wildcat.zirkular

10.03.2020

aus: Zirkular 7, September 1994

Die Kritik des »Werts« kann nur die Weltrevolution sein!

Anmerkungen zum Vortrag von George Caffentzis und der Debatte um die sogenannte »Werttheorie«:

»Für Marx ist Arbeitswert eine politische These, eine revo­lutionäre Losung; nicht aber ein Gesetz der Ökonomie oder ein Mittel der wis­senschaftli­chen Interpretation gesellschaftlicher Phänome­ne.« (Mario Tronti: Marx, Arbeitskraft, Arbeiterklasse, in: The­kla 9, S. 173)

In seinem Vortrag »Maschinen können keinen Wert schaffen« (üb­er­setzt in diesem Zirkular) ver­sucht Caffentzis die politische Bedeutung herauszuarbeiten, die eine genaue Auffassung vom »Wert« hat. Er schildert uns seinen eigenen politi­schen und theo­reti­schen Werdegang − von der Zeit­schrift »Zero­work«1 über den neuen marxistischen »Fun­damentalis­mus« in den »Midnight Notes«2 bis zu seinen Erfah­rungen in Nigeria −, um die politische Dimen­sion der aufgeworfenen Frage klarzumachen. Die Frage nach dem Ursprung des »Werts« ist zugleich die Frage nach den poli­tischen Triebkräften der historischen Entwicklung und ihren Perspekti­ven. Es geht ihm darum, gegenüber den »Post-Modernisten«, der »kritischen Theorie« usw. an der Zen­tralität des Klassenkampfs festzuhalten. Wenn das Kapital auf die lebendige Arbeit als ein­zige Quelle von Wert angewiesen ist, dann zerplatzen alle harmoni­schen Vorstellungen von einer allmählichen Abschaffung des Mühsals der Arbeit durch das Kapital selber wie Seifen­blasen. Dann bleibt der Zwang zur Arbeit und seine Durch­setzung der zentrale politische Konflikt.

Damit hat Caffentzis eine Basis geschaffen, um die Debatte um den »Wert« aus seinem akademischen Dornröschenschlaf zu wecken. Auf der einen Seite sind sich die »marxisti­schen« Linken einig, daß der »Wert« irgendwie auf Arbeit beruht − die sogenannte »Marx'sche Arbeitswertlehre«. Auf der anderen Seite scheint diese Frage aber so un­wichtig zu sein, daß z.B. die ursprünglich als Weiterentwicklung des »Marxis­mus« begonnene Theorie der Regula­tion ohne großes Aufheben auf die Bestimmung des »Werts« durch die Arbeit verzich­ten kann. Daß sich die Regulationsschule damit theore­tisch auf die andere Seite der Barrikade begeben hat, wurde in den kritischen Anmerkun­gen im Zirkular 2 (Seite 20f.) zwar betont, aber nicht ausge­führt. Auch in den Wildcat-internen Diskussionen hat diese Frage in den letzten Jahren keine große Rolle gespielt und ich denke nicht, daß wir in der jetzt angelaufe­nen Zirkular-Debatte irgendeinen dogmati­schen Konsens á la »Arbeitswertlehre« unterstellen sollten. Mit solchen Unter­stel­lungen haben wir uns selber allzuoft um die Diskussion herumge­drückt − und entdecken dann immer wieder, daß es den behaupteten Konsens gar nicht gibt. Ich will anhand von Caf­fentzis und einigen anderen Beiträgen zu diesem Thema die Diskus­sion anregen. Dabei geht es mir vor allem darum, wie bestimmte Auf­fassungen vom »Wert« mit den jeweiligen politischen Vorstellun­gen zusammen­hängen. Dafür ist es notwendig, ein paar Punkte der Marx'schen Kritik der ökonomischen Kate­gorien anzudeuten. Wobei es mir hier gleichgültig ist, was Marx an anderen Stellen für einen Unsinn ge­schrieben haben mag (das Problem, Marx zu ver­teidigen, kennen nur religiöse »Marxi­sten«). Es geht nur darum, seine Kritik der ökono­mischen Kategorien wieder verständ­lich zu machen, nachdem sie in hundert Jahren Marxinter­pretation und Ideologisie­rung erfolg­reich in ein dogmati­sches Kategoriengebäude zurückver­wandelt wurde.

1. Der »Beweis« von Caffentzis

So wichtig die Fragestellung ist, die George Caffentzis aufwirft, so unbefriedigend bleibt seine Antwort − was möglicherweise mit seinen politischen Perspektiven zu­sammenhängt (siehe Punkt 4.). Ohne uns auch nur mit einem Satz zu sagen, was »Wert« ist oder sein soll, präsentiert Caffentzis eine scheinbar mathematische Herlei­tung, war­um Ma­schinen keinen »Wert« produzieren können. Daraus ergibt sich dann nach Caffentzis im Umkehr­schluß, daß nur mensch­liche Arbeit »Wert« produzieren kann. Schon da läßt sich fragen: Und die Millio­nen Kühe und Schweine auf der Welt − könn­ten sie nicht den vielen »Wert« produ­zieren? Das ist kein Witz − vor der Wertlehre von Adam Smith glaub­te man ganz ernsthaft, daß ausschließlich der Bodenertrag zur »Wert­schöpfung« beitrage (Physio­kraten). Oder könn­te sich das »Midnight Notes Collective«, das die große Bedeu­tung des Erdöls so genau untersucht und betont hat, nicht vorstellen, daß der »Wert« aus­schließlich aus Erdöl stammt? Schon dieser Hin­weis zeigt, daß der »Beweis« von Caffentzis gar nichts beweist − jedenfalls nicht, daß Arbeit die Quelle von »Wert« ist.

