Wildcat-Zirkular Nr. 44 - April 1998 - S. 3-13 [z44edito.htm]


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Arbeit - Arbeitslosigkeit - Bewegung

Editorial

Seit 20 Jahren gibt es keine Arbeiter mehr (T. Negri)
Nadeschda - hör auf Deinen Rücken!
Gibt es das alte Proletariat, das gerade arbeitslos wird?
Und das neue Proletariat, das gar keines ist?

Kürzlich traf ich eine Bekannte. Sie behauptete, sie sei keine Arbeiterin. Sie arbeitet in einem sogenannten Call-Center. Ein Call-Center ist eine Firma, die Telefondienstleistungen erledigt: vom Marketing über die Marktforschung bis zu technischem Service. Ist groß im Kommen: in den USA sind 1,5 Millionen Menschen in Call-Centern beschäftigt, in Deutschland sollen es derzeit 120 000 Leute sein. Die Branche boomt, NRW wirbt mit einer Call-Center-Offensive, Bremen nennt sich Call-Center-City.

Nadeschda sitzt in einem Großraumbüro zusammen mit bis zu 200 KollegInnen. JedeR hat ein Telefon und einen Computer vor sich. Mit den KollegInnen tauscht man sich aus, über die Qualitäten dieses oder jenes Unit Managers, wie viele Interviews man mindestens hinkriegen muß, um keinen Ärger zu bekommen. Es gibt Formen der Kooperation: wie teilen wir diesen oder jenen Auftrag ein? In einer Reihe sitzen ca. 10 TelefonistInnen; am Ende der Reihe sitzt der Supervisor. Er kontrolliert, ob die Interviews korrekt geführt werden. Der Vertrag beinhaltet eintägige Kündigungsfrist. Die Arbeitszeit wird zum einen kapazitätsorientiert von der Firma bestimmt, zum anderen von den TelefonistInnen selbst, die sich immer wochenweise einbuchen. Eine beidseitige Flexibilität.

Gerade der oberflächliche äußere Eindruck ist eine der wesentlichen Quellen des Mythos des modernen Kapitalismus. Okay, Nadeschda trägt keinen Blaumann: aber, Du wärst erstaunt, wieviele junge Arbeiter an den Bändern der Autoindustrie eben auch keinen anhaben. Wie oft habe ich gedacht: he, die Jungs am Band mit ihren Diesel-Jeans, ihren modischen Shirts und ihren hippen Käppchen mit dem Schild nach hinten, die sind am Band schicker gekleidet als ich, wenn ich ausgehe. Ich habe mich gefragt, was die dazu bringt, ihre Fruchtbarkeit zu riskieren und andere Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen? Ganz einfach: sie wollen nicht wie Arbeiter aussehen. Sie wollen nicht so aussehen, weil sie keine sein wollen. Sie wollen sich wie Nadeshda auch eben nicht als Arbeiter sehen und lehnen daher die klassische Uniform ab. Sie sind Blue-Collar-Arbeiter, sehen aber nicht so aus. Es gibt also zwischen den Bändern der Autoindustrie und den sog. postindustriellen Bereichen zumindest Ähnlichkeiten.

Jetzt mal provokativ: Nadeshda sitzt in einer Fabrikhalle (new speak: Telephone Unit), da drin befinden sich 200 Maschinen (new speak: moderne Telekommunikations- und Computerarbeitsplätze), am Ende jeder Maschinenreihe sitzt der Bandführer oder Capo (new speak: Supervisor), der Abteilungsleiter heißt jetzt Unit Manager. Abends tun ihr die Augen weh. Macht das einen Unterschied, ob einem die Augen von der Strahlung des Bildschirms oder von der Strahlung eines Schweißgeräts schmerzen? Hör auf Deinen Rücken und Deine Gelenke: sie haben sofort begriffen und machen Dir unmißverständlich klar, daß Du Arbeiterin bist. Sie machen Dir unmißverständlich klar, daß Du Maschinenarbeiterin bist und daß der Hauch von Luxus, den diese neuen Maschinen verströmen ein Mythos ist, vielleicht vergