Wildcat Nr. 88, Winter 2010 []



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Beide Texte dieser Beilage
    - drehen sich um eine zentrale Frage: Nur die Arbeiterklasse kann die Revolution machen – aber warum hat sie sie nicht einmal 1918 in Deutschland gemacht? Und Loren Goldner fügt im Untertitel hinzu: Warum nicht 1789, 1848, 1871, 1905, 1917 oder 1968?
    - suchen die kommunistische Perspektive. Und auch wenn die Texte genau entgegengesetzte Positionen zur kapitalistischen Krise einnehmen – sie hat solche Fragen wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
    - regen produktive Debatten an, weil sie uns zwingen, unsere eigenen Überlegungen weiterzutreiben – und weil sie einiges zu diesem Prozess beizutragen haben. Wir wollen ihre unterschiedlichen Schwerpunkte und Einsichten, ihre Stärken in den Zusammenhang einer gemeinsamen Debatte stellen.

Das ist die dritte »theorielastige« Wildcat- Beilage in kurzer Zeit. Es ist die letzte. Denn wir wollen mehr. Theoriebildung ist wichtig in der aktuellen Phase. Das geht nur gemeinsam und in Zusammenhang mit praktischen Versuchen. Deshalb wollen wir eigenständige Broschüren/ Bücher veröffentlichen, die es nur im Abo gibt. Keine Chance, Leute, Ihr werdet sie in den Buchläden nicht finden! Wer lesen und mitdiskutieren will, muss abonnieren. Schreibt eine Mail an versand@wildcat-www.de mit »Theorieabo«.

ArbeiterInnen verlassen die Fabrik

Wie ist eine Revolution möglich, wenn »die« ArbeiterInnen sich in der Fabrik einrichten? Nur »Arbeit« sind und nicht »Klasse« – während überall das »Leiden an der Arbeit« zunimmt? Wer ist heute das Proletariat? Und wo haben die Kämpfe ihren Ort, wenn das Arbeiterviertel verschwunden ist? Dauvé/Nesic zeigen auf, wie sich 2009 aktuelle Ereignisse (Kämpfe gegen Betriebsschließungen, Boss-Napping) in Frankreich vom Klassen- standpunkt aus entschlüsseln lassen – und kommen dann auf ein heftiges Problem zu sprechen: Wie lässt es sich erklären, dass gleichzeitig große Arbeiterkämpfe in den französischen Überseegebieten laufen, und beide Auseinandersetzungen völlig getrennt voneinander stattfinden? Wie ist das möglich in Zeiten der Globalisierung und Herausbildung eines weltweiten Proletariats?

Gilles Dauvé hat uns das Heft zusammen mit einem Brief geschickt, in dem er auf die vielen Anregungen hinwies, die ihm die (englischsprachigen) Artikel auf wildcat-www.de über die weltweite Proletarisierung und das »Ende der Bauernfrage« gebracht haben. Trotzdem scheint uns, dass Dauvé/Nesic unsere Thesen zur globalen Proletarisierung nur »soziologisch« zur Kenntnis nehmen und die politischen Schlussfolgerungen nicht diskutieren. Die Krise des Kapitalismus interessiert sie nur, wenn sie eine von den Arbeitern bewusst betriebene Krise der Lohnarbeit ist. Dabei stellt sich ihr Klassenbegriff – nach richtigen Einwürfen zu neueren Diskussionen wie z.B. zum Prekariat/Kognitariat – als ziemlich »geschlossen« heraus. Sie stellen zwar immer die Frage, welche Kategorien der Klasse wie handeln, aber im Grunde suchen sie nicht in den realen Bewegungen, sondern in den Köpfen der ArbeiterInnen den Kommunismus. Die Diskussion um Klassenzusammensetzung oder die Zentralität bestimmter Kategorien (Facharbeiter, Massenarbeiter) in historischen Etappen kapitalistischer Produktion wird komplett ignoriert – z.B. Sergio Bolognas Kritik der facharbeiterzentrierten Rätebewegung. Der Arbeitsprozess selbst bleibt außen vor: zwar werden die OS [Massenarbeiter] am Fließband erwähnt, aber die Kooperation in der Produktion, wie sie die ArbeiterInnen entwickeln, ist für Dauvé/ Nesic kein Thema. Im Grunde verstehen sie den Antagonismus im Produktionsprozess nicht. Nach vielen Seiten Lektüre ist man am Ende etwas enttäuscht, doch nur mit der Frage konfrontiert zu sein, wie der Proletarier »an sich« zum Proletarier »für sich« kommt. Der Text gibt keine Hinweise auf hoffnungsvolle Neuansätze und keinerlei Hinweise, was wir selbst tun können. Ob Kämpfe revolutionär werden können, bleibt für Dauvé/ Nesic an einen möglichen kapitalistischen Boom gebunden, in dem die Arbeitskraft gebraucht wird und deshalb Macht entwickeln kann. Sie grenzen sich strikt von allen Strömungen ab, die auf eine »Selbstverwaltung« der ArbeiterInnen im Kapitalismus hinzielen. Ziel könne nur die »Vergemeinschaftung« sein, wie sie an den »griechischen Weihnachten« 2008 kurz aufgeblitzt sei. Hierin sehen sie wohl auch die Überwindung der nur quantitativen Beschreibung der Proletarisierungsprozesse. (Wir selber graben diesbezüglich in den Kämpfen entlang der globalisierten produktiven Kooperation – ebenfalls mit mäßigen Erfolgen.)

