismus neue Kleider

Paolo Giussani, April 2009
1. Diener ihrer Zeit

Wenn es stimmt, dass man einen schönen Tag schon am Morgen erkennt, dann erwartet uns zweifellos Großes. Verglichen mit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre sieht die aktuelle Krise schon jetzt vielversprechend aus: Im letzten Drittel des Jahres 2008 sank das amerikanische Bruttoinlandsprodukt aufs Jahr gerechnet um 6,2 Prozent, das japanische um 13,3 Prozent und das der EU um 3,2 Prozent. Wenn man bedenkt, dass die realen Konsumausgaben in den USA um 4,3 Prozent gesunken, die realen Ausgaben der US-Regierung aber um 6,7 Prozent gestiegen sind, dann muss der Rückgang bei den Realinvestitionen in fixes Kapital – für die es bislang noch keine Schätzungen gibt – bei über 40 Prozent liegen. Eine wirklich bemerkenswerte Performance im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise. Damals sank das amerikanische Bruttoinlandsprodukt in den ersten drei Monaten nur um 5,5 Prozent, obwohl der Anstieg der Bundesausgaben (um 4,2 Prozent) relativ wenig antizyklisch und der Rückgang der Investitionen (um 35,2 Prozent) relativ stark prozyklisch wirkte.1 Viele Fans der gerade beginnenden Depression machen sich schon Hoffnungen, dass sie den 30er Jahren den Titel »Größte Krise der Geschichte« abnehmen wird. Den Titel hat sie noch nicht in der Tasche, aber der zweite Platz ist ihr jetzt schon sicher, denn schon die ersten Daten sichern ihr den Triumph über alle Krisen der Nachkriegszeit – Belanglosigkeiten – und besonders über die aufgeblasenen Krisen der 70er und 80er Jahre, die sich bisher für wer weiß was gehalten haben.

Die aktuellen Entwicklungen machen außerdem nochmals klar, dass es der marxistischen, keynesianischen oder sonstigen »linken« Wirtschaftsliteratur noch nie gelungen ist, eine zusammenhängende Darstellung zu liefern, die dem magischen Wort »Krise« gerecht würde, geschweige denn eine Analyse der verschiedenen Typologien von Krise und Wirtschaftszyklus. Und schon gar nicht hat sie zu verstehen versucht, wie und in welcher Form das kapitalistische Wirtschaftssystem in seine Niedergangsphase eintreten und wie es dann weitergehen könnte. Das führt sie gerade auf schlimmste Weise vor: Über die laufenden Prozesse ist alles Mögliche zu hören, aber niemand untersucht den lang- und kurzfristigen Mechanismus, der zur aktuellen Rezession geführt hat. Stattdessen fühlen sich – vollkommen kompatibel mit den Anforderungen des Politikbetriebs – praktisch alle berufen, Rezepte, Maßnahmen, Erlasse und Wirtschaftspolitiken vorzuschlagen. Das tun sie im übrigen schon seit 30 Jahren mit gleichbleibender Erfolglosigkeit. Je mehr sich die Krise zuspitzt und je deutlicher sich der wirtschaftliche Niedergang als solcher offenbart, desto mehr verwandeln sich die ehemaligen Rebellen in Diener ihrer Zeit. Aber früher oder später frisst die Zeit ihre Diener bekanntlich.

2. Aktiengesellschaft

Die parasitäre Transformation des Weltkapitalismus hat ihren Ursprung im Ende des Nachkriegs-Wirtschaftsbooms, der in die Rezessionen und in die Stagnation der 70er Jahre mündete, als der tendenzielle Fall der hohen Nachkriegs-Profitrate zu einem beträchtlichen Überschuss an Geldkapital führte. Nach zehn Jahren Stagnation wurde die Kapitalschwemme dann für Fusionen und Übernahmen durch den Kauf von Aktien eingesetzt, deren Kurse damals im Durchschnitt recht niedrig lagen. Diese mächtige Konzentrationsbewegung führte natürlich zu einem plötzlichen und andauernden Anstieg der durchschnittlichen Börsenkurse. Dieser Anstieg löste schnell die seit 30 Jahren zu beobachtende Verlagerung von Geldkapital in spekulative Anlagen aus, wodurch wiederum Tokio, London und vor allem New York sehr rasch zu Anziehungspolen des weltweiten Spekulationskapitals wurden. Der relative Umsatz der Wall Street, der im Laufe der Nachkriegszeit weitgehend konstant bei 15 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts gelegen hatte, hob nun ab auf eine fulminante Wachstumskurve, die ihn von 17 Prozent im Jahr 1975 über 35 Prozent im Jahr 1989 auf 150 Prozent im Jahr 1999 katapultierte; 2006 erreichte er den absoluten historischen Spitzwert von 350 Prozent. Das ergibt über den Zeitraum 1975-2006 ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 10,25 Prozent.2