In seiner ganzen Beweisführung unterstellt Caffentzis schon Resultate der Marxschen Kritik des »Wert«, die alle darauf beru­hen, daß Marx zunächst zeigt, warum »Wert« nichts anderes als geronnene Arbeits­zeit ist: z.B. daß der Wert der Maschinerie an das Produkt weitergege­ben wird. Genausogut könnten wir sagen, daß sich der Wert der Ma­schine bei ihrem Ge­brauch aufzehrt und nur bei äußerst planmäßi­ger und schneller An­wendung der Maschi­nerie der Kapitalist die Chance hat, daß der mithilfe der Maschine neuproduzierte Wert größer als der in der Maschine enthal­tene Wert ist. Deswegen die vielen Schwierigkeiten mit den Arbeitern, weil sie die armen Maschi­nen daran hindern könn­ten, genügend neuen Wert zu produzieren usw.. Indem er den Unterschied zwi­schen einem von den Arbeitern und einem von Maschinen produzierten »Wert« durch das bei der Ma­schine fehlende Konflikt- und Kampf­verhältnis bestimmt, riecht er zwar, wo der Braten hängt. Aber er konzentriert seine »Beweisfüh­rung« nicht auf dieses soziale Verhält­nis, sondern argumentiert im Folgenden nur mit der Wert­größe, der Quantität des »Werts«, nicht seiner Qualität. Dabei unterstellt er nebenbei eine Idealmaschine, die von sich aus funktioniert und »Wert« produziert. Aber in der Wirk­lichkeit muß noch jede Maschine von Menschen/Arbeite­rInnen be­dient werden, bei diesen realen Maschinen könnte das Arbeiterverhal­ten also sehr wohl die Wertproduktion auch dann beeinflussen, wenn der Wert selbst nur aus der Maschine stammt. Mit anderen Worten, er widerlegt nur die Existenz dieser Idealmaschine, so wie es die Ther­modyna­mik tut, worauf er sich bezieht.

Und wieso soll der Faktor r, der den Grad der maschinellen Wert­produktion ausdrückt, zwischen null und eins liegen? Genauso gut könnte er zwischen 0 und 0,0001 liegen in ei­ner überzeugenden Theo­rie der maschinellen Wertschöp­fung. Die bürgerliche Wirt­schafts­theo­rie, die an die Stelle der Arbeitswertlehre die Theo­rie der ver­schiede­nen Produktionsfaktoren (Kapital, Arbeit und Boden) gesetzt hat, kann in ihren mathemati­schen Modellen die Beiträge dieser drei Faktoren zum Gesamtwertprodukt einigerma­ßen plausibel berechnen. Es kom­men weitere, empirische Unter­stellungen hinzu. Bei nur 25 Zyklen hätten wir schon das zehn­fache an Wert. Die Wörtchen »schnell« und »zehnfach« klingen beeindruckend, aber was besagen sie in der Wirk­lichkeit? Die durch­schnitt­liche Maschi­nen­nut­zungs­zeit liegt bei 10-20 Jahren, das macht bei 25 Zyklen über 250 Jahre. Mal ganz abge­sehen davon, daß es damals die hier in Rede gestellten Maschinen noch gar nicht gab − hat sich denn die Wert­summe in dieser Zeit nicht tat­sächlich ver­zehnt­facht?

Der »Beweis« von Caffentzis bleibt tautologisch, d.h. er leitet etwas her, was bei der Herleitung schon still­schweigend voraus­gesetzt wird. Setzte ich die Wertbestim­mung durch Arbeit voraus, so machen seine Aussagen einen Sinn; wenn nicht, dann »beweisen« seine Ausführungen auch nichts. Es zeigt sich daran nur die Unsinnigkeit, durch quanti­ta­tive Betrachtungen die besondere Qualität einer Sache bestimmen zu wollen. Auf der rein quantitativen Ebene ist der bürgerlichen Vulgär­ökonomie, für die es keine Aus­beutung und daher keinen Klassen­antagonismus gibt, nicht beizukommen.

2. Der »Wert« – eine gespenstige gallertartige Substanz

In der Linken hat sich die Behauptung, daß der Wert einer Ware die Menge der in ihr enthaltenen Arbeit ausdrücke, entweder als unhin­terfragtes Vorurteil festgesetzt − oder es interessiert gar nicht. Daher war ich überrascht, aus­gerechnet in einer Publikation der VSP einen Artikel zu finden, der die verbreitete linke »Wertlehre« gründlich kritisiert.3 Überrascht war ich, weil diese Kritik eigent­lich zu radikale­ren politischen Schlußfolgerun­gen führen müßte, als wir sie aus der praktischen Politik der VSP kennen. Wir werden sehen, wie sich der Artikel von Thaler an dieser Konsequenz vorbeidrückt.

