Wildcat-Zirkular Nr. 21 - November 1995 - S. 47-55 [z21hollo.htm]


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»Capital Moves«

Die Zeitschrift Capital & Class hat eine neue Rubrik namens »POLEMIC« eingerichtet, unter der sie Beiträge zu aktuellen Debatten der Linken veröffentlichen will. Der erste Beitrag in der Nr. 57 (Herbst 1995) nimmt Stellung zur Globalisierungsdebatte. Er ist geschrieben von John Holloway, dem Autor von Reform des Staats; Globales Kapital und nationaler Staat in der Prokla 90. Dieser Aufsatz hatte starken Einfluß auf KH Roths Analyse der globalen Kapitalbewegung (es lohnt sich, ihn nochmal zu lesen!), bis hin in die Begrifflichkeit der Nationalstaaten als »Staubecken«.

»In unserer ersten Polemik stellt John Holloway die Frage, wie wir die Natur der Beweglichkeit des Kapitals zu verstehen haben. Er argumentiert, daß die aktuelle Kontroverse, welche das Kapital entweder als festgelegt oder als einfach global betrachtet, am Kern der Sache vorbeigeht. Weder das Gebundensein noch die Mobilität machen im eigentlichen Sinn die Natur des Kapitals aus. Eher muß die Entwicklung und das Schicksal des Kapitals als ein Verhältnis von »Kampf« und »Unterwerfung«, »Unterwerfung« und »Aufsässigkeit« verstanden werden. Somit ist die Vorstellung von »Globalisierung« selbst, so wie sie gewöhnlich verstanden wird, eine irreführende Bezeichnung, denn man kann das Kapital in keinem Fall als »frei« betrachten, zu (kommen und) zu gehen, wohin es »ihm« beliebt. mit unserem Verständnis des komplexen Spätkapitalismus kommen wir nur voran, wenn wir erkennen, daß die Unauflösbarkeit des Kapital-Arbeit-Verhältnisses tatsächlich ein Verhältnis von Kampf für und gegen Unterwerfung-Aufsässigkeit ist.« (Vorwort der Redaktion)

[Zur Übersetzung: Holloway spricht durchgängig von labour: Er meint damit Arbeit, Arbeitskraft und Arbeiter. Einerseits folgt er darin einer angelsächsischen Tradition, andererseits ist es seine größte theoretisch/praktische Schwäche, daß er eben nicht unterscheidet zwischen dem lebendigen Vermögen der ArbeiterInnen und der ihnen abgepreßten Maloche; deshalb wird bei ihm Arbeit ohne Kapital zur freien Tätigkeit; wir müßten nur »die private Aneignung der Arbeitsprodukte« zerstören, dann könnten wir unbeschwert weiterarbeiten, der alte Traum der Reformisten. Ich habe deswegen labour immer mit »Arbeit« übersetzt, auch wo er im marxistischen Sinn Arbeitskraft meint, oder wo er ganz einfach die ArbeiterInnen selbst meint; zur Rückerinnerung habe ich aber oft labour in eckigen Klammern dahintergesetzt.
Das Begriffspaar subordination/insubordination habe ich mit Unterwerfung/Aufsässigkeit übersetzt; wobei »Aufsässigkeit« an mancher Stelle im Deutschen dann zu schwach ist, aber ich fand es besser als das Fremdwort »Insubordination« (Gehorsamsverweigerung, Widersetzlichkeit ...)].


John Holloway: »Capital Moves« (aus: Capital & Class #57)

Das Kapital ist in Bewegung. Dieser Satz ist so offensichtlich wahr, daß es schon sinnlos erscheint, ihn niederzuschreiben, ganz zu schweigen davon, ihn als Überschrift für einen Artikel zu nehmen. Und doch...

