Wildcat Nr. 84, Frühjahr 2009, [visteon.htm]



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Ein post-ford istischer Streik


Bericht über die Auseinandersetzung bei Ford-Visteon in Großbritannien
English version on libcom.org

Im Juni 2000 wurde bei der Ford Motor Company die Produktion von bestimmten Teilen an eine neue Firma namens Visteon outgesourct – tatsächlich handelte es sich um eine Ausgründung von Ford, die weiterhin zu 60 Prozent Ford gehörte. Inzwischen hat Visteon Fabriken auf der ganzen Welt. In England schlossen Ford und die Gewerkschaft einen Vertrag ab, der den ehemaligen Ford- (und jetzigen Visteon-) ArbeiterInnen zusicherte, dass sie weiterhin die gleichen Löhne und Arbeitsbedingungen wie bei Ford haben würden (d.h. »gespiegelte« Bedingungen). Alle neu eingestellten Visteon-ArbeiterInnen bekamen aber schlechtere Verträge.

Am 31. März 2009 gab Ford-Visteon die Schließung von drei Fabriken in Großbritannien und die Entlassung aller 610 ArbeiterInnen bekannt. Die Firma wurde für insolvent erklärt und unter Konkursverwaltung gestellt. Ohne Vorwarnung wurde den ArbeiterInnen mitgeteilt, sie seien gekündigt und müssten in wenigen Minuten gehen, weil die Firma pleite sei, worauf die ArbeiterInnen fragten, was aus ihren Abfindungen und Renten werde. Das Management hatte sie bis zur letzten Minute arbeiten lassen, im Wissen, dass sie für ihre letzten Schichten noch nicht mal bezahlt werden würden.

Am 1. April besetzten die ArbeiterInnen in Belfast ihre Fabrik. Innerhalb von zwei Stunden kamen schon mehrere hundert lokale UnterstützerInnen vorbei. Zwei Verwalter des Wirtschaftsprüfungsunternehmens KPMG waren auf dem Gelände, während die Besetzung losging, und weigerten sich zu gehen. Also sperrten die ArbeiterInnen sie in einem Bürocontainer ein – wo sie 36 Stunden ohne Essen blieben, bevor sie endlich bereit waren, zu gehen! So viel sinnloser Einsatz für ihren Job …

Am selben Tag besetzten auch die Visteon-ArbeiterInnen in Basildon (Essex) und Enfield (Nord-London) ihre Werke, nachdem sie von der Besetzung in Belfast gehört hatten. Im Werk in Basildon befanden sich keine Lagerbestände oder Maschinen, die für die Firma von größerem Wert gewesen wären; also verwüsteten die ArbeiterInnen dort die Büros. Bullen in Demoausrüstung liefen auf und »überredeten« die ArbeiterInnen, ihre Besetzung zu beenden, angeblich mit der Drohung: »Haut ab, oder wir nehmen euch fest wegen Sachbeschädigung.« Danach standen rund um die Uhr Streikposten vor dem Werk.

Die Bedingungen vor Ort bestimmten den Charakter der Auseinandersetzung in den drei Werken; in Belfast wohnten viele ArbeiterInnen in der Nähe des Werks und hatten ein gutes Verhältnis zu den Leuten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Über die Jahre waren sie in vielen lokalen Auseinandersetzungen solidarisch gewesen. Folglich bekamen sie nun massenhaft praktische Unterstützung; innerhalb von Stunden kamen Leute und Ladenbesitzer aus der Gegend mit Lebensmitteln und anderen Sachen für die BesetzerInnen. Anders als in den anderen Werken wurde in Belfast auch der Weiterbetrieb des Werkes und der Erhalt der Arbeitsplätze gefordert (auch wenn nur wenige das für wahrscheinlich hielten).