Zunächst räumt Thaler ganz richtig mit der Vorstellung auf, die Idee, daß der Wert auf Arbeit beruht, stamme von Marx. »Wir sehen jetzt, daß Marx den Wert nicht (...) »entdeckt« hat, sondern daß er erkannt hat, daß sich in dem Begriff ein gesellschaftliches Verhältnis nieder­schlägt, wel­ches durch seine Erschei­nungsformen verschlei­ert wird. Das ist auch von vielen MarxistInnen nicht verstanden worden, die in Marx den Be­gründer der Arbeitswerttheorie erkennen wollen oder, noch schlim­mer, ihm die For­mulierung eines »Wertge­setzes« zuschreiben, als habe er uns ein Glaubens­bekenntnis verordnet. Blan­ker Unsinn, Marx hat gesell­schaftliche Prozesse analysiert und gezeigt, in welchen Begriffen diese not­wendig vorgestellt werden. Er hat erstmals den Wert als eine Kategorie verstanden, in der das gesell­schaftliche Bewußtsein den ihm verborgenen Produktionszusammen­hang erfaßt. Der Wert ist inso­fern ein ideologischer Begriff, als er Ausdruck eines falschen Bewußtseins ist, dem die Verhältnisse unter den Menschen als Eigenschaften der Dinge erscheinen. Indem Marx den ideologischen Gehalt des Begriffs bloßlegt, entdeckt er uns zu­gleich den darin aufgehobenen wah­ren Produktionszusam­menhang.« Marx geht nicht vom Wert, sondern von der Ware aus, weil sich der Reichtum in kapitalistischer Gesell­schaft als ungeheure Warenansammlung darstellt. Er zeigt dann, daß die Beson­derheit von Gebrauchsgegenständen Ware zu werden, eine bestimmte historische Form ist, in der sich die Menschen auf die Produkte ihrer Arbeit beziehen, also ein soziales Verhältnis ausdrückt. Der »Wert« der Ware kann dann nur die abstrakte und verdinglich­te Vorstellung dieses sozia­len Verhältnisses sein. Dies ist das entschei­dende Argu­ment gegen die Vorstellung, Maschi­nen könnten »Wert« produzieren. Maschinen gehen keine sozialen Beziehungen ein, sie dienen der Herstellung von Gebrauchswerten − egal, ob diese sich später als Waren darstellen, vom Ar­beiter direkt konsumiert werden oder einem Feudalherren abgetreten werden. Maschinen können stofflichen Reichtum produ­zieren, so wie die »Natur« es auch tut − aber sie produzieren keine sozialen Beziehungen zwischen den Men­schen. Das können diese nur selber tun − auch wenn es den einzelnen in ihrem Alltag so erscheint, als würden sie von Dingen und in der Arbeit von Maschi­nen beherrscht.

Die Frage ist nun aber, welches bestimmte soziale Verhält­nis sich in der Form der Ware und dem »Wert« ausdrückt. An diesem Punkt verläßt Thaler den zunächst eingeschlage­nen kritischen Weg. Er sagt, daß die Ware nicht ein Ding ist, »sondern daß Dinge zu Waren wer­den, indem wir sie als solche behandeln«. Diese allgemeine Reflexionsbezie­hung muß festgehalten werden, aber sie sagt noch nichts über die Besonderheit der Ware aus. Auch ein Tisch wird nur dadurch Tisch, daß wir ihn als solchen (und nicht als Brennholz) behandeln. Als zweites führt er die Arbeitsteilung ein. Mit zunehmen­der Arbeits­teilung »stellt sich aber die Frage nach den Regeln und der Form des nun notwendigen gesellschaftlichen Austausches«. Diese Re­geln können völlig unterschiedlich sein − gemeinsamer Konsum im Kollektiv, Tausch zwischen einzelnen, Sklaven­arbeit. Aus der Arbeitsteilung geht immer noch nicht her­vor, warum sich die Produkte als Waren darstellen sollten und was die besondere Qualität des »Werts« ist. In seiner Not bringt Thaler das Geld ins Spiel: »Der Übergang zur Waren­produktion wird von der Gesellschaft nicht mit Bewußtsein vollzogen, son­dern durch das Eindringen des Geldes in den internen Austausch bewirkt (...)« Damit scheitert Thaler dann endgültig an seiner Fra­gestellung, ähnlich wie Caffentzis. Denn Geld ist nur die abstrakteste Form von Ware, die allgemeine Ware, die sich mit allen anderen Waren austauscht. Er erklärt also die Ware durch die Ware! Thaler hält zwar richtig fest, daß die Warenform und der Wert eine gesellschaftliche Beziehung zwischen den Menschen in verdrehter Weise zum Ausdruck bringen, aber er kann nicht sagen, welche Beziehung unter den Menschen es ist. Zufall?

Die vorhergehende Ausgabe des SoZ-Magazins hatte sich die Frage nach dem »Sinn der Arbeit« gestellt und eine »sozialistische Emanzipation der Arbeit« gefordert. Der einleitende Artikel schließt mit der Forde­rung nach einer »emanzipatorischen Perspektive der Gestal­tung von Technik und Arbeitsorgani­sation« und im weiteren wird nach den Gefahren und Chan­cen, den Vor- und Nachteilen der Grup­penarbeit gefragt. Marx hatte sich über diese Vorstellungen einer »Befreiung der Arbeit« lustig gemacht und sie als Illusion zurückge­wiesen. »Nicht allein das Privateigentum als sachlichen Zustand, das Pri­vateigentum als Tätig­keit, als Arbeit, muß man angreifen, wenn man ihm den Todesstoß versetzen will. Es ist eines der größten Mißverständnisse, von freier, mensch­licher, gesellschaft­licher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigen­tum zu sprechen. Die ›Arbeit‹ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmensch­liche, ungesell­schaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigen­tum schaffende Tätigkeit.« (Karl Marx, Über F.Lists Buch »Das nationale System der politischen Ökonomie«, S.25 − dieser Gedanke taucht bei Marx immer wieder auf. Ich weiß, es gibt eine Reihe von Stellen, die auch anders gelesen wer­den können, aber es geht mir hier nicht um Marx-Exegese, sondern um die innere Konsequenz der Kritik, und in die paßt nur seine Ablehnung der »freien Arbeit«, nicht ir­gendwelche anthropologi­schen Bemerkungen zur Bedeutung der Arbeit für »die« Men­schen.) Viel­leicht kann Thaler auf­grund dieses positiven Bezugs seiner Partei auf die Arbeit trotz gründlichem Marx-Studi­um nicht zum wesentli­chen Gehalt der Kritik vordringen.