Im Unterschied zum spekulativen Boom der 20er Jahre speist sich das Wachstum des spekulativ investierten Geldkapitals heute nicht nur aus den realisierten Profiten und aus den Managereinkommen, sondern – vermittelt durch die Fonds – aus der ganzen Gesellschaft, d.h. auch aus den Löhnen der ArbeiterInnen. Tendenziell wird alles existierende flüssige Geld in spekulatives Kapital verwandelt. Das ist eigentlich nicht sehr verwunderlich. Der Grund, warum das moderne Kapital spontan zur Verwandlung in spekulatives Kapital tendiert, liegt in der inneren Struktur der Aktiengesellschaft.3 Dank der Verdopplung des Kapitals in produktives Kapital und fiktives Kapital besteht diese – abgesehen von den ArbeiterInnen – aus zwei merkwürdigen personae dramatis statt aus einer wie beim Unternehmen alten Typs. Die Besitzer des nominellen Kapitals sind nicht die Besitzer des produktiven Kapitals, zu letzterem stehen sie sogar in einem parasitären Verhältnis: Jede Erhöhung ihres Einkommens, also der ausgeschütteten Dividenden, muss vom akkumulierbaren produktiven Kapital abgezogen werden, und eine kurzfristige Werterhöhung des nominellen Kapitals – woran den Aktionären vor allem liegt – ist nur möglich durch eine unmittelbare Senkung der Produktionskosten, also das genaue Gegenteil einer langfristigen natürlichen Senkung der Produktionskosten durch fortgesetzte Investitionen in neues produktives Kapital. Die Manager wiederum befinden sich in einer widersprüchlichen Lage. Solange sich kein spekulativer Boom am Horizont abzeichnet, handeln sie als Agenten des produktiven Kapitals; wenn aber der Stern des spekulativen Kapitals aufgeht, sitzen sie an der günstigsten Stelle, um sich augenblicklich in dessen aktive Agenten zu verwandeln, sogar mehr noch als die Aktionäre. Die Aktiengesellschaft ist zwar ein viel mächtigerer Hebel zum Einsammeln von Kapital als die alte Personengesellschaft und stellt das letzte Stadium der Vergesellschaftung im Kapitalismus dar, aber genau deshalb fehlt ihr zwangsläufig ein direkter und eindeutiger Vertreter des produktiven Kapitals; insofern bedeutet die Vergesellschaftung des Kapitals gleichzeitig die Vergesellschaftung des Parasitismus. Mit der Aktiengesellschaft tritt das Kapital tendenziell aus den Grenzen der kapitalistischen Verhältnisse heraus. Dabei verliert es seine Personifizierung, seine persönlichen Agenten. Diese können nicht mehr als solche agieren, weil es sie ganz einfach nicht mehr geben kann. Damit das spekulative Kapital seine Herrschaft durchsetzt und sich die Agenten des Kapitals in Parasiten des Kapitals verwandeln können, braucht es nur einen anfänglichen Impuls von außen, denn niemand kann einen spekulativen Boom in Gang setzen. Wenn die spekulative Ausweitung aber erst einmal angelaufen ist, reproduziert sie sich im modernen Kapitalismus automatisch auf erweiterter Stufenleiter und zieht immer mehr Geldkapital an sich.

Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil stand hinter der Ausweitung des spekulativen Kapitals nicht das Finanz- und Kreditkapital, sondern die Funktionsweise des produktiven Kapitals selbst. Der von den Industrie- und Handelskonzernen spekulativ angelegte Profitanteil ist in den letzten 30 Jahren konstant, teilweise sogar beschleunigt gestiegen, und zwar von 10 Prozent Mitte der 70er Jahre auf 91 Prozent im Jahr 2007. Der größere Teil dieser spekulativen Anlage des Nettoertrags wurde für Rückkäufe von eigenen Aktien verwendet, womit der Börsenwert des eigenen nominellen Kapitals in die Höhe getrieben wurde und gleichzeitig auch die großen Optionspakete, die das Topmanagement sich selbst genehmigt hatte, im Wert stiegen. Der kleinere Teil wurde verwendet, um direkt Aktien von anderen Firmen oder Fonds zu kaufen. Ohne diese Verlagerung von Geldkapital aus der produktiven Akkumulation in spekulative Anlagen hätte es weder einen spekulativen Boom gegeben, noch hätte der Finanzsektor sich so sensationell ausweiten können. Umgekehrt proportional zum ständig steigenden Anteil am Nettoertrag, der in den spekulativen Kreislauf einfloss, sank die Akkumulationsrate in der gesamten OECD; damit wurde die seit den 70er Jahren herrschende Stagnation vollends chronisch. Der Wirtschaftsboom in China und in Südostasien hat die Talfahrt im Westen nur teilweise kompensiert, und das auch nur, weil er in großem Maße Güter höherer Qualität durch Güter minderer Qualität ersetzte und so der laufenden Verarmung eines großen Teils der Gesellschaft entgegen kam.

3. Schuldenboom

Die spekulative Ausweitung hängt eng zusammen mit dem Schuldenboom, sie ist sogar seine notwendige Grundlage. Von 1952 bis 2008 stieg die Gesamtverschuldung der amerikanischen Wirtschaft von 103 auf 320 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und 90 Prozent dieses Anstiegs haben sich seit 1977 angehäuft. Wenn man die vier Hauptbereiche (Finanzunternehmen, Nicht-Finanzunternehmen, Privathaushalte und Öffentliche Hand) vergleicht, fällt auf, dass die Schulden der Nicht-Finanzunternehmen und der Öffentlichen Hand relativ wenig gestiegen sind. Besonders stark gestiegen ist demgegenüber die direkte Verschuldung der Finanzunternehmen, genauer gesagt die direkte Verschuldung der Privathaushalte und der Finanzunternehmen, wobei der Anteil der letzteren an der Gesamtverschuldung innerhalb von 25 Jahren von Null auf fast 40 Prozent zugenommen hat. In beiden Fällen lässt sich der Prozess der Verschuldung leicht erklären.

Angesichts des durch spekulative Investitionen ausgelösten Anstiegs der Grundstücks- und Immobilienpreise haben viele Eigenheimbesitzer auf ihre Immobilien noch eine zweite oder dritte Hypothek aufgenommen und sich damit ein zusätzliches Pseudoeinkommen verschafft. Damit konnten sie ein Stück weit die sinkenden Reallöhne ausgleichen, vor allem um die gewaltig gestiegenen Krankheits- und Ausbildungskosten aufzufangen, aber auch, um sich weiterhin dauerhafte Konsumgüter leisten zu können. Soweit zur Nachfrageseite für Kredite. Auf der Angebotsseite stellt sich die Schwemme an verleihbaren (Geld-)Mitteln als Nebenprodukt der gigantischen Umwandlung von Geldkapital in spekulatives Kapital dar. Während bei der Verwandlung von Geldkapital in produktives Kapital flüssige Mittel tendenziell festlegt werden, behalten beim spekulativen Anlegen von Geldkapital die Bankeinlagen, die als Zirkulationsmittel dienen, dauerhaft ihre direkt flüssige Form und bleiben deshalb direkt verleihbar. Die wachsende Liquidität des Kreditgelds hat zu sinkenden Zinsen geführt, deren Abwärtskurve sich fast perfekt mit der Dauer des Spekulationsbooms deckt: vom Höchststand von 18,2 Prozent im Jahr 1982 auf den Tiefststand von 2,2 Prozent im Jahr 2006.4 Und diese Abwärtsbewegung hat ihrerseits den relativen Anstieg der Verschuldung stark begünstigt und angeregt. Trotzdem zeigen die Zahlen über die Entwicklung von Bankkrediten und Obligationen nicht vollständig die tatsächliche Verschuldung des Finanzsektors; diese ist zum größten Teil jeder Messung entzogen, da sie in den Derivaten enthalten ist, deren Volumen seit Beginn der 90er Jahre, als der Spekulationsboom also schon lief, über jedes vorstellbare Maß hinaus angewachsen ist.5

Trotz allen – oft recht poetischen – Geraunes über das Wesen der Derivate ist kein großes Geheimnis dabei. Derivate sind bloß eine besondere Art von Wette, bei der auf die Bewegung von Wertpapieren, Währungen, Zinsraten und/oder einem mehr oder weniger komplizierten Mix daraus gesetzt wird. Derivate sind im wesentlichen eine Form von spekulativer Investition ohne Kapitalvorschuss; vom Verkäufer der Derivatverträge aus gesehen fungieren sie als Versicherung gegen eine ungünstige Bewegung, während sie vom Standpunkt des Käufers aus die entgegengesetzte Funktion erfüllen, d.h. dazu dienen, einen Spekulationsgewinn zu erzielen. Der Handel mit Derivaten als solcher hat keinen Einfluss auf die Entwicklung der eigentlichen Spekulation, bzw. er hat nur indirekten Einfluss, wenn nämlich – wie es bei Futures oft geschieht – seine Auswirkungen vom spekulativen Kapital als Wegweiser genommen werden. Andererseits beinhaltet die Akkumulation von Derivaten eine sowohl in ihrer Richtung wie auch in ihrer Höhe vollkommen zufällige Verschuldung, die um ein Vielfaches höher liegt als die mögliche Verschuldung über die verschiedenen Formen des Kredits.6

4. Kreditketten

Der unendliche Anstieg der Verschuldung muss irgendwann an Grenzen stoßen, die von der Produktion von neuem Ertrag gesetzt werden. Der Kredit dient als Voraussetzung zur Produktion von Ertrag; und der produzierte Ertrag muss zum Ausgangspunkt zurückkehren und den zu Beginn der Bewegung vorgestreckten Kredit tilgen.

Damit dieser Kreislauf stattfinden kann, müssen aber am Ende des Kredit-Ertrag-Zyklus einige Faktoren gegeben sein, die am Anfang noch nicht vorhanden waren. Der erste davon ist die Zinsrate. Steigt diese im Laufe des Prozesses an, dann könnte es sein, dass der produzierte Endertrag nicht mehr ausreicht, um die vorgeschossene Kreditsumme zu tilgen. Der zweite Faktor ist die Grundlage des ausgegebenen Kredits. In Industrie und Handel beruht der Kredit darauf, dass die Forderungen aus Lieferungen und Leistungen (Schecks, Wechsel usw.) zu Geld gemacht werden; indem die Waren zirkulieren, verwandeln sie den Kredit in Geld, das, indem es zum Ausgangspunkt zurückfließt, wieder die Bedingungen für eine neue Kreditvergabe schafft und so weiter. In der spekulativen Zirkulation entspricht der Kredit keiner Warenzirkulation, im Derivatgeschäft noch viel weniger. Jegliche Rhythmusstörung in der Zirkulation kann ein krasses Missverhältnis zwischen verfügbarem Ertrag und angehäuften Schulden auslösen. Besonders dann, wenn in der sogenannten »Realwirtschaft« nicht mindestens gewisse Erträge produziert werden und/oder nicht ständig mindestens ein gewisser Teil dieser Erträge in spekulative Anlagen fließt, nimmt die Verschuldung gegenüber dem verfügbaren Ertrag offenbar sehr schnell unverhältnismäßig zu, bis schließlich zwangsläufig die Zirkulation unterbrochen wird. Natürlich brechen zuerst die schwachen Glieder der Kreditkette; in unserem Fall war das der Subprime-Hypotheken-Sektor, der, anders als die offizielle Propaganda es behauptet, nicht daran kaputt gegangen ist, dass zuviele Kredite gewährt wurde, sondern daran, dass die Kredite sich nicht auf ausreichende Lohneinkommen stützen konnten (und können).

Was auf der einen Seite Kredit ist, sind auf der anderen Seite Schulden. Wenn irgendwo in der Transaktionskette die Schulden nicht mehr bedient werden können, dann können sie sich nicht mehr in Erträge verwandeln, wodurch dann zwangsläufig auch irgendwo anders die Erträge fehlen, um die Schulden zu bedienen. Damit wird eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, deren Reichweite der Ausdehnung des allgemeinen Verhältnisses zwischen Verschuldung und laufenden Einnahmen entspricht. Genau diese Reaktion können wir gerade beobachten: von den Subprimes zu den Kreditinstituten, von diesen zu den Geschäftsbanken und von denen weiter zu den Handelsbanken. Je riesiger die relative Verschuldung der Finanzbranche, auf desto dünneres Eis geraten die spekulative Anlage von Geldkapital und die erzielbaren Gewinne in allen Teilen dieser Branche und desto wahrscheinlicher wird ein Umsichgreifen der Insolvenz.

Der Bruch der Zahlungskette hat sich über verschiedene Kanäle von der Finanzbranche zur sogenannten »Realwirtschaft« fortgepflanzt. Zu den unmittelbaren Auswirkungen der Krise gehörte der plötzliche Rückgang der Nachfrage nach Industriegütern und Dienstleistungen seitens der Finanz- und Kreditbranche, was viele Unternehmen dazu gezwungen hat, zusätzliche Bankkredite zum Ausgleich ihres gesunkenen Umsatzes aufzunehmen – was sich aber plötzlich als ziemlich schwierig herausstellte, zum einen weil die Handelsbanken über weniger liquide Mittel verfügten, zum andern weil die Titel im Besitz der Firmen der »Realwirtschaft« so rasch an Wert verloren, dass sie immer weniger als Sicherheit für Kredite taugten. Die Nachfrage der Privathaushalte nach Konsumgütern war schon einige Zeit vor dem Krisenausbruch zurückgegangen, jetzt beschleunigt sich der Rückgang dank des Einbruchs der Kreditnachfrage in der zweiten Jahreshälfte 2008 (die Kreditaufnahme der Privathaushalte fiel in den letzten fünf Monaten des Jahres 2008 von 10,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts praktisch auf Null, und die Kreditaufnahme der Nicht-Finanzunternehmen fiel von 10,3 auf 1,9 Prozent).

5. Auswege?

Seit Ausbruch der Krise dachten praktisch alle Linkskeynesianer, sie könnten der Welt die gute Nachricht vom Ende des Neoliberalismus und von der Rückkehr zum lang ersehnten Big Government bzw. zum Deficit Spending zu verkünden, dem sich die Regierungen nun wohl oder übel beugen müssten, um zu verhindern, dass alles zusammenbricht. Dabei handelt es sich jedoch um ein Gemisch aus Lügen und frommen Illusionen. Deficit Spending hatte noch nie etwas mit einer hohen Akkumulationsrate und einem steigenden Nationalprodukt zu tun; in dieser Hinsicht hat es in den Zeiten normaler Kapitalakkumulation nie eine »keynesianische« Epoche gegeben. Vor allem bedeutet der von den Regierungen und besonders von der Regierung Obama jetzt eingeschlagene Weg nicht Big Government, sondern ausschließlich Big Finance bzw. erstens die Verwandlung der Zentralbank in eine Handelsbank, damit sie direkt beliebige Wertpapiere und/oder Schuldverschreibungen jedes beliebigen Teils des Finanzsystems in Geld verwandeln kann, und zweitens Geldschöpfung mit dem Ziel, alle wertlos gewordenen Kapitaltitel aus den Bilanzen des Finanzsystems zu entfernen und durch liquide Mittel zu ersetzen. Es geht eindeutig darum, die Zirkulation des spekulativen Kapitals wieder genau wie vorher in Gang zu bringen, d.h. sogar noch mehr als vorher, denn ab jetzt wäre es eine spekulative Zirkulation, die ständig von einem Interventionssystem der Zentralbank und der Regierung gestützt wird, das beim kleinsten Anzeichen eines Liquiditätsmangels blitzschnell eingreift. Der ganze Rest – Erhöhung der Sozialausgaben, Re-regulierung des Finanzsystems und der Banken usw. – ist nur pathetisches Geschwätz.