Dem gesunden Menschenverstand zufolge bedeutet der Satz »Das Kapital ist in Bewegung«, daß das Kapital, das sich normalerweise an einem Ort befindet, aufsteht und sich in Bewegung setzt. Britisches Kapital wird exportiert und in Afrika investiert. Japanisches Kapital bewegt sich aus Japan heraus und fließt in die Vereinigten Staaten. Unter Kapital wird etwas verstanden, das grundsätzlich fest ist, aber die Fähigkeit zur Bewegung hat. Kapital ist gebunden, aber in der Lage, sich zu lösen. Also: Volkswagen hat eine Fabrik in Puebla, aber wir wissen, daß VW (eine deutsche Firma) seine Fabrik schließen und sein Kapital woandershin bewegen kann.Das Kapital hat die Fähigkeit sich zu bewegen, aber in erster Linie ist es durch seine Bindung definiert: Bindung an eine Firma (Volkswagen), Bindung an einen Industriezweig (die Automobilindustrie) und Bindung an einen Ort (Puebla, Deutschland). Derselben Logik entsprechend wird Kapital, das in die Textilindustrie investiert wurde, oft als »Textilkapital« bezeichnet, Kapital in der Bankenindustrie als »Bankkapital«, Kapital, das Mexikanern gehört, als »mexikanisches Kapital«, das von US-Amerikanern als »US-Kapital«, usw.. Obwohl die Fähigkeit des Kapitals, sich zu bewegen oder sich von einem bestimmten Besitzer oder einem Zweig ökonomischer Aktivität zu lösen, niemals infrage gestellt wird, ist die Bewegung des Kapitals zweitrangig im Vergleich zu seiner ursprünglichen Definition als etwas Gebundenem oder Fixiertem.

In all diesen Beispielen wird das Kapital als ein Ding behandelt, ein Ding, das man besitzen kann, ein Ding, das normalerweise an einen bestimmten Ort gebunden ist, an eine Firma, einen Zweig ökonomischer Aktivität; ein Ding, das bewegt werden kann von Ort zu Ort, von Firma zu Firma, von einem Zweig der Aktivität zu einem anderen.

All das ist offensichtlich. Aber sobald wir versuchen, das Kapital seiner Dinglichkeit zu berauben, wird es weniger offensichtlich. Warum sollten wir versuchen, das Kapital seiner Dinglichkeit zu berauben, warum ist die offensichtliche Analyse der Bewegung des Kapitals nicht ausreichend? Die Antwort ist sicher, daß es davon abhängt, was wir verstehen wollen. Wenn wir als Ökonomen die kapitalistische Entwicklung verstehen wollen, oder wenn wir verstehen wollen, auf welche Weise das Kapital die Gesellschaft beherrscht, dann gibt es wahrscheinlich keinen Grund, die Dinglichkeit des Kapitals infrage zu stellen. Wenn wir jedoch nicht die Herrschaft und Reproduktion des Kapitals verstehen wollen, sondern seine Verletzlichkeit und Brüche, wenn, mit anderen Worten, wir nicht verstehen wollen, wie der Kapitalismus funktioniert, sondern wie er zerstört werden kann, dann müssen wir die Dinglichkeit des Kapitals aufknacken, seine Tatsächlichkeit aufbrechen, die Illusion zerbrechen, »das Kapital ist, das Kapital bewegt sich, das Kapital herrscht, so ist das halt«. Das ist der Grund, warum Marx einen so großen Teil seines Lebens damit verbrachte, zu beweisen, daß das Kapital kein Ding ist, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, ein gesellschaftliches Verhältnis, das in der fetischisierten Form eines Dings existiert.

Wenn wir das Kapital nicht so sehr als Ding verstehen, sondern eher als gesellschaftliches Verhältnis, was bedeutet es dann zu sagen, »Das Kapital ist in Bewegung«? Die Antwort ist jetzt nicht mehr so offensichtlich. Wie kann sich ein gesellschaftliches Verhältnis fortbewegen? Die Bewegung des Kapitals kann sich nur auf die Mobilität, oder vielleicht besser auf das Fließen oder die Flüssigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus beziehen, auf die Machtverhältnisse im Kapitalismus.