Das bestimmte soziale Verhältnis, das sich in der Ware ausdrückt, sind die sozialen Beziehungen, die die Menschen in der Arbeit zueinander eingehen (und nicht erst ihr Verhalten auf dem Markt als Warenbesitzer, Käufer und Verkäufer!). Was Marx von der politischen Ökonomie trennt ist die Beziehung, die er zwischen dem Doppelcharakter der Ware (Gebrauchswert und Tausch­wert) und dem Doppelcharak­ter der Arbeit her­stellt: konkrete, nützliche Arbeit und allgemein-mensch­liche, abstrakte Arbeit. Im ersten Kapitel des »Kapitals« sieht es so aus, als würde Marx die ab­strakte Arbeit aus der Abstraktheit des Werts »ableiten«, d.h. als ergäbe sich diese Bestimmung und Kategorie durch eine Schlußfolgerung aus der Ware. Im Unterschied zu den diversen »Ableitungs­schulen« verwech­selt Marx nie den logischen Entwicklungsgang in der Darstellung mit der Wirklichkeit. Einen Sinn macht der »Schluß« auf die abstrakte Arbeit nur, weil es sie wirklich gibt, weil sie ihm als ein ungeheures gesellschaftliches Phänomen aufgefallen war. Er hatte es bei dem neuen Indu­strieproletariat gesehen, wie scheißegal und fremd ihnen die Arbeits­tätigkeit war. Und ihm war klar, daß er erst auf­grund dieses lebendi­gen Gegen­satzes der ArbeiterInnen gegen die Arbeit enthüllen konnte, was sich hinter diesem mystischen Begriff »Wert« verbirgt. Aber diese reale Abstraktheit der Arbeit stellt er erst in späteren Kapiteln dar. Im ersten Kapitel »Die Ware« untersucht er sowieso nur die allgemeine Form der Ware, er kommt hier noch nicht zu ihrem voll­ständigen Begriff. Den faßt er erst im letzten Abschnitt des dritten Bandes zusammen:

»Es sind zwei Charakterzüge, welche die kapitalistische Produktions­weise von vornherein auszeich­nen. Erstens: Sie produziert ihre Pro­dukte als Waren. Waren zu produzieren, unterscheidet sie nicht von andern Produktionswei­sen; wohl aber dies, daß Ware zu sein, der beherrschende und bestimmende Charakter ihres Produkts ist. Es schließt dies zunächst ein, daß der Arbeiter selbst nur als Warenver­käufer und daher als freier Lohnarbeiter, die Arbeit also überhaupt als Lohnarbeit auftritt. (...) Das zweite, was die kapitalistische Produktionsweise speziell auszeichnet, ist die Produktion des Mehrwerts als direkter Zweck und bestimmendes Motiv der Produktion.« (MEW 25, S. 886f.)

Die »ganze Wertbestimmung und die Regelung der Gesamt­produktion durch den Wert« ergibt sich erst aus dem Charakter der »Ware als kapitalistisch produzierter Ware« (ebd.) Die im allerersten Satz des »Kapi­tals« aufgeworfene Frage, warum der gesamte Reichtum als »unge­heure Warenansammlung« erscheint, kann also erst beantwortet werden, wenn die kapitalistische Ware betrachtet wird, und deren Wert enthält nicht nur abstrakte Arbeit, sondern Mehrarbeit, Arbeit für andere, die Arbeit einer Klasse von Proletariern für eine Klasse von Kapitalisten. Das ist das bestimmte soziale Verhältnis, daß die Ware dort enthält, wo sie zum allgemeinen Kennzeichen der Reichtums­produk­tion geworden ist. Deshalb betont Marx, daß allgemeine Wa­renproduktion erst da existiert, wo die Arbeitskraft selber zur Ware geworden ist. Arbeitskraft als Ware bedeu­tet, daß ich mein Arbeitsver­mögen verkaufen muß, um leben zu können − d.h. die gesamten Reproduktiz07wert2onsmittel (Wohnung, Nah­rung, Kleidung, Haushaltsgeräte, Fernse­hen usw.) muß ich ein­kaufen. Dafür muß ich mein Leben lang mein Arbeitsvermögen gegen Geld anderen zur Verfügung stellen. Dies beinhaltet ein zweites: Daß den Arbei­tenden die konkrete Arbeit völlig gleichgültig wird uns sie ihr fremd gegen­über­stehen. Denn die Güter, die sie herstellen, produzieren sie nicht für sich. Sie arbeiten nur für Geld, mit dem sie sich dann andere Güter kaufen. Erst in einer solchen Gesell­schaft wird die Arbeit wirklich abstrakt, gleiche unter­schiedslose menschliche Arbeit. Das bestimmte soziale Verhältnis, das im Kapita­lismus im ökono­mischen Begriff des »Werts« abstrakt und verkehrt zum Ausdruck kommt, ist daher die Ausbeu­tung anderer durch den allgemeinen Arbeitszwang. Die Arbeit als solche ist es, die damit in den Mittel­punkt der Kritik rückt. Ohne die Arbeit abzuschaffen, ohne eine Gesell­schaft zu begründen, in der die Beziehungen der Menschen unter­einander nicht mehr durch ihre Stellung zur Arbeit reguliert werden, wäre nichts gewonnen, würden die Mystifikationen »Wert«, »Geld« und »Kapital« immer wieder aufs neue entstehen.

