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20.09.2013

aus: Wildcat 95, Winter 2013/2014

Aus Anlass der Abschiebung von über hunderttausend ÄthiopierInnen aus Saudi Arabien in weniger als einem Monat veröffentlichen wir den zweiten Teil des Ägyptenartikels aus der aktuellen Wildcat.

Migrantenunruhen in Saudi-Arabien

Die Gesellschaften im arabischen Raum und dem Mittleren Osten sind seit 60 Jahren untrennbar über die Arbeitsmigration mit den wohlhabenden Ölförderstaaten (Persischer Golf und Libyen) und den Handelsmetropolen in der Levante verbunden. Jede Krise und jeder Krieg in dieser Region führte zu gewaltigen Wanderungsbewegungen. Nicht als »Kollateralschaden« außenpolitischer Auseinandersetzungen, sondern als Kern des Krieges der herrschenden Klasse(n) gegen die migrantischen ArbeiterInnen. Der Fortbestand dieser Ordnung hängt an einer feudalistisch anmutenden Spaltung zwischen einer einheimischen Ober- und einer ausländischen Unterschicht. 1

In der Wildcat 92 (»Natural born golfers...«) haben wir im Frühjahr 2012 die Frage gestellt, ob sich in den Bewegungen eine neue politische Klassenzusammensetzung herausbildet, die diese Spaltungen überwinden kann. Ansatzpunkte dafür sahen wir in den massenhaften Streiks von Wanderarbeitern auf Baustellen, vereinzelten Streiks in den neuen Industriezonen und den Kämpfen für Staatsbürgerrechte der dauerhaft in den Golfstaaten lebenden Einwanderer.

Die unterschiedlichen Konzepte des Gegenangriffs auf eine solche mögliche Klassenneuzusammensetzung verkörperten bisher Katar auf der einen und Saudi-Arabien, Kuwait und die Emirate auf der anderen Seite.

Katar ist ein immens reicher Kleinstaat, der sich vor inneren Unruhen relativ sicher fühlt. Im Verbund mit der Türkei forcierte Katar 2011 die Militarisierung des Aufstands in Libyen, um unter dem Banner der »Demokratie« eine neue »nationale« Elite an die Macht zu bringen und dem Potenzial des Aufbegehrens die Spitze zu brechen. Dieser Versuch ist nacheinander in allen Ländern von Libyen über Ägypten bis Syrien aus unterschiedlichen Gründen gescheitert. In der Folge davon musste der Emir von Katar Ende Juni zurücktreten; ebenfalls Ende Juni verlor die syrische Muslimbruderschaft an Boden, als Ghassan Hittos als Führer der Interimsregierung der Syrischen Nationalen Koalition durch den saudischen Statthalter Ahmed Assi Dscharba ersetzt wurde, und Mursi wurde durch das von Saudi-Arabien unterstützte Militär weggeputscht.

Saudi-Arabien als bevölkerungsreichstes und – auf die Einwohnerzahl umgerechnet – ärmstes Land des Persischen Golfs hat in den letzten Jahren mit wachsenden Unruhen migrantischer und zunehmend auch einheimischer ArbeiterInnen zu tun. Auch Saudi-Arabien hat massiv in die Aufstandsbewegungen eingegriffen – ausschließlich mit den Mitteln von Repression und Krieg. Das Schüren religiöser Feindschaften ist wesentlicher Bestandteil der saudischen Politik, sowohl nach außen gegen den »schiitischen Halbmond« vom Iran bis zum Libanon, als auch nach innen gegen die »fünfte Kolonne Irans« in der schiitischen Unruheprovinz im Osten Asch-Scharqiyya. Saudi-Arabien walzte die Proteste in Bahrain mit Panzern nieder und baute vom Irak bis nach Syrien reaktionärste Milizen auf, deren einziges Ziel es ist, konfessionelle Spaltungen zu erzeugen und die Länder in jahrelange Bürgerkriege zu verwickeln. So legt Saudi-Arabien einen Cordon Malaise um sich – Sicherheit durch Zerstörung.2

Die Eskalation in Syrien und im Irak hatte unmittelbare Folgen für die ägyptischen Migranten. In Saudi Arabien wurde ihnen immer wieder mit kollektiver Ausweisung gedroht – gerade in Zeiten, als die Revolte in der Heimat zu gestiegenem Selbstbewusstsein der Emigranten führte und es eine Reihe von Streiks ägyptischer Arbeiter in Saudi Arabien gab. Seit dem Militärputsch vom Sommer wurden 300 000 ägyptische Arbeiter aus dem Land geworfen – weitere 700 000 sollen in den nächsten Monaten folgen. Die Rücküberweisungen der Wanderarbeiter sind auf ein Sechstel des Stands von 2010 gefallen. Ägypten selbst wurde zudem Ziel- oder Transitland für viele Flüchtlinge und Migranten aus Libyen, dem Irak, Sudan, Somalia, Eritrea, Äthiopien usw. Inzwischen leben ca. 300 000 syrische Flüchtlinge in Ägypten.