Was Mobilität kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse bedeutet, können wir am besten sehen, wenn wir Kapitalismus und Feudalismus vergleichen. Im Feudalismus war das Verhältnis von Beherrschung/Ausbeutung ein unmittelbares und persönliches. Ein Leibeigener war an einen bestimmten Herrn gebunden, ein Herr war darauf beschränkt, den Leibeigenen auszubeuten, den er geerbt hatte oder auf andere Weise unterwerfen konnte. Beide Seiten des Klassenverhältnisses waren gebunden: Der Leibeigene war an einen bestimmten Herrn gebunden, der Herr war gebunden an eine bestimmte Gruppe von Leibeigenen. Wenn der Herr grausam war, konnte der Leibeigene nicht einfach gehen und für einen anderen Herrn arbeiten. Wenn die Leibeigenen faul waren, ungebildet oder auf andere Weise aufsässig, konnte der Herr sie disziplinieren, aber er konnte sie nicht einfach feuern. Die Beziehung zwischen Leibeigenem und Herrn hatte einen festen, unbeweglichen Charakter. Die daraus resultierende Unzufriedenheit drückte sich auf der Seite der Leibeigenen in Revolten aus, auf der Seite der Herren darin, daß sie andere Wege suchten, ihre Macht und ihren Wohlstand zu vergrößern. Die persönliche, unbeweglich gewordene Beziehung der feudalen Knechtschaft erwies sich als unzureichende Form, die Macht der Arbeit [power of labour] im Zaum zu halten und auszubeuten. Leibeigene flohen in die Städte, die Feudalherren akzeptierten die Monetisierung des Herrschaftsverhältnisses [das Verwandeln der persönlichen Unterwerfung und unmittelbaren Ausbeutung in abstrakte, über Geld geregelte gesellschaftliche Verhältnisse; d.Ü.].

Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus war also eine Bewegung der Befreiung auf beiden Seiten des Klassenverhältnisses. Beide Seiten flohen voreinander: Die Leibeigenen vor den Herren (wie die liberale Theorie hervorhebt), aber auch die Herren vor den Leibeigenen, durch die Bewegung ihres zu Geld gewordenen Reichtums. Beide Seiten flohen vor einem Herrschaftsverhältnis, das sich (als Herrschaftsform) als unzureichend herausgestellt hatte. Beide Seiten flüchteten in die Freiheit.

Die Flucht in die Freiheit steht so im Mittelpunkt des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Aber hier gibt es natürlich zwei verschiedene und sich widersprechende Bedeutungen von Freiheit (dieser Dualismus bildet den zentralen Widerspruch der liberalen Theorie). Die Flucht der Leibeigenen war eine Flucht aus der Unterwerfung unter den Herrn, die Flucht derer, die aus diesem oder jenem Grund die alte Unterwerfung nicht mehr akzeptierten, die Flucht der Aufsässigen. Die Flucht der Herren war genau das Gegenteil: Daß sie ihren Reichtum in Geld umwandelten, war eine Flucht weg von der Unzureichlichkeit der Unterwerfung, eine Flucht vor der Aufsässigkeit. Auf der einen Seite die Flucht der Aufsässigkeit, auf der anderen Seite die Flucht vor der Aufsässigkeit: Wie man es auch sieht, die Aufsässigkeit der Arbeit [labour] war die treibende Kraft der neuen Mobilität des Klassenverhältnisses, die Flucht von Leibeigenen und Herren voreinander.

Die Flucht der-und-vor-der Aufsässigkeit der Arbeit [labour], die gegenseitige Abstoßung der beiden Klassen löste das Klassenverhältnis natürlich nicht auf. Sowohl für die Leibeigenen als auch für ihre Herren endete die Flucht in die Freiheit in der Wiederherstellung der Fesseln gegenseitiger Abhängigkeit. Die befreiten Leibeigenen stellten fest, daß sie nicht die Freiheit hatten, die Arbeit einzustellen: Da die Produktionsmittel nicht ihnen gehörten, waren sie gezwungen, für einen Herrn zu arbeiten, jemanden, der die Produktionsmittel besaß. Um zu überleben, mußten sie sich wieder unterwerfen. Es war jedoch keine Rückkehr zum alten Verhältnis: Sie waren nicht länger an einen bestimmten Herrn gebunden, sondern konnten sich frei bewegen, den einen Herrn verlassen und zu einem anderen gehen, um für ihn zu arbeiten. Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus bedeutete die Entpersönlichung, Zersetzung oder Verflüssigung der Herrschaftsverhältnisse. Das Ausbeutungsverhältnis wurde durch die Auflösung der Fesseln persönlicher Gebundenheit nicht abgeschafft, aber es erfuhr eine fundamentale Veränderung seiner Form. Die bestimmte Fessel, die den Leibeigenen an einen bestimmten Herrn band, wurde aufgelöst und ersetzt durch ein bewegliches, fließendes, zergliedertes Verhältnis der Unterwerfung unter die kapitalistische Klasse. Gerade die Flucht der Aufsässigkeit begründete das neue Klassenverhältnis.