Es ist also kein Zufall, wenn die »Freunde der Arbeit« von der VSP und anderen linken Parteien, nicht zu einer Kritik des Wertbegriffs vordringen. Dasselbe gilt übrigens auch für Robert Kurz, der sich als Wiederbeleber der Marxschen Kritik sehen möchte, aber in Wirklich­keit an dieser Fetischi­sierung des Wertbegriffs mit­strickt, wenn er z.B. in soziolo­gischem Jargon von der »Wa­renform« als »gesell­schaftlicher Basisform« spricht. An der Ware ist nichts »Basis«, sie ist reine Mystifi­kation des grundlegenden Ausbeu­tungs­verhältnisses, das die Existenz der antagonistischen Klassen voraussetzt. Seine Kritik der »Waren­form« bleibt auf der Ebene dieser ersten dürren Analyse der Ware im ersten Kapitel des »Kapitals« und gelangt daher nicht zur Kritik der kapitalistischen Ware. Weil er nicht kapiert, daß »Ware« und »Wert« keine andere »Basis« als den Zwang zu ab­strakter und allgemeiner Arbeit, also Arbeit überhaupt, haben, mag er auch nicht von der Arbeit als dem eigentli­chen Skandal dieser Gesellschaft spre­chen, sondern hält sich ein Hintertür­chen offen. In jüngsten Publika­tionen schleicht er dann durch dieses aus dem revo­lutionären An­spruch hinaus und in die grün-alternative Idylle der »kleinvernetzten Re­produk­tionsformen« hinein − während sich das Proletariat mit Entset­zen von diesem neugetünchten Arbeitszwang abwendet. Noch schlim­mer wird's, wenn Kurz mit seiner »Waren­kritik« dem VW-Manage­ment ideologisch unter die Arme greift, indem er dessen Plan zur Intensi­vie­rung der Arbeit durch die soge­nannte »Vier-Tage-Woche« in der »konkret« als bahnbrechenden Einstieg in die Arbeitszeit­verkür­zung feiert. Noch nicht einmal die Tatsache, daß die ArbeiterInnen bei dieser Entschei­dung kein Wört­chen mitreden durften, hat ihn stutzig gemacht.

Angesichts seiner politischen Schlußfolgerungen wenden sich auch frühere Anhänger der Theorieproduktionen der »krisis«-Gruppe von Kurz ab. Dabei übersehen sie meistens, daß diese katastrophalen politi­schen Vorschläge keineswegs Ausrutscher einer ansonsten revo­lutionären Theorie sind, sondern sich allesamt sehr gut mit seiner Verball­hornung der Kritik der politi­schen Ökonomie vertragen. Wenn die Arbeit nicht im Mittel­punkt der Kritik steht, sondern die allgemein­ste gesell­schaftli­che Erscheinungsform, die Ware, unter der die zarten kulturkritischen Seelen der Bourgeoisie ebenso leiden wie die Arbeite­rInnen, dann gibt es keinen Klassenkonflikt mehr (bzw. hinter den Vermittlungsformen wie Gewerkschaft, Sozialstaat, Arbeitsrecht usw. kann kein An­tago­nis­mus mehr gesehen werden), und es bleibt nur der Intellektu­elle und damit tendenziell die bürgerliche Bünd­nispolitik als histori­sches Subjekt übrig. Denen muß man natür­lich mit solchen realitäts­tüchtigen, politikfähigen Vorschlägen kom­men, wie der Wie­derentde­kung der Alterna­tivökonomie oder dem genialen Coup des VW-Mana­gements − denn sonst drohe uns: ein »Bürger­krieg«. So hat die bür­ger­li­che Intel­ligenz schon immer ihre Furcht vor der rohen Ge­walt des Proletariats, vor der revolutionären Drohung, ausge­drückt.

3. Die »New Enclosures«, der »Wert« und die politischen Perspekti­ven der »Midnight Notes«

Im Vergleich zu den angesprochenen deutschen Linken sind sich Caffentzis und die »Midnight Notes« über das Klassenverhältnis als dem grundlegenden Ausgangspunkt jeder Kritik der ökonomischen Kategorien völlig im klaren. Mit seiner Kritik der Vor­stellung, Maschi­nen könnten Wert schaffen, will Caffentzis den Blick auf das Phäno­men der »New Enclosures« lenken, d.h. einer neuen Phase der »Ein­zäunung« von Land, der Losreißung der Produzenten von ihrem unmittelbaren Produktionsmittel, dem Boden. Überall auf der Welt toben heute neue Kämpfe um Land: in China, Südafrika, Brasilien, Mexiko ... Die Härte der Konfrontation dieser Kämpfe mit dem inter­nationalen Kapital liegt darin, daß nur die lebendige Arbeit den Wert, sprich die Profite des Kapitals erzeugen kann. Die gewaltsame Losrei­ßung der Menschen von ihrem Boden, die Zer­störung des gemein­schaftlichen Bodenbesitzes im Dorf ist heute weltweit genauso existen­tiell für eine kapitalistische Entwicklung, wie es die Einzäunung von Land und die Vertreibung der Kleinbauern seit dem 14. Jahrhundert für die Entstehung des Kapitalis­mus in England war (was Marx im 24. Kapitel, in dem er die Vorstellung einer »ur­sprünglichen Akkumula­tion« kritisiert, beschrieben hat).