Die jüngste Zuspitzung des Kriegs gegen die MigrantInnen in Saudi-Arabien lässt wenig Raum für Optimismus: Der massiven Gewalt haben die angegriffenen Menschen wenig entgegenzusetzen. Dennoch denken wir, dass sich Tendenzen zur Überwindung des Status quo andeuten:

  1. Die Erfahrungen der Migranten gleichen sich immer mehr an; es gibt immer weniger Sonderbedingungen einzelner Gruppen wie etwa Araber, Muslime o. ä.; Kämpfe richten sich oft gegen ihre eigenen Regierungen, auch in den Herkunftsländern selber.
  2. Viele WanderarbeiterInnen lassen sich nicht mehr pauschal einschüchtern und konnten im Gegenteil in vielen Bereichen just während der Repressionswelle Lohnerhöhungen durchsetzen, sei es durch kollektive Streiks oder individuell.
  3. Die Regierung muss die unteren Schichten der eigenen Bevölkerung angreifen und disziplinieren. Bislang ist es ihr kaum gelungen, die saudische Jugend zum Arbeiten zu bewegen, schon gar nicht zu den Bedingungen der Wanderarbeiter. Erstmals wird jetzt der Notstand außerhalb eines offenen Kriegs eingeübt.

Ende März ist ein neues Arbeitsgesetz in Kraft getreten, das saudische Staatsbürger in Jobs bringen soll, die bislang ausländische ArbeiterInnen gemacht haben. Fast 90 Prozent der Arbeiter in der Privatindustrie sind MigrantInnen, während im öffentlichen Sektor 90 Prozent Saudis arbeiten. Das Programm schreibt den Unternehmen eine Quote saudischer Beschäftigter vor, bei Nichteinhaltung drohen hohe Geldbußen. Zur Durchsetzung erhielt die Arbeitsbehörde weitgehende polizeiliche Befugnisse, sie kann Straßensperren errichten und Razzien durchführen. Die Regierung hatte das Gesetz durch verschärfte Repression gegen illegal Eingereiste vorbereitet – z. T. Menschen, die seit Jahren im Land leben oder auch dort geboren sind. Sie kommen vielfach aus dem Jemen oder aus Ostafrika, viele Illegale sind aber auch von ihrem Bürgen geflohen und haben sich schwarz andere Arbeit gesucht. Bereits im Jahr 2012 sind offiziell ca. 800 000 Illegale deportiert worden, 200 000 in den ersten drei Monaten 2013, Anfang April nochmal ca. 30 000. Trotzdem scheiterte das Gesetz zunächst am Widerstand der MigrantInnen und wurde verschoben. Am 4. November 2013 lief nun die letzte Frist für die WanderarbeiterInnen aus.

Widerstand

Das Gros der ImmigrantInnen ist strikt an ihren Arbeitgeber (den sogenannten Bürgen) gebunden, der für sie das Visum beantragt und oft ihren Pass einbehält. Durch die Quote und das Verbot des Arbeitsplatzwechsels wurden viele reguläre ArbeiterInnen zu »illegalen«. »Legalisieren« können sie sich nur mithilfe ihres Chefs. Manche Unternehmen konnten aufgrund der Quote keine neuen Papiere besorgen, viele wollten es auch nicht, zwangen die Arbeiter in die Schwarzarbeit und Illegalität – und zahlten in Erwartung ihrer Abschiebung monatelang keinen Lohn aus.

Die Verfolgungswelle hatte drastische ökonomische Auswirkungen: Geschäfte mussten schließen, im Hafen von Dschidda erschienen nur noch 200 von normal 1000 Hafenarbeitern, Schulen schlossen u. a. m.

Gleichzeitig gingen zehntausende von MigrantInnen nach Dschidda und Riad, um von ihren Botschaften Papiere und Geld für die Heimfahrt zu fordern. Tausende campierten öffentlich vor den Botschaften, so etwa über 2000 Philippinos. Es kam zu ersten Protestdemos. Mitte Mai stürmten 2000 Ägypter ihre Botschaft. Außerdem gab es Proteste in den Heimatländern: Im Jemen wurde wochenlang die saudische Botschaft belagert, auf den Philippinen gab es ein Protestcamp vor dem Auswärtigen Amt, in Ägypten Demos gegen die saudische Botschaft.