Auf der anderen Seite der Gesellschaft fanden auch die ehemaligen Herren, die ihren Reichtum in Geld umwandelten [1], heraus, daß die Freiheit anders aussah, als sie sich das vorgestellt hatten, denn sie waren immer noch abhängig von der Ausbeutung und damit der Unterwerfung der Ausgebeuteten, der Arbeiter, ihrer früheren Leibeigenen. Die Flucht vor der Aufsässigkeit ist keine Lösung für die Herren, die zu Kapitalisten wurden, denn die Vergrößerung ihres Reichtums ist abhängig von der Unterwerfung der Arbeit [labour]. Sie sind frei, die Ausbeutung einer bestimmten Gruppe Arbeiter zu beenden (aus welchem Grund auch immer - Faulheit, ungenügende Kenntnisse, oder dergleichen) und entweder direkte Ausbeutungsbeziehungen mit einer anderen Gruppe Arbeiter aufzunehmen oder schlicht durch nichtproduktive Investitionen an der weltweiten Ausbeutung der Arbeit [labour] teilzunehmen. Welche Form ihr besonderes Verhältnis zur Ausbeutung der Arbeit [labour] auch annimmt, die Vergrößerung ihres Reichtums kann nicht mehr sein als ein Teil der gesamten Ausbeutung des Reichtums, der von den Arbeitern produziert wird. Unabhängig von der Form der Klassenherrschaft bleibt die Arbeit [labour] die einzige konstitutive Macht. Genau wie im Falle ihrer früheren Leibeigenen erweist sich die Flucht in die Freiheit als Flucht in eine neue Form der Abhängigkeit. Wie die Flucht der Leibeigenen vor der Unterwerfung sie in eine neue Form der Unterwerfung zurückführt, führt die Flucht der Herren vor der Aufsässigkeit sie zurück zu der Notwendigkeit, sich dieser Aufsässigkeit entgegenzustellen. Das Verhältnis hat sich jedoch gewandelt, denn die Flucht des Kapitals vor der Aufsässigkeit steht im Mittelpunkt seines Kampfs, Unterwerfung durchzusetzen (wie z.B. bei der allgegenwärtigen Drohung mit Fabrikschließungen oder Bankrott). Die Flucht vor der Aufsässigkeit ist zum definitiven Merkmal des neuen Klassenverhältnisses geworden.

Die Aufsässigkeit der Arbeit [labour] ist damit die Achse, auf der die Definition des Kapitals als Kapital sich dreht. Es ist die gegenseitige Abstoßung der beiden Klassen, die Flucht der und vor der Aufsässigkeit, die den Kapitalismus von vorangegangenen Klassengesellschaften unterscheidet, die der Ausbeutung, auf der der Kapitalismus wie jede andere Klassengesellschaft beruht, eine besondere Form gibt. Die Ruhelosigkeit der Aufsässigkeit tritt in das Klassenverhältnis ein als die Bewegung von Arbeit [labour] und Kapital.

Von Anfang an ist das neue Klassenverhältnis, das Verhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeitern (oder genauer, denn es ist ein entpersönlichtes Verhältnis, zwischen Kapital und Arbeit), ein Verhältnis gegenseitiger Flucht und Abhängigkeit: Flucht der und vor der Aufsässigkeit, Abhängigkeit von der Wiederunterwerfung. Das Kapital flieht qua Definition [by its very definition; es ist so entstanden, Kapital ist definiert als Flucht vor der Aufsässigkeit der Arbeiter; d.Ü.] vor der aufsässigen Arbeit [labour] auf der Suche nach immer größerem Reichtum, aber es kann niemals seiner Abhängigkeit von der Unterwerfung der Arbeit entkommen. Die Arbeit [labour] flieht von Anfang an vor dem Kapital auf der Suche nach Autonomie, Freiheit, Menschlichkeit, aber sie kann ihrer Abhängigkeit vom und Unterwerfung unters Kapital nur entkommen, indem sie es zerstört, indem sie die private Aneignung der Arbeitsprodukte zerstört. Das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit ist demnach eines der gegenseitigen Flucht und Abhängigkeit, aber es ist nicht symmetrisch: Die Arbeit [labour] kann entkommen, das Kapital kann das nicht. Das Kapital ist in einer Weise abhängig von der Arbeit, in der die Arbeit vom Kapital nicht abhängig ist. Das Kapital hört ohne Arbeit auf zu existieren: Die Arbeit ohne Kapital wird zu praktischer Kreativität, zu schöpferischer Praxis, Menschlichkeit.