1990 veröffentlichten die »Midnight Notes« den Artikel »Die neuen Enclosures«4, der ausgehend von dieser Beobachtung eine globale revolutionäre Strategie entwirft. Wir fanden den Artikel damals auch deswegen wichtig, weil er in einer verbreiteten linken Ohnmachts­stimmung angesichts des historischen Bruchs der »oppositionellen Blöcke« gerade daran die neuen Möglichkeiten von Weltrevolution aufzeigt. Wir hatten dem Artikel zwar einige kritische Bemer­kungen vorangestellt, ihn aber nicht gründlich diskutiert. Uns fehlte der Mut, mit ihm oder in einer Dis­kussion um ihn in den hiesi­gen Debat­ten auf eine globale revolutionäre Perspektive zu drän­gen. Der Vorschlag von Karl-Heinz Roth und sein Versuch, in den unterschiedlichen Situatio­nen auf der Welt das gemeinsame Drängen nach Revolution auszuma­chen, ist auf mehr Resonanz gestoßen. Der Entwurf der »Midnight Notes« von 1990, dessen Ideen im Vortrag von Caffentzis wieder auftauchen, hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem von Roth. Wie er suchen sie nach den gemeinsamen Erfahrungen und Konfrontationen der ProletarierInnen auf der Welt, um eine materielle Basis für einen gemeinsamen Prozeß von Weltrevolution bestimmen zu können. Dazu weiten sie den Begriff der »Enclosure« über seine unmittelbare Bedeu­tung (Losreißung vom Boden) aus und fassen unter ihn den Angriff auf alle Formen von Existenzgarantien: auf die Subsistenz (3. Welt), auf die »sozialistischen Rechte« (2. Welt) und auf die »sozialen Rechte« (1. Welt). Darin sehen sie die gemeinsamen und ver­einigenden Erfahrungen der Proletarie­rInnen in den drei Welten. Lassen wir einmal die jeweils besonderen Terminologien (»Enclosure« etc.) beiseite, dann ist dieser Versuch nicht so weit von dem von Roth entfernt. In der Debatte um den neuen Text von Roth sollte er mit aufgenommen werden und ich denke, daß sich in der Auseinandersetzung mit ihm einige Fragen genauer diskutieren lassen. Dazu nur ein paar Anmer­kungen:

In den kritischen Vorbemerkungen hatten wir darauf hingewiesen, daß bezeichnender­weise kein einziges Mal die Frage der »Verwer­tung« und die Frage der Macht der ProletarierInnen im Inneren des Kapitals im Text der »Midnight Notes« auftaucht. Ich sehe darin auch den Grund für die Oberflächlichkeit und Tautologie des »Beweises« von Caffentzis. Es geht ihm nicht darum, den Wert selber als prozes­sierenden Antagonismus, als verdinglichte Kategorie des zugrundelie­genden Klassenkonflikts zu fassen, sondern nur darum, die Wichtig­keit des kapitalistischen Zugriffs auf lebendige Arbeit zu betonen, also den Prozeß der Trennung der Produzenten von ihren Produktions­mitteln. Dafür reicht die Aussage, daß Maschinen keinen Wert produ­zieren aus; welche Prozesse, Kämpfe in der Produktion des Werts enthalten sind, ist für diesen Konflikt der Los­trennung von den un­mittelbaren Produktionsmitteln unwesentlich.

Auf der einen Seite versuchen die »Midnight Notes« den Begriff der »Enclosure« so weit zu fassen, daß alle Formen proletarischer Kämpfe hineinpassen, auf der anderen Seite schwingt der ursprüngliche Be­griff der Enclosure immer mit, wodurch der Konflikt im Inneren des Kapitals und sein politischer Stellenwert für die Machtfrage übersehen wird. Wenn Marx betont, daß erst die Abhängigkeit des Kapitals in seinem Produktionsprozeß von der Arbeiterklasse die Möglichkeit einer weltweiten Überwindung des Kapitals eröffnet, dann ist das immer wieder falsch verstanden worden. Als sei damit etwas über die politische Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der verschiedenen Konflikte ausgesagt, oder als habe Marx damit die Durchsetzung des Kapitalis­mus an allen Punkten der Erde zur Voraussetzung der Weltrevolution gemacht. Dieses Mißverständnis schleicht sich auch in dem Text der »Midnight Notes« ein, wenn sie zu seiner Darstellung im 24. Kapitel schreiben: »Folglich sind alle die Leiden und Morde, das "Blut und Feuer" der alten Enclosures unver­meid­lich und letztlich histo­risch gut, weil sie »die Auflösung des Privateigen­tums, das auf der Ar­beit seines Besit­zers beruht« vollen­den.« (S. 48) Marx wollte nicht sagen, ob dieser Prozeß gut oder schlecht oder aus irgendeinem allgemeinen geschichtsphilosophischen Prinzip heraus notwendig ist. Er ging von diesem realen Prozeß aus und fragte sich, welche Möglichkeiten sich damit für einen revolutionä­ren Bruch mit der kapitalistischen Produktionsweise ergeben. Mit diesem Mißverständnis, das er durch seine eigenen Formulierungen nahegelegt haben mag, mußte er sich schon zu seiner Zeit ausein­ander­setzen.