Die Autoren setzen sich mit allen gängigen Klassentheorien links der KP auseinander (allerdings findet sich keine Kritik bzw. Selbstkritik an eigenen, älteren Texten). Auch wenn man manchmal das Gefühl hat, sich in eine Spirale hineinzulesen: Der Text versucht so systematisch wie möglich, all diese Theorien der letzten 150 Jahre über die Arbeiterklasse durchzugehen. Man spürt regelrecht, wie dabei die gesamte linkskommunistische Tradition auf den Autoren lastet. Ihre Argumentation windet sich, lässt spüren, wie sie um die Sätze gerungen haben. Kaum ein Satz, der nicht mit einer Konjunktion oder Einschränkung (wenn – dann) beginnt. Sie versuchen, das festzuhalten, was klar ist, um sich (vorsichtig) neuen Einsichten zu öffnen. Während sie die Geschichte der »Arbeiterlinken« akribisch diskutieren, positionieren sie sich in der heutigen Debatte, ohne die Namen ihrer politischen Kontrahenten zu erwähnen. Die Bezüge wird also nur verstehen, wer in der französischen Debatte bewandert ist – der Vorteil ist, dass man den Text auch ohne Kenntnis dieser Debatte verstehen kann, und dass sie die Potenziale und Grenzen der Arbeiterkämpfe im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit halten. Zum Beispiel sehen sie die materielle Grundlage des Reformismus im Arbeiterverhalten: Solange diese was kriegen, ohne zu kämpfen oder ohne bestimmte Grenzen zu überschreiten, tun sie das auch nicht.

Im zweiten Text setzt Loren Goldner einen anderen Schwerpunkt. Die unterschiedlichen Sichtweisen werden z.B. am Verhältnis zum Reformismus deutlich. Goldner kritisiert scharf die »nichtmarxistische Linke«, sie habe »wiederholt eine essentielle Rolle dabei gespielt, den Kapitalismus für eine neue Akkumulationsphase umzugestalten.« »Das polemische Feuer des Weltsozialforums … richtet sich … nicht gegen die globalen Keynesianer Stiglitz, Sachs, Soros, Krugman usw., die zu den führenden Kandidaten für die Umgestaltung des Kapitalismus auf Kosten der Arbeiterklasse … gehören.«

Der historische Moment, der uns hervorgebracht hat

Loren Goldner gibt zusammen mit anderen GenossInnen seit Juni 2010 die Online-Zeitschrift Insurgent Notes heraus. Der vorliegende Text ist der opener der Nummer 1. Darin stellt Goldner die vergangenen Krisen in einen Zusammenhang, um die historische Bedeutung der aktuellen Krise zu fassen. Angemessen seine Verachtung in der Darstellung der Angriffe der letzten 30 Jahre, die auch das Denken und die Kultur durchdrungen haben. Er begreift diese Angriffe des Kapitals als Kampf gegen die Wirklichkeit: die globale Arbeiterklasse hat schon lange (produktive) Möglichkeiten, die weit über die kapitalistische Produktionsweise hinausgehen. Dieses »verkehrte« Potential ist der positive Fixpunkt, dessen Bedeutung hinter all der Zerstörung herausgearbeitet werden muss, denn das Kapital kann nur noch durch Rückentwicklung weiterexistieren. Statt die Zerstreuung von Produktion und ArbeiterInnen identitätspolitisch zu glorifizieren, müssen wir mit einem neuen – dem einzig möglichen – »universellen Projekt« den globalen »Gesamtarbeiter« (Marx) befähigen, die Gesellschaft zu revolutionieren. Logischerweise endet Lorens Text mit einer Art Übergangprogramm. Erstmal gut, dass er seine eigene Analyse so ernst nimmt, dass er ihre praktischen Konsequenzen aufzuzeigen versucht. Aber weder halten wir seine Vorschläge (Kernfusion!) für praktikabel, noch teilen wir seine Überzeugung, ein solches Programm sei für die nächsten Schritte dringend notwendig. Es geht aus der falschen Analyse hervor, revolutionäre Bewegungen wie z.B. in Argentinien seien immer am Fehlen eines solchen Programms gescheitert – stattdessen ist gerade Argentinien ein Beispiel dafür, wie die Klasse auch in Kämpfen ihre Zersplitterung nicht überwindet.



aus: Wildcat 88, Winter 2010



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