Deshalb wurde die Umsetzung des Gesetzes auf November verschoben. In der Zwischenzeit konnten sich annähernd vier Millionen ArbeiterInnen »legalisieren«, ca. eine Million verließ das Land.

Nach dem 4. November wurden innerhalb weniger Tage allein in Mekka 20 000 Menschen verhaftet; für das ganze Land ist keine Zahl bekannt. Straßensperren wurden errichtet, Betriebe durchsucht, ganze Stadtviertel eingekreist – vor allem die Slums, in denen viele afrikanische MigrantInnen leben. Die Folgen waren vorhersehbar und glichen denen im Frühjahr: Die Hälfte aller Baufirmen musste die Arbeit einstellen, der lkw-Transport brach zusammen, teilweise war die Lebensmittelversorgung gefährdet, grundlegende öffentliche Dienstleistungen wie Müll- und Abwasserentsorgung, Schulbetrieb u. a. kollabierten.

Der Widerstand der Migranten gewann eine neue Qualität. Im April hatten vor allem die Botschaften der Heimatländer im Fokus gestanden, nun wurden auch Streiks gegen die saudischen Unternehmer organisiert. In Mekka und Dschidda streikten tagelang tausende von ArbeiterInnen von Müllabfuhr und Krankenhausreinigung und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Auf einer Flughafenbaustelle streikten 400 ausländische Techniker und Ingenieure; im Verlauf des Streiks wurden Autos zerstört und Büros angegriffen.

In verschiedenen Städten gab es Riots, bis zu 50 Menschen starben und hunderte wurden verhaftet. Auslöser war der Generalangriff auf Menschen aus Afrika, der zum Teil von der Polizei ausgeführt wurde, zum Teil aber auch von saudischen und (nach einigen Berichten) von pakistanischen Jugendlichen, die Jagd auf dunkelhäutige Menschen machten, um sie der Polizei auszuliefern. Darin liegt vielleicht auch der tiefere Sinn, warum der Staat gerade so vorgeht. Vorbereitet hatte er die Pogrome mit öffentlicher Bestrafung ausländischer »Unruhestifter«, Hinrichtung von »Hexen« und absurden Maßnahmen wie einem »Homosexualitäts-Check« für einreisende Arbeitsmigranten.

Das offizielle Ziel, die vollständige »Saudisierung« des Arbeitsmarkts, ist unrealistisch. Für viele Stellen gibt es keine qualifizierten einheimischen Arbeitskräfte. Vor allem aber muss die Erwartungshaltung einer Generation grundlegend zerstört werden, die es als selbstverständlich erachtet, keine manuelle Arbeit zu verrichten und die komplette soziale Absicherung vom Staat zu bekommen. Deshalb lenkt der saudische Staat die zunehmende Unruhe in der eigenen Bevölkerung auf die »Fremden«, kriminalisiert diese und liefert sie der Willkür der Unternehmer und eines gelenkten Mobs aus.

Aber erst die Proletarisierung der Saudis könnte das Problem der Herrschenden längerfristig lösen. Dies ist aber schwer zu bewerkstelligen ohne tiefgehende Staatskrise und den kompletten Legitimationsverlust des Königshauses. Wenn der Dominostein Saudi-Arabien über seine »Migrantenfrage« fällt, wäre endlich die Perspektive für die Bewegungen im Mittleren Osten offen.

Fußnoten:

[1] Zu den MigrantInnen im Golfkrieg siehe ausführlich: Ferruccio Gambino, Migranten im Sturm. Entrechtete Arbeiter und Petrodollars am Persischen Golf, in: Midnight Oil. Arbeit, Energie, Krieg. MigrantInnen in den Ölregionen, Klassenzusammensetzung und der zweite Golfkrieg, Berlin 1992 (TheKla 17), zu beziehen über www.wildcat-www.de

[2] Cordon Sanitaire war ursprünglich ein Begriff der Gesundheitspolizei: Anlegung eines Isolationsgebietes um einen Seuchenherd. Später wurde damit die Schaffung von abhängigen Pufferstaaten zwischen Machtzentren bezeichnet. Mit »Malaise« soll der rein destruktive Charakter der saudischen Politik unterstrichen werden.

 
 
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