In Basildon und Enfield kamen die ArbeiterInnen aus einem großen Einzugsbereich in und um London. In Enfield waren viele – vor allem Frauen – seit 20 bis 30 Jahren bei Ford/Visteon; sie hatten miterlebt, wie die Fabrik von 2000 auf 260 Beschäftigte schrumpfte, als die Zündkerzen- und Elektronikproduktion in andere Fabriken verlagert wurde – teilweise bis in die Türkei oder nach Südafrika. Die Arbeiter waren sehr bunt zusammengesetzt; ungefähr die Hälfte war in Indien, Sri Lanka, Italien, der Karibik usw. geboren.

Die ArbeiterInnen in allen Werken waren Mitglieder der Gewerkschaft Unite. In Enfield lief der Kontakt zu Unite allein über die Convenors.1 Ein paar Gewerkschaftsbosse ließen sich kurz blicken und erklärten ihre Unterstützung, aber außer ein wenig dürftiger Rechtsberatung kam nichts von ihnen. Die Besetzer waren auf sich allein gestellt. Die ArbeiterInnen hatten jahrelang Beiträge gezahlt, nun dauerte es über drei Wochen, bis die Gewerkschaft endlich ein bisschen Geld locker machte. Die Gewerkschaft erwähnte die Auseinandersetzung weder auf ihrer Website noch informierte sie ihre Mitglieder. Die Aufrechterhaltung der Besetzung und der Streikposten hingen also ausschließlich an den ArbeiterInnen und UnterstützerInnen.

In Enfield war die Unterstützung aus der Nachbarschaft sehr schwach – das Werk liegt zwar in der Nähe eines Arbeiterviertels, aber das Industriegebiet ist durch eine Hauptstraße abgetrennt. Als Pendler hatten die ArbeiterInnen keine lokalen Kontakte wie in Belfast.

In Basildon fanden die ArbeiterInnen Belege dafür, dass die Schließungen seit Jahren geplant gewesen waren und dass die gesamte Ausgliederung von Visteon durch Ford möglicherweise Teil eines langfristigen Plans zur möglichst bequemen und kostengünstigen Schließung unrentabler Firmenteile war. Sie fanden auch heraus, dass einer der Chefs vorhatte, die Fabrik später mit billigeren Arbeitskräften wieder zu eröffnen, und dass die Manager ihre eigenen Pensionen in Sicherheit gebracht hatten, indem sie sie in einen anderen Fond verschoben hatten. Also besuchten sie diesen Chef auf seinem Anwesen. Leider war er nicht zu Hause, und Visteon hatte schon Wachleute vor seinem Haus postiert. Die ArbeiterInnen gaben einen Brief mit ihren Forderungen ab.2

Protest oder Klassenkampf?

Die Besetzung in Enfield fiel zeitlich zusammen mit den G20-Protesten im Finanzzentrum in der Londoner City, wo einige tausend AktivistInnen den versammelten Führern der Welt ihre antikapitalistische Haltung demonstrierten. Hier wurden Flugblätter verteilt, um die Protestierenden über die Besetzung bei Visteon zu informieren, aber es gab wenig Reaktionen. In einem Internetforum kommentierte jemand später die Aktion folgendermaßen:

Der Kontrast zwischen der Energie und dem Aufwand für die Organisierung der G20-Proteste und der Unterstützung für die Visteon-Besetzung war krass. Teilweise zeigt das, welche unterschiedlichen Prioritäten für einige Leute der Protest von AktivistInnen auf der einen und der Klassenkampf auf der anderen Seite haben. Teilweise zeigt es auch, dass viele nützliche G20-Ressourcen [die wir bei der Besetzung und später bei den Streikposten hätten brauchen können] schon wieder weg aus London auf dem Weg nach Hause waren. […] Die Besetzung läuft jetzt seit zehn Tagen, und ich glaube nicht, dass irgendwann viel mehr als 300 Leute draußen vor der Fabrik waren, einschließlich den ArbeiterInnen, ihren Familien und FreundInnen und der SWP, während Tausende beim G20 waren. Natürlich leben nicht alle in Londen, aber viele wollen einfach nichts mit »Klassenkampf« zu tun haben.