Da dem vom Staat im Austausch gegen uneinbringliche Titel (die inzwischen allseits bekannten toxic assets) in die Finanz- und Kreditbranche gepumpten Geldkapital kein Gegenwert gegenüber steht, werden die Handelsbanken, die Investmentbanken, die Finanzgesellschaften usw. es nicht als Kreditkapital einsetzen, sondern horten und damit letztlich die Spekulation von Neuem anheizen; ein Verhalten, das auch in den anderen Teilen der Wirtschaft, insbesondere in der »Realwirtschaft« um sich greifen wird. Da die von der Regierung an Banken und Finanzunternehmen ausgegebene Menge an Geldkapital zwar unermesslich groß, aber doch entschieden kleiner ist als die Schulden, die sie tilgen soll, läuft die Intervention zur Rettung der Sphäre des spekulativen Kapitals ernsthaft Gefahr, die Implosion des Wirtschaftssystems nicht zu verhindern, sondern eine spektakuläre Spirale von immer neuen und immer größeren Wiederholungen der aktuellen Krise in Gang zu setzen.

Theoretisch könnten die Politiker andere Wege gehen, jedoch nur theoretisch. Das spekulative Finanzwesen ausschalten und dabei Investmentbanken, Finanzgesellschaften, Fonds usw. Konkurs gehen lassen; dem Nicht-Finanzsektor die spekulative Anlage von Geldkapital verbieten; die Derivate abschaffen und die Begleichung der mit ihnen erzeugten Schulden verbieten; die Pensionsfonds verstaatlichen, indem man sie garantiert und auf ein Umlageverfahren umstellt; die Handelsbanken verstaatlichen und direkt der Zentralbank unterstellen, die wiederum unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden würde, kurz: ein Programm, das konsequent versucht, wieder günstige Bedingungen für die Akkumulation von produktivem Kapital zu schaffen und somit letztlich »den Kapitalismus zu retten«. Angenommen, wir wollten einen Polit-Fiction-Film drehen, der von der Hypothese ausgeht, dass die Regierungen der großen Staaten sich daran machen, die Zirkulation von spekulativem Kapital auf ein Minimum zu reduzieren – welche Folgen müssten wir uns ausmalen? Keine besonderen. Es würde auf eine erweiterte Neuauflage der 70er Jahre hinauslaufen. Der Fall der Profitrate würde mehr oder weniger direkt dazu führen, dass auch die Akkumulationsrate sinkt, während die wachsende öffentliche Verschuldung zu einer steigenden Inflationsrate führen würde. Dieser Zustand einer andauernden Stagnation würde eher früher als später an einen Scheideweg führen: Entweder würden sich die ArbeiterInnen durchsetzen und die Voraussetzungen für ein anderes Wirtschaftssystem schaffen, oder wir würden ein brutales dejà vu genau der Entwicklung der späten 70er und 80er Jahre erleben, das zur heutigen Situation geführt hat.

Der einzige wirkliche Vorläufer eines Mechanismus, der die Bedingungen für eine langandauernde Phase von Akkumulation von produktivem Kapital wiederhergestellt hat, war der Zweite Weltkrieg. Die Depression von 1930 bis 1939 hatte nicht ausgereicht. Sie reichte aus, um das spekulativ akkumulierte Kapital zu beseitigen, aber um einen Akkumulationsprozess von fixem Kapital über einen langen Zeitraum in Gang zu bringen, war mehr nötig: Dazu musste das überakkumulierte Kapital vernichtet und die Profitrate auf ein Niveau angehoben werden, das höher lag als der Höchststand der vorhergehenden Phase: Für beides sorgte auf wundersame Weise die Kriegswirtschaft von 1939 bis 1945, die die potentielle Energie schuf, die in den darauf folgenden 30 Jahren ausgebeutet wurde.7 Die heutige Ökonomie steckt in einer totalen Sackgasse, und es ist kein Mechanismus bzw. kein externer Mechanismus verfügbar oder vorstellbar, der dieselben Wirkungen erzielen könnte. Das ist natürlich nicht der einzige Grund, warum die Politiker kein Interesse an einer Politik wie der eben beschriebenen8 zur Rettung »des Systems« (wie man früher sagte) als Ganzem haben können. Sie haben nicht nur keine Ahnung, was das »System« ist, sie können es nicht einmal sehen. Seit etwa 30 Jahren haben sie sich nach und nach von jeglicher Beziehung zur ökonomisch-sozialen Basis abgekoppelt und sich fast vollständig vom allgemeinen Spekulationsgeschäft in seinen fast unendlichen Varianten und Formen abhängig gemacht – vor allem in jenen Formen, an denen der Staat beteiligt ist, was sie vollkommen unfähig gemacht hat, auch nur die banalsten Maßnahmen gegen die sich abzeichnende wirtschaftliche Katastrophe zu ergreifen, an die sie im übrigen nicht glauben können.