Sowohl der Leibeigene (jetzt Arbeiter) als auch der Herr (jetzt Kapitalist) bleiben die antagonistischen Pole eines Verhältnisses von Ausbeutung und Kampf, aber dieses Verhältnis ist nicht mehr dasselbe. Die Aufsässigkeit der Arbeit hat das Verhältnis zu einem ruhelosen, mobilen, flüssigen und fließenden gemacht, das in ständiger Bewegung und beständig auf der Flucht ist. [2] Das Klassenverhältnis wurde zu einem sich andauernd verschiebenden, von Natur aus mobilen Verhältnis, bei dem alle Kapitalisten an der Ausbeutung aller Arbeiter teilhaben und alle Arbeiter zur Reproduktion des Kapitals beitragen, und bei dem sich die Muster der Ausbeutung andauernd verändern wie in einem Kaleidoskop.

Mit dem Übergang zum Kapitalismus nimmt die Dialektik von Aufsässigkeit/Unterwerfung der Arbeit, der Kern jedes Klassenverhältnisses, eine charakteristische Form an - die antagonistische Bewegung der Flucht der-und-vor-der Aufsässigkeit der Arbeit in ihre erneute Unterwerfung. Diese besondere historische Form drückt sich in den uns vertrauten Kategorien der politischen Ökonomie aus: In der Existenz der Arbeit und ihrer Produkte als Waren, in der Existenz von Wert, Geld, Kapital. All diese Kategorien drücken den indirekten oder zergliederten Charakter der kapitalistischen Herrschaft aus. Sie sind alle Ausdruck der Tatsache, daß die Unterwerfung der Arbeit im Kapitalismus durch »Freiheit« vermittelt wird, die »Freiheit« des Arbeiters und die »Freiheit« des Kapitalisten oder, mit anderen Worten, die Flucht der-und-vor-der Aufsässigkeit. Diese Kategorien, die oft dazu benutzt werden, den gesetzmäßigen Charakter der kapitalistischen Entwicklung darzustellen, sind in Wirklichkeit Ausdruck der Grenzen setzenden Anwesenheit [defining presence] der Aufsässigkeit der Arbeit innerhalb des kapitalistischen Unterwerfungsverhältnisses, das heißt des Chaos' im Herzen der kapitalistischen Herrschaft.

Verkehrte Welt, so scheint es. Wir sind es nicht gewöhnt, im Zusammenhang mit z.B. dem Wert in solchen Begriffen zu denken. Es ist verbreiteter, den Wert als etwas zu sehen, das Ordnung schafft (das Wert»gesetz«), das die gesellschaftliche Fessel in einer Gesellschaft unabhängiger Produzenten darstellt. Das ist korrekt, aber nur, wenn die Betonung auf die Kritik an der liberalen Theorie gelegt wird. Der Satz vom »Wertgesetz« sagt im wesentlichen: »Dem Augenscheinlichen zum Trotz sind die scheinbar unabhängigen Produzenten der kapitalistischen Gesellschaft durch eine gesellschaftliche Fessel aneinander gebunden, die hinter ihrem Rücken wirkt - das Wertgesetz«. Wenn wir aber andererseits nicht vom Anschein des fragmentierten Individualismus ausgehen, sondern vom historischen Einbruch [irruption] der Aufsässigkeit der Arbeit in die Definition der Unterwerfung, dann drückt der Wert die Fragmentierung aus, die dieser Einbruch [irruption] der eher zusammenhaltenden [cohesive] Herrschaft im Feudalismus beibrachte. Das Wertgesetz ist gleichzeitig die Gesetzlosigkeit des Wertes, der Verlust jeglicher gesellschaftlichen Kontrolle über die Entwicklung der Gesellschaft, die Anwesenheit der Aufsässigkeit innerhalb der Unterwerfung. Der Wert ist der politisch-ökonomische Ausdruck der Gegenwart der widersprüchlichen Flucht der-und-vor-der Aufsässigkeit innerhalb der Unterwerfung selbst, genauso wie die Freiheit deren kategorischer Ausdruck in der liberalen politischen Theorie ist.