AktivistInnen klagen manchmal darüber, dass die Gewerkschaften, der Staat usw. Kämpfe zu isolieren versuchen – aber einige Leute kriegen das mit ihrer politischen Ideologie auch ohne fremde Hilfe hin …

Während der Besetzung

Die Besetzung in Enfield selbst organisierte sich informell – die Leute, die sich von der Arbeit kannten, kamen jetzt in einem ganzen anderen Verhältnis zum Betrieb zusammen. Die Aufgaben wurden nach Bedarf und nach Fähigkeiten verteilt. Von insgesamt 210 Beschäftigten hielt ein harter Kern von 70 bis 80 ehemaligen ArbeiterInnen3 plus einer Handvoll UnterstützerInnen die Besetzung aufrecht.4

Mit dem Fortgang der Besetzung entstand ein Netzwerk von UnterstützerInnen; am vierten Tag der Besetzung, einem Samstag, fand eine Kundgebung statt. Danach trafen sich AktivistInnen aus der anarchistischen und libertären Szene und gründeten um die bestehende libertäre Haringay Solidarity Group5 herum eine Unterstützergruppe. Dieser harte Kern von etwa 15 bis 20 Leuten organisierte während der weiteren Besetzung die Streikposten rund um die Uhr vor dem Werk und den größten Teil der Unterstützung für die ehemaligen ArbeiterInnen. Das war wichtig; die ArbeiterInnen selbst sagten, dass es diese überraschende Unterstützung war, die sie in ihrem Kampf bestärkte. Flugblattaktionen, Spendensammeln, Öffentlichkeitsarbeit und Streikposten wurden gemeinsam von ehemaligen ArbeiterInnen und UnterstützerInnen durchgezogen. In diesem Betrieb gab es keine militante Geschichte, und nur wenige hatten eigene politische Erfahrungen. Nach der spontanen Entscheidung, den Betrieb zu besetzen, war diese Solidarität – die verglichen mit früheren Zeiten des Klassenkampfs durchaus begrenzt war – eine willkommene Überraschung.

Die linken Gruppen kamen zu den verschiedenen Events und Möglichkeiten, um Fotos zu machen und Zeitungen zu verkaufen. Abgesehen von ein, zwei individuellen Ausnahmen trugen sie aber sehr wenig aktiv zum Kampf bei. Tatsächlich wurden mehrere Mitglieder der SWP [Trotzkisten, die größte linke Partei in Großbritannien] wegen ihrer gönnerhaften Haltung rausgeworfen.

Nach neun Tagen, am 9. April, wurde die Besetzung jedoch beendet. Damals schrieben wir:

»Die Gewerkschaft hat die ArbeiterInnen heute (Donnerstag, 9. April) überredet, die Besetzung zu beenden, ohne ihnen irgendwas Genaueres über den angeblichen Deal mitzuteilen. Am Dienstag soll angeblich alles offengelegt werden. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum können sie dann nicht erst am Dienstag entscheiden, ob sie die Fabrik verlassen? […] Die statt der Besetzung geplanten Streikposten werden dem Abtransport von Visteon-Materialien weniger in den Weg stellen können. Außerdem lässt sich sicher auch die Aktivität der Streikposten mit juristischen Drohungen einschränken. […]

Auf der letzten BesetzerInnenversammlung wurde kein echter Widerstand laut gegen die Linie der Gewerkschaft, den Betrieb zu verlassen – obwohl einige BesetzerInnen vorher in Gesprächen gesagt hatten, dass sie weitermachen wollten, bis ein anständiger Deal rauskommt. Dieselben Gewerkschafts-Convenors, die anfangs gesagt hatten, sie und die anderen BesetzerInnen würden niemals die Fabrik verlassen, bevor ein zufriedenstellender Abschluss unterschrieben wäre, mussten nun die ArbeiterInnen davon überzeugen rauszugehen, obwohl es keine Garantien gab, sondern nur Gerüchte über einen möglichen mysteriösen kommenden Deal. Auf der Versammlung kritisierten einige Leute heftig die Gewerkschaft, weil die sie im Dunkeln über die Entwicklungen ließ und die Besetzung nicht genügend unterstützte; die meisten waren aber inzwischen entweder erleichtert oder fügten sich dem Beschluss, die Fabrik zu verlassen. Dass letztlich die Gewerkschaft über das Schicksal der ArbeiterInnen entscheidet, wurde nicht in Frage gestellt. Als in der Frühphase der Besetzung angesprochen wurde, dass die Gewerkschaft gegen den Willen der ArbeiterInnen auf ein Ende der Besetzung drängen könnte, antworteten einige ArbeiterInnen: »Die Gewerkschaft sind doch wir«, als könne die kollektive Stimme der ArbeiterInnen die Gewerkschaftsstrukturen kontrollieren. Aber sobald die Funktionäre – am anderen Ende der Welt – mit Verhandlungen begonnen hatten und der ganze Prozess – abgetrennt und geheimgehalten vor den ArbeiterInnen – in der Hand von Spezialisten war, konnten sie sich nicht mehr auf ihr eigenes Wissen verlassen, sondern waren abhängig davon, was man ihnen erzählte. Aus langer Erfahrung wissen wir, dass die Gewerkschaftshierarchie eigene Interessen verfolgt, die sich oft nicht mit denen der ArbeiterInnen decken.«6

Ein Video von der letzten BesetzerInnenversammlung zeigt, wie die Gewerkschaft erklärt, warum es zu Ende gehen muss.7 Es sieht danach aus, als sei mit Drohungen, bewusst vagen Informationen und zweifelhaften Ratschlägen hantiert worden. Die juristischen Argumente und die Einschätzung der Risiken waren aus verschiedenen Gründen extrem dubios. Wenn die BesetzerInnen sich geweigert hätten zu gehen und die Sache wieder vor Gericht gekommen wäre, hätte man zur Verteidigung von Unite und den BesetzerInnen argumentieren können, dass die Besetzung ursprünglich Verhandlungen über einen Abschluss durchsetzen sollte. Da die Firma aber zum vorher vereinbarten Termin am Donnerstag um 12 Uhr kein Angebot vorgelegt hatte, waren die BesetzerInnen nicht mehr daran gebunden, ihrerseits das Gelände zu verlassen. Aber Gewerkschaftsbürokraten mögen Dinge wie Besetzungen nicht – es verunsichert sie, wenn sie sehen, dass ArbeiterInnen selbst die Initiative ergreifen.

Alles sieht danach aus, als wolle die Regierung die Auseinandersetzung bei Ford-Visteon so wenig wie möglich eskalieren lassen. Es ist eine der ersten großen Auseinandersetzungen in der Kreditkrise, bei der es um Abfindungen und Renten geht. Der Umgang damit – und vielleicht auch die Reaktionen der ArbeiterInnen – könnte ein Präzedenzfall für zukünftige Firmenpleiten sein. Eine brutale Räumung von ArbeiterInnen, die nach einem ganzen Arbeitsleben von ihren Arbeitgebern bestohlen wurden, hätte wahrscheinlich Benzin ins Feuer gegossen, weil sie Millionen von zukünftigen Arbeitslosen klargemacht hätte, was auch ihnen bevorsteht. Die Regierung hat Angst vor einer Eskalation, wenn die nächsten Insolvenzen kommen.

In Belfast wurde zur gleichen Zeit noch weiter besetzt, und die Firma – der klar war, dass es dort mehr Unterstützung vor Ort und eine kämpferische Geschichte gab – hatte noch keinen gerichtlichen Räumungsbeschluss beantragt. Als der Räumungsbeschluss dann auch in Belfast kam, verbrannten ihn die BesetzerInnen feierlich und setzten die Besetzung fort.

In Enfield ging es nach dem Ende der Besetzung vor allem darum, zu verhindern, dass Waren und Maschinen aus dem Werk abtransportiert wurden – denn man wollte noch irgendwelche Verhandlungsmacht behalten. (In Enfield stand von allen drei Werken das wertvollste Inventar – unter anderem teure Spritzgussmaschinen). Jetzt standen rund um die Uhr Streikposten vor dem Werk. Von der Gewerkschaft kam immer noch keine Unterstützung: Kohlepfannen, Dixiklos, Zelte und einen Wohnwagen besorgten ehemalige ArbeiterInnen und UnterstützerInnen. Die ehemaligen ArbeiterInnen hatten inzwischen alle Illusionen über die Gewerkschaft verloren – aber die mangelnde Unterstützung durch die Gewerkschaft bewirkte, dass sie anfingen, sich Fähigkeiten zur kollektiven Selbstorganisation anzueignen.