Aber der wahre Mörder in diesem Krimi ist ein anderer. Solange die Masse der ArbeiterInnen der reichsten Länder wie bisher den getreuen Spiegel der Politiker und Manager mimt, werden diese ungerührt noch mitten im kolossalsten ökonomischen Desaster so weitermachen. Hoffen wir, dass die Morgenröte der Krise die ArbeiterInnen zwingt, ihr selbstmörderisches Verhalten zu ändern.

 


Fußnoten:

[1] Zu einem Vergleich der Depression der 30er Jahre mit der gegenwärtigen Krise siehe B. Eichengreen und K. H. O'Rourke, A Tale of Two Depressions, (April 2009) auf http://www.voxeu.org/index.php?q=node/3421. Hieraus haben wir die Schaubilder auf der nächsten Doppelsteite entnommen.

[2]Im selben Zeitraum stieg der reale Index der Wall Street (S&P 500) von 390,40 im Jahr 1975 auf den historischen Höchststand von 1765,14 im Jahr 2000. Das bedeutet ein Plus von 369 Prozent und eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 6,8 Prozent. In den 30 Jahren davor (1945-1975) war der reale Index S&P 500 nur um 119,1 Prozent gestiegen. Das bedeutet eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 2,16 Prozent. Gleichzeitig stieg das Verhältnis zwischen Börsenwert und Unternehmensgewinnen – das von Kriegsende bis 1975 fast durchgängig um einen Durchschnittswert von 14,32 pendelte – von zuletzt 11,09 auf 46,71, was einen Gesamtanstieg von 349 Prozent bzw. ein jährliches Wachstum von 4,74 Prozent bedeutet.

[3] Siehe The speculation economy von L.E. Mitchell (San Francisco: Berret-Koehler 2007), wo der Übergang von der Personengesellschaft zur Aktiengesellschaft und die allgemeinsten ökonomischen Folgen dieser Verwandlung dargestellt werden.

[4] Die Zahlen beziehen sich auf das Mittel der verschiedenen Zinsraten für kurzfristige Kredite.

[5] Nach (teilweisen) Schätzungen der International Association for Swaps and Derivatives ist die nominale Gesamtsumme der Derivatverträge von 1994 bis zum ersten Halbjahr 2008 von 11 Billionen auf 530 Billionen US-Dollar gestiegen.

[6] Eben darum hat der berühmte amerikanische Finanzier Warren Buffet die Derivate »finanzielle Massenvernichtungswaffen« genannt. Wie treffend diese Bezeichnung war, zeigte sich beim blitzartigen Zusammenbruch des ganzen Systems der amerikanischen Investmentbanken, der bei weitem größten Besitzer von Derivaten.

[7] Der Mechanismus, der während des Kriegs die Grundlage für die riesige Nachkriegsexpansion geschaffen hat, sah natürlich anders aus, als es sich die Keynesianer vorgestellt hatten, und er hat wenig mit einer durch öffentliche Ausgaben geschaffenen effektiven Nachfrage zu tun. Heute ist fast vergessen, dass viele Keynesianer 1943, als die amerikanische Regierung schnell die Kriegswirtschaft beendete, Roosevelt heftig kritisierten und vorhersagten, dass das Ende der Kriegswirtschaft zum raschen Ausbruch einer neuen und noch schlimmeren Depression als im vorigen Jahrzehnt führen würde. Es ist ja bekannt, wie die Dinge dann liefen.

[8] Nicht einmal an schüchternen Maßnahmen gegen das Finanzsystem, wie sie Helmut Schmidt vorschlug (»Der Markt ist keine sichere Bank«, Die Zeit Nr. 40, 28. September 2008), den danach fast alle wie eine Kreuzung aus neobolschewistischem Umstürzler und verkalktem Tattergreis behandelten.


aus: Wildcat 84, Sommer 2009



[Startseite] [Dossier_Krise] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: Wildcat #84 – Inhalt Artikel im Archiv Gesamtindex