Der Wert, in Form von Geld, ist die neue Flüssigkeit des Klassenverhältnisses. Die Tatsache, daß gesellschaftliche Verhältnisse durch Geld vermittelt werden, macht es dem Arbeiter möglich, von einem Herrn zum anderen zu wechseln, wobei in jedem Fall ihre oder seine Arbeitskraft zum Verkauf kommt, im Austausch für eine bestimmte Summe Geldes. Und die Tatsache, daß der zum Kapitalisten gewordene Herr seinen Reichtum in Geld verwandeln kann, macht es ihm möglich, eine Gruppe von Arbeitern zu verlassen und zu einer anderen zu gehen und an der weltweiten Ausbeutung der Arbeitskraft teilzunehmen.

Das Geld verflüssigt das Klassenverhältnis nicht nur, es wandelt es auch um oder fetischisiert es. Es gibt dem Klassenverhältnis seine eigene Färbung, indem es das Verhältnis von Unterwerfung/Aufsässigkeit als ein Verhältnis zwischen reich und arm erscheinen läßt, als ein Verhältnis, das eher von Ungleichheit zwischen denen mit Geld und denen ohne bestimmt ist, als von Antagonismus. Es verwandelt das antagonistische Verhältnis von Unterwerfung/Aufsässigkeit in ein Verhältnis von Geld, es verwandelt die Flucht der-und-vor-der Unterwerfung [Druckfehler? insub...?], die das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeitskraft definiert, in eine Bewegung von Geld, eine Bewegung von Kapital (im Sinne einer ökonomischen Erscheinung).

Der banale Satz, mit dem der Artikel begann, »Das Kapital ist in Bewegung«, hat nun eine neue Bedeutung. Er ist eine Tautologie. »Das Kapital ist in Bewegung« bedeutet nicht, daß das Kapital normalerweise still dasitzt und sich jetzt bewegt, sondern daß das Kapital von Natur aus mobil ist.

Das Kapital ist also ein gesellschaftliches Verhältnis. Aber es ist nicht einfach nur ein gesellschaftliches Verhältnis von Ausbeutung/Unterwerfung/Herrschaft. Es ist ein gesellschaftliches Verhältnis von Unterwerfung usw., in dem die Grenzen setzenden [defining] Anwesenheit der Aufsässigkeit sich als fortwährende Rastlosigkeit ausdrückt, als andauernde Mobilität. Es ist sowohl eine funktionale Mobilität (wenn das Kapital sich aus produktivem Kapital in Warenkapital und dann in Geldkapital und wieder zurück verwandelt) als auch eine räumliche (wenn das Kapital um die ganze Welt fließt/flieht, auf der Suche nach einem Mittel, durch das es weiter wachsen kann). Die besondere Einheit von Unterwerfung/Aufsässigkeit, die differentia specifica des Kapitals, drückt sich in der Einheit von Produktion und Zirkulation aus, oder in der Einheit der verschiedenen funktionalen Formen des Kapitalkreislaufs (Marx behandelt das im 2. Band des Kapital), oder in der Einheit der Welt als dem Schauplatz des Klassenkampfs (des Verhältnisses zwischen Aufsässigkeit und Unterwerfung). Umgekehrt können die Verlagerungen von Produktion und Zirkulation oder der verschiedenen funktionalen Formen des Kapitalkreislaufs oder des räumlichen Fließens/der räumlichen Flucht des Kapitals nur als die Nichteinheit-in-der-Einheit von Aufsässigkeit und Unterwerfung verstanden werden, als die konstante Unfähigkeit des Kapitals, die Arbeitskraft im Zaum zu halten, als das andauernde Überfließen der Aufsässigkeit aus der Unterwerfung, als die Existenz der Arbeitskraft gegen-das-und-im (und nicht nur im-und-gegen-das) Kapital.