Gleichzeitig wurden die Convenors aus den drei Werken zusammen mit den Unite-Bossen in die USA geflogen, um mit den Visteon-Bossen zu verhandeln. Laut einem Bericht waren die Convenors bei den Verhandlungen nicht mit im Raum, sondern wurden an der Bar abgesetzt, während die Ford- und Gewerkschaftsbosse über das Schicksal »ihrer« ArbeiterInnen entschieden.

Nach dieser ersten Verhandlungsrunde machten die Insolvenzverwalter ein Angebot – das bestand aber schlicht aus dem Lohn für 90 Tage, dem gesetzlichen Mindestbetrag! Als Antwort auf diese Beleidigung verstärkten die Streikposten in Enfield jetzt die Barrikaden um die Fabriktore herum. Wie nicht anders zu erwarten, war es viel schwieriger, rund um die Uhr Streikposten aufzustellen, als eine Besetzung durchzuziehen. Die ehemaligen ArbeiterInnen und UnterstützerInnen stellten Schichtpläne auf und schafften es so, an den fünf Toren die Präsenz aufrechtzuerhalten. Außerdem gab es Streikposten und Flugblattaktionen bei Ford-Händlern im ganzen Land. Das meiste Geld kam durch Spenden von Gewerkschaftsortsgruppen zusammen; und auch die Gewerkschaft kam schließlich nach drei Wochen mit etwas Kohle rüber.

Je länger die Auseinandersetzung andauerte, um so mehr schlug die Desillusionierung der ehemaligen ArbeiterInnen über die Gewerkschaft in dauerhaften Zynismus um – kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Gewerkschaft die ehemaligen ArbeiterInnen weder unterstützte noch informierte. Viele meinten, ihre Convenors stünden den Gewerkschaftsbossen zu nahe oder unter ihrem Einfluss und könnten deshalb nicht mehr im Interesse aller agieren. An dieser Stelle wollen wir nur kurz anmerken, dass jede Gewerkschaftskritik erkennen muss, dass es nicht stimmt, dass die Gewerkschaft »ihren Job nicht richtig macht«, wie einige UnterstützerInnen und ArbeiterInnen meinten, sondern dass sie ihren Job als kapitalistische Institution nur zu gut macht. Sie hat wie immer in erster Linie nach ihren eigenen Organisationsinteressen gehandelt und versucht, für die ArbeiterInnen nicht mehr zu erreichen, als mit ihren eigenen Organisationsinteressen und den Interessen der Wirtschaft allgemein vereinbar ist. Nach wie vor bestehen enge politische und finanzielle Beziehungen zwischen den britischen Gewerkschaften und der Labour Party (und ehemalige Gewerkschaftsbosse werden oft mit einem Sitz im Oberhaus und dem dazugehörigen Titel belohnt). Solche Auseinandersetzungen zeigen, dass Gewerkschaften zu den Mechanismen gehören, mit denen die Finanzkrise für das Kapital gemanagt werden wird. Ein weiteres Beispiel dafür ist die 55-Prozent-Beteiligung der UAW-Gewerkschaft in den USA an Chrysler (dieser Deal enthält einen Streikverzicht bis 2015!).

Ein verbessertes Angebot kam, als die entlassenen Visteon-ArbeiterInnen drohten, Streikposten vor dem Werk in Swansea aufzuziehen – dem einzigen Werk von Ford UK, das noch voll ausgelastet und ein wesentlicher Teil ihrer Zulieferkette ist. Das brachte Ford an den Verhandlungstisch.