Im Oktober 1877 erschien in der russischen Zeitschrift »Otetschestwen­nyje Sapiski« ein Artikel des Volkstümlers Michailowski, in dem er Marx vorwirft, er habe im Kapital − im 24. Kapitel über die sogenann­te ursprüngliche Akkumulation − behauptet, jedes Land müsse zwangs­läufig zuerst die Phase der gewaltsamen Lostrennung der bäuerlichen Produzenten von ihren Produktionsmitteln und den Eintritt in die kapitalistische Produk­tionsweise durchmachen, bevor es zu einer revolutionären Entwicklung kommen könne. Marx schrieb daraufhin eine Erwiderung an die Redaktion der Zeitschrift, in der er den histo­rischen Stellenwert des 24. Kapitels betont, sich gegen jedes starre, philosophische Phasenschema der Entwicklung verwahrt und aus­drücklich der da­mals in Rußland von Tschernyschewski formulier­ten Position anderer Entwicklungsmöglichkeiten zustimmt: »Dieser [Tschernyschewski] hat in bemerkenswerten Artikeln die Frage behan­delt, ob Rußland, wie die liberalen Ökonomen verlangen, mit der Zerstörung der Bauerngemeinde anfangen und dann zum kapitalisti­schen Regime übergehen muß, oder ob es im Gegenteil, ohne die Qualen dieses Systems durchzuma­chen, sich alle Früchte desselben aneignen kann, indem es seine eignen geschichtlich gegebenen Vor­aussetzungen weiterentwickelt. Er spricht sich in diesem letzteren Sinne aus.« Danach versucht er, den Stellenwert seiner Aussagen im Kapital zu klären: »Das Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation will nur den Weg schil­dern, auf dem im westlichen Europa die kapitalistische Wirt­schafts­ordnung aus dem Schoß der feudalen Wirt­schaftsordnung hervor­gegangen ist. Es stellt also die geschichtliche Bewegung dar, die, indem sie die Produzenten von ihren Produktionsmitteln trennte, die ersteren in Lohnarbeiter (Proletarier im modernen Sinne des Wor­tes) und die Besitzer der letzteren in Kapitalisten verwandelte. (...) Am Schluß des Kapi­tels wird die geschichtliche Tendenz der Produktion auf folgendes zurückge­führt: daß sie ›mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation erzeugt‹, daß sie selbst die Elemente einer neuen Wirtschaftsord­nung geschaffen hat, indem sie gleichzeitig den Produktivkräften der gesell­schaftlichen Arbeit und der allseitigen Entwick­lung jedes individuellen Produzenten den größten Aufschwung gibt, daß das kapitalistische Eigentum, das in der Tat schon auf einer Art kollektiver Produktion beruht, sich nur in gesellschaftliches Eigentum verwandeln kann. An dieser Stelle liefere ich hierfür keinen Beweis, aus dem guten Grun­de, daß diese Behaup­tung selbst nicht anderes ist als die summarische Zu­sammen­fassung langer Entwick­lungen, die vorher in den Kapiteln über die kapitali­sti­sche Produktion gege­ben worden sind.

Welche Anwendung auf Rußland konnte nun mein Kritiker machen von dieser geschichtlichen Skizze? Einfach nur diese: Strebt Rußland dahin, eine kapitalistische Nation nach westeuropäi­schem Vorbild zu werden − und in den letzten Jahren hat es sich in dieser Richtung sehr viel Mühe kosten lassen −, so wird es dies nicht fertig bringen, ohne vorher einen guten Teil seiner Bauern in Proletarier verwandelt zu haben; und dann, einmal hin­eingerissen in den Wirbel der kapitalistischen Wirtschaft, wird es die un­erbittlichen Gesetze dieses Systems zu ertragen haben, genauso wie die anderen profanen Völker. Das ist alles. Aber das ist meinem Kritiker zu wenig. Er muß durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksals­mäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden, um schließlich zu jener ökonomischen Formation zu gelangen, die mit dem größten Aufschwung der Produktiv­kräfte der gesellschaftlichen Arbeit die allseitigste Entwicklung des Menschen sichert. (...)« Marx erwähnt dann kurz die Entwicklung der Plebejer im alten Rom, deren Trennung von ihren Produktionsmitteln nicht wie bei dem gleichartigen Prozeß im 16. und 17. Jahrhundert zur Heraus­bildung einer kapitalistischen Produktionsweise führte. »Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander ver­gleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemei­nen geschichtsphilosophi­schen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.« (MEW 19, S. 108ff., Hervorhebungen von mir)

Die »Midnight Notes« ziehen eine direkte Linie zwischen Marx' angeblichem »Guthei­ßen« der Enclosures zu den Entwicklungsdiktaturen sozialisti­scher Natio­nal­bourgeoisien, die selber den Prozeß der Lostrennung vom Land betrieben und beschleu­nigt haben. Gegen solche Entwick­lungsregimes hat Marx im Fall von Rußland aber ausdrücklich seine Stimme erhoben und auf die Bedeutung von Kämpfen gegen die Enclosures für die Einleitung eines weltrevolutionären Prozesses hinge­wiesen. Im Vorwort zur russischen Ausgabe des »Kom­munistischen Manifest«, die 1882 erschien, schrieb er: »Das ›Kommunistische Manifest‹ hatte zur Absicht, die unvermeidli­ch bevorstehende Auflösung des modernen bürgerlichen Eigentums zu prokla­mieren. In Rußland aber finden wir, gegenüber rasch aufblü­hendem kapitali­stischen Schwindel und sich eben erst entwickelndem bürgerlichen Grund­eigentum, die größere Hälfte des Bodens im Ge­meinbesitz der Bauern. Es fragt sich nun: Kann die russische Obschti­schina, eine wenn auch stark untergra­bene Form des uralten Gemein­besitzes am Boden, unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesit­zes übergehn? Oder muß sie umge­kehrt vorher denselben Auflösungs­prozeß durchlaufen, der die geschicht­liche Entwicklung des Westens ausmacht?

Die einzige Antwort hierauf, die heutzutage möglich ist, ist die: Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so daß beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigen­tum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunisti­schen Ent­wicklung dienen.«

Was Marx nur betonen wollte, ist die Bedeutung des Klassenkampfs innerhalb der kapitalistischen Produktion für die endgültige Zerschla­gung der Macht und politischen Herrschaft des weltweit agierenden Kapitals. Was den Auftakt dieses Prozesses angeht, setzte er die größten Hoffnungen auf den Kampf gegen die weitere Zerschlagung gemein­schaftlicher Strukturen. Es geht mir nicht um eine »Ehrenret­tung« der Person Marx, sondern darum, daß die Kritiken, die sich im Grunde auf die Verkehrung seiner Über­legungen in einen »Marxis­mus«, in Partei- und Staatsideolo­gie beziehen, das Kind mit dem Bade ausschütten. Der berechtigte Haß auf die Benutzung formel­hafter marxscher Sätze für die Festigung von Ausbeutungsstrukturen verwirft zugleich seine Über­legungen zur praktischen Kritik des Kapitals. Bei den »Midnight Notes« wird dies am Schluß ihres Textes deutlich, wenn sie das kom­munale Land und den kommunalen Raum zur Energie­quelle proletari­scher Macht verklären (S. 48), ohne sagen zu können, wie die begrenzten kom­munalen Zusammenhänge eine revolu­tionäre Macht gegen das internationa­le Kapital entfalten sollen. Sicher wird es ein »Freudenfest« (S. 54) werden, aber dazu bedarf es einer materiel­len Basis für die proletarische Angriffskraft.

Möglicherweise sind die Kämpfe in Südafrika, China oder Mexiko und die in ihnen handelnden ProletarierInnen schon weiter als unsere Debatten, weil in ihnen die Ausein­andersetzung in den Fabriken und die Frage des Lands in der politischen Konfrontation zusammenwach­sen kön­nen.5 Das Charakteristische des Aufstands in Chiapas ist gerade seine Bezugnahme auf die Probleme in der ganzen Gesell­schaft, ihr Versuch in ihren Forderungen das gesamte mexikanische (und welt­weite) Proletariat anzusprechen. »Bei diesem Aufstand handelt es sich um keinen indigenen Aufstand, bei dem ausschließlich Forderun­gen der Inigénas erhoben werden, sondern um eine indigene Rebellion, die einen Wandel der gesamten Gesellschaft erreichen will. (...) Von außerhalb wird das Autonomiebe­streben aus einem bestimm­ten pater­nalistischen Blickwinkel betrachtet, nach dem Motto: Laßt doch die Indios autonom sein. Nicht diese Art Autonomie fordern sie. Sie fordern Partizipation, die Teilhabe an der nationalen Gesellschaft (...) Die Zapatisten wollen nicht in die Ver­gangenheit zurückkehren. Sie wollen nicht in dem Elend leben, in dem sie 500 Jahre lang gelebt haben. Sie wollen Erzie­hung, ein kleines aber sauberes Haus, sie wollen einen Kühlschrank, ihren Fernseher, elektrisches Licht. Sie sind keine traditionalistischen Indios, sondern sie sind sehr modern. Ich glaube, daß das 20. Jahrhundert in Mexico 1910 begonnen hat und am 31. Dezember 1993 beendet wurde.« (Antonio und Liza García de León, in: Schwarzer Faden 3/94)

@fener

Fußnoten:

[1] Übersetzt in: Thekla 10, Politische Materialien aus den USA von 1975 und 1977 zum nord­amerikani­schen und internationalen Klassenkampf, Berlin 1988.

[2] Einige der wichtigsten Texte der Zeitschrift Midnight Notes wurden von uns ins Deutsche über­setzt: Arbeit, Entropie, Apokalypse, und andere Texte, Thekla 12, Berlin 1989; s. auch die Besprechung in Wild­cat 36, 1985; Ölwechsel, Klassenkampf und »neue Weltordnung«, Thekla 14, Berlin 1991; Golfkrieg und Klassenkampf, Wenn Kreuzfahrer und Assassinen sich zu­sammentun muß das Volk sich in acht nehmen, Beila­ge zu Wildcat 54, 1991; Midnight Oil, Arbeit, Energie, Krieg, Thekla 17, Berlin 1993; siehe auch die kritische Besprechung der Zeitschrift »Aufheben« in Wildcat-Zirkular Nr. 6, 1994.

[3] Gustav Thaler, Wie kam der Wert in die Welt? Vorzüge und Fallstricke der Darstellungsweise im Kapital, in: SoZ-Magazin Nr. 14/15, Sommer 1994, S. 25-28.

[4] Abgedruckt in TheKla 14, S. 37-54.

[5] ndem Karl-Heinz Roth in seiner neuen Ausarbeitung der in Ham­burg Mitte letzten Jahres vorgestellten Thesen diese Zusammenfüh­rung der verschiedenen Kämpfe auf der Welt als wesentliche revolu­tionäre Dynamik bestimmt, bricht er die ideologischen Streitigkeiten auf und versucht, sich und uns wieder einen Blick auf die Weltrevolu­tion freizuschaufeln. Siehe die Vorstellung und Zusammenfassung seines Textes in diesem Zirkular.

 
 
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