Das ist alles nur eine Wiederholung und Weiterentwicklung eines zentralen Themas in der Debatte, welche die CSE [Conference of Socialist Economists, Herausgeber von Capital&Class; d.Ü.] seit über zwanzig Jahren führt - die Kritik am Strukturalismus, an der Trennung von Struktur und Kampf. Die Trennung von Struktur und Kampf, das ist der springende Punkt, ist die Trennung von Unterwerfung und Aufsässigkeit. In der Hauptströmung (die fast ausschließlich strukturalistisch-funktionalistisch orientiert ist) der marxistischen Tradition ist es sehr verbreitet, den Kapitalismus als ein im wesentlichen selbstreproduzierendes System von Herrschaft/Unterwerfung zu sehen, das gelegentlich durch den Klassenkampf unterbrochen wird (die offene Manifestation der Aufsässigkeit), als ein sich selbst reproduzierendes ökonomisches System, in dem die Arbeiter Opfer sind, außer in den wenigen Fällen, bei denen sie zum offenen Kampf greifen. In dieser Tradition wird die Arbeitswerttheorie als der Mechanismus verstanden, der die Selbstreproduktion des Kapitalismus erklärt: Es existiert eine besondere Blindheit bezüglich des offensichtlichsten Aspekts der Arbeitswerttheorie - daß sie nämlich eine Theorie der Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeit ist und daher eine Theorie des Klassenkampfs. Genau gegen diese verdummende und vor allem zur Ohnmacht verdammende Tradition der Hauptströmung im Marxismus ist es wichtig, die Einheit von Aufsässigkeit und Unterwerfung wieder geltend zu machen, die zersetzende, zerstörende, chaotische Anwesenheit der Aufsässigkeit innerhalb der Unterwerfung selbst.

Die Art und Weise, wie der Satz von der Mobilität des Kapitals in vielen aktuellen Diskussionen über »Internationalisierung« oder »Globalisierung« des Kapitals benutzt wird, ist ein Beispiel für die Trennung von Unterwerfung und Aufsässigkeit, von Struktur und Kampf. In solchen Diskussionen kommt die Arbeit [labour], wenn überhaupt, nur als ein Opfer der jüngsten Entwicklungen der kapitalistischen Herrschaft vor. Die Handelnden in solchen Diskussionen heißen z.B. US-Kapital, japanisches Kapital, europäisches Kapital, Finanzkapital. Die Debatte kreist um die Ausdehnung der Macht des »Finanzkapitals«, um die »innerimperialistische« Rivalität zwischen »US-Kapital«, »japanischem Kapital« usw.. All diese Kategorien stützen sich darauf, daß das Kapital als ein Ding gesehen wird. Diese Sichtweise schließt den Versuch aus, die Rastlosigkeit des Kapitals in Begriffen der Macht der Aufsässigkeit zu verstehen. Wenn die aktuellen Veränderungen im Kapitalismus in Begriffen des Konflikts zwischen verschiedenen nationalen Kapitalen [3] verstanden werden, dann kann der Klassenkampf, wenn er überhaupt vorkommt, nur als eine Reaktion auf die sich verändernde Form der Herrschaft vorkommen, nicht als die Substanz der Veränderung. Alles wird auf den Kopf gestellt: Die »Globalisierung« des Kapitals (damit meine ich jetzt die enorme Steigerung der Geschwindigkeit und des Ausmaßes von Kapitalfluß/flucht in Geldform) wird eher als Anwachsen der Macht des Kapitals gesehen und nicht so sehr als eine Manifestation der Unfähigkeit des Kapitals, die Arbeitskraft zu unterwerfen. [4] Die Gewalttätigkeit des Geldes ist ein Maßstab für die Flucht des Kapitals vor der Aufsässigkeit der Arbeitskraft und für die Verzweiflung angesichts seiner Notwendigkeit, die Unterwerfung wiederherzustellen. [5] Der Marxismus ist keine Theorie von der Macht des Kapitals, sondern eine von der Macht der aufsässigen Arbeit.


Fußnoten:

[1] In einem hilfreichen Kommentar zur ersten Fassung dieses Papiers bemerkt Chris Arthur, daß »das Papier virtuell bekräftigt, daß der Kapitalist der Adlige mit einem neuen Hut ist. Das ist historischer Revisionismus in großem Stil ohne jeglichen Beweis. Er sollte wenigstens der üblichen Geschichte zugestehen, daß eine neue Produktionsweise zumindest den Untergang des Adligen und der Aufstieg des Kapitalisten bedeutete und bis hin zu einem scharfen Klassenkampf zwischen beiden reichte, markiert von Episoden wie der Französischen Revolution.« Chris hat ganz recht: das Thema des Papiers ist in der Tat, daß der Kapitalist der transformierte Adlige ist. Es geht dabei nicht um die Frage personeller Kontinuität (die es in einigen Fällen gibt, in anderen nicht), sondern darum, den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus als einen Wechsel/Wandel in der Form des Verhältnisses von Herrschaft und Kampf zu verstehen, oder besser: von Aufsässigkeit und Unterordnung der Arbeit. Wenn man unter Klasse nicht eine Gruppe von Leuten versteht (»Kapitalisten«, »Adlige«), sondern den Pol eines antagonistischen Herrschaftsverhältnisses (vgl. Marx; Gunn 1987), dann ist es natürlich falsch, den Kampf zwischen Kapitalisten und Adligen als einen Kampf zwischen zwei Klassen zu sehen. Er war vielmehr ein Kampf um die Form der Klassenherrschaft, die Form der Unterordnung aufsässiger Arbeit. Zum »historischen Revisionismus« in wirklich großem Stil siehe Gerstenberger (H. Gerstenbeger: Die subjektlose Gewalt: Theorie der Entstehung bürgerlicher Staatsgewalt; 1990), die ähnlich argumentiert gegen die Orthodoxie marxistischer Historiker mit einem beeindruckenden Reichtum an Beweisen.

[2] Daraus folgt, daß der Klassenantagonismus nicht nur auf der Ebene der Produktion gesucht werden kann, sondern auf der Ebene der Einheit von Zirkulation und Produktion. Die Betrachtungsweise, die Produktion als primär und die Zirkulation als sekundär zu sehen, führt dazu, die Arbeiterklasse als die Klasse von Menschen zu sehen, die in der Produktion unterworfen sind, also als industrielles Proletariat. Wenn wir das Kapital hingegen auf der Ebene der Einheit von Produktion und Zirkulation sehen (oder der Einheit aus Flucht der-und-vor-der-Aufsässigkeit und Aufzwingen der Unterwerfung), entsteht ein anderes Bild. Das Kapital lebt von der Unterwerfung und der anschließenden Flucht vor der Aufsässigkeit, die untrennbar von der Unterwerfung ist: es saugt Arbeit in sich auf, um sie auszubeuten und spuckt sie dann als ungenießbar wieder aus. Der Antagonismus, der die Arbeiterklasse definiert, ist nicht einer von Unterwerfung, sondern von Unterwerfung/Aufsässigkeit: die Arbeiterklasse sind keine unterworfenen Opfer, sondern die Aufsässigkeit, vor der das Kapital flieht, und die es unterwerfen muß. Wenn das Kapital vom Einsaugen und Ausspucken lebt, können wir die Arbeiterklasse genau definieren als Eingesaugte und Ausgespuckte der Erde.

[3] Die einzig mögliche Rechtfertigung für den Begriff vom »nationalen Kapital« könnte in einem Verständnis des Nationalstaats als einem Hindernis für die Angleichung der globalen Profitrate liegen (vgl. Kapital Bd. 3). aber dieses Argument wurde bisher nicht vorgebracht, und wenn dann müßte es auf jeden Fall in Klassenbegriffen vorgebracht werden. Ich sehe absolut keinen Grund, a priori solchen fragwürdigen Begriffen wie »Britannien«, »Vereinigte Staaten«, »Mexiko«, »Irland«, »Japan« usw. Stichhaltigkeit zuzuerkennen. Wie jede andere Kategorie sozialer Theorie müssen solche Begriffe kritisiert werden.

[4] Zur Entwicklung einiger in diesem Paper benutzten Argumente siehe Werner Bonefeld: The recomposition of the British State (1993) und Werner Bonefeld (John Holloway: Global Capital, the National State and the Politics of Money (1995).

[5] Dieses Paper scheint in der Luft zu fliegen, aber das stimmt nicht. Dahinter steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem zapatistischen Aufstand in Chiapas und der Abwertung des mexikanischen Peso, zusammen mit dem Aufruhr der weltweiten Finanzmärkte (das »systemische Risiko« des Weltkapitalismus), den der Aufstand provozierte. Wenn man die Kapitalflucht aus Mexiko als ökonomisches Phänomen versteht, das völlig verschieden ist von der Revolte in Chiapas (Trennung der Struktur vom Kampf), dann wird es schwieriger, die Einheit zwischen beiden Formen der Unzufriedenheit festzustellen, derjenigen auf dem Land in Chiapas und derjenigen in der größten Stadt der Erde. Wenn die verbindende Zündschnur aber erst einmal angezündet ist, könnten sie die Welt verändern.


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