Möglicherweise hat auch die britische Regierung Druck auf Ford ausgeübt, ein verbessertes Angebot vorzulegen; denn wenn Ford-Visteon zum Präzedenzfall dafür geworden wäre, dass Firmen bei solchen Werkschließungen sämtliche finanziellen Verpflichtungen loswerden können, dann müsste der Staat sehr viel mehr Unterstützung an entlassene ArbeiterInnen zahlen. (Hingegen können ArbeiterInnen, die Abfindungen bekommen haben, solange keine Arbeitslosenunterstützung beantragen, bis dieses Geld ausgegeben ist – der Staat legt dabei fest, wie lange man »üblicherweise« von einer bestimmten Summe leben kann. Man kann also nicht einfach die Abfindung für ein dickes Auto und Ferien unter Palmen ausgeben und dann zum Arbeitsamt laufen und Geld beantragen. Leider …) Eine Rolle spielt vielleicht auch, dass Ford im Vergleich zu den anderen weltweiten Autokonzernen zur Zeit noch ganz gut da steht. Damit das auch so bleibt, wollen sie ihren jetzigen und zukünftigen Beschäftigten gegenüber den Ruf wahren, dass die Löhne gezahlt werden.

Der neue Deal war viel besser, individualisierte aber auch stark: nach Alter, Beschäftigungsdauer, offenen Hypothekenschulden, zukünftigen Beschäftigungschancen usw. Die Einzelheiten des Deals hatten die Convenors nur vorgelesen, eine handschriftliche Version der einzelnen Punkte bekamen nur ein paar Leute zu Gesicht. Die Gewerkschaft wollte möglichst schnell die Abstimmung über die Bühne kriegen, diesen bedauerlichen Fall von Arbeiterkampf hinter sich bringen und wieder zum glatten und sauberen bürokratischen Gewerkschaftsalltag zurückzukehren. Da war es wohl zu viel verlangt, den Deal abzutippen und allen ArbeiterInnen ein Exemplar auszudrucken, damit sie so gut informiert wie möglich über ihre eigene finanzielle Zukunft abstimmen konnten. Die Abstimmung wurde von der Gewerkschaft bewusst so arrangiert, dass Enfield und Basildon am Freitag, den 1. Mai abstimmten, während in Belfast, wo die Besetzung immer noch lief und das einen militanteren Ruf hatte, am Sonntag abgestimmt werden sollte. Man dachte, wenn Enfield und Basildon erst mal zugestimmt hätten, würde auch Belfast zustimmen. Der Deal wurde in allen Werken angenommen: in Enfield mit 178 zu 5, in Basildon mit 159 zu 0 und in Belfast mit 147 zu 34 Stimmen.

Nach der ersten Euphorie über die klare Zustimmung und den verbesserten Deal fragten sich die ArbeiterInnen, wofür genau sie eigentlich gestimmt hatten. Weil in den Monaten vor den Betriebsschließungen die Schichtmodelle geändert und kürzer gearbeitet worden war, wusste niemand genau, wie letztlich gerechnet werden würde. Nach genauerer Prüfung können die ArbeiterInnen den Deal zu Recht als Teilsieg sehen, für den sich der Kampf gelohnt hat: sie haben das Zehnfache des ursprünglichen Angebots herausgeholt. Nur eine kleine Gruppe von ArbeiterInnen – erst nach der Visteon-Ausgründung eingestellte »CCRs«8 – hatte keine Ford-, sondern schlechtere Arbeitsverträge und bekam daher niedrigere Abfindungen. Eine unnötige Spaltung, meinten einige ArbeiterInnen – sowohl CCRs als auch ehemalige Fordianer – und machten sowohl Ford-Visteon als auch die Gewerkschaftsbosse dafür verantwortlich; trotzdem gab es dicke Luft zwischen den ArbeiterInnen wegen der unterschiedlichen Bedingungen und der Tatsache, dass kein einheitlicher Deal durchgesetzt worden war. Schade, dass jetzt einige mit solchen Gefühlen aus dem Kampf herausgehen. Teilweise liegt das wohl daran, dass die ArbeiterInnen während des Kampfes nicht genügend regelmäßige Versammlungen abgehalten haben, um auf umfassender Information über alle Entwicklungen zu bestehen und alles gemeinsam zu diskutieren. In Enfield bildeten sich Cliquen aus Leuten, die immer an den gleichen Tore standen, es gab zu wenig Diskussion unter allen ArbeiterInnen.

Offene Fragen bleiben die Renten der ehemaligen ArbeiterInnen – dies wird in einem Gerichtsverfahren entschieden, das sich über zwei Jahre hinziehen könnte und das leider die bislang unfähigen (aber bestimmt teuren) Gewerkschaftsanwälte für die ArbeiterInnen führen. Sollte wenig dabei herumkommen, so erwarten die ehemaligen ArbeiterInnen, dass 60 bis 90 Prozent ihrer Betriebsrenten über eine staatliche Auffangmaßnahme abgedeckt werden. Die Betriebsrenten werden ab 58 gezahlt, die staatlichen Leistungen allerdings erst ab 65.

Rob Williams, ein militanter Convenor bei Linamar in Swansea, einer weiteren ausgelagerten Fabrik, die vorher zu Visteon gehörte, wurde wegen Unterstützung der entlassenen Ford/Visteon-ArbeiterInnen gefeuert. Als seine KollegInnen deswegen in den Streik traten, wurde er zunächst unter Auflagen wieder eingestellt, kurz danach aber endgültig entlassen. Seine ArbeitskollegInnen stimmen jetzt über einen Streik ab. Außerdem gibt es eine Unterstützungskampagne für ihn.9

Am Montag, den18. Mai beendeten die ArbeiterInnen nach 48 Tagen den Konflikt in allen drei Werken. Obwohl es nur ein Teilsieg ist, hat der Kampf große Bedeutung, trotz aller Begrenzungen und Schwächen. Die ehemaligen ArbeiterInnen haben mehr erreicht als zu erwarten war (besonders nach dem Ende der Besetzung in Enfield). Verglichen mit den meisten Arbeiterkämpfen der letzten 25 Jahre in Großbritannien war das Ergebnis ziemlich gut; und es macht anderen ArbeiterInnen in ähnlichen Situationen Mut.

 


Fußnoten:

1 Der (oder die) Convenor ist in großen Betrieben der Privatwirtschaft der oberste Gewerkschaftsfunktionär im Betrieb. Er/sie wird von den Vertrauensleuten, den Shop Stewards, gewählt und ist meistens zumindest teilweise freigestellt.

2 Video hier:http://libcom.org/news/video-visteon-factory-occupation-workers-go-bosss-house-08042009

3 Wir schreiben die ganze Zeit von »ehemaligen ArbeiterInnen«, weil sie ab der Pleite offiziell nicht mehr bei Visteon beschäftigt waren. Vor allem aber nannten sie selbst und die UnterstützerInnen sie so.

4 Siehe dazu: Ford Visteon Workers Occupation - an eyewitness account and first thoughts, Alan Woodward, CopyLeft, Gorter Press, c/o PO Box 45155, London N15 4SL.

5 Die HSG ist ein aus der Anti-Poll-Tax-Bewegung der 80er Jahre entstandener loser linksradikaler Zusammenhang im Londoner Bezirk Haringey, der sich mit verschiedenen Kampagnen zu Themen wie Mieten, Antifa, Überwachungsstaat und Schulden beschäftigt.

6 Der vollständige Text ist zu finden unterhttp://libcom.org/news/enfield-ford-visteon-occupation-ends-no-conclusion-10042009 .

7 Video hier:http://libcom.org/news/video-visteon-workers-eviction-enfield-14042009

8 Competitive Cost Rate – konkurrenzfähiger Kostensatz. So hießen die Verträge der nach der Ausgründung Neueingestellten offiziell.

9 Siehe http://libcom.org/news/swansea-union-convenor-sacked-supporting-fordvisteon-workers-28042009.



Artikel über Visteon /Dtld. in früheren Wildcats: Wildcat 70: Visteon – eine ganz normale Fabrik



aus: Wildcat 84, Frühjahr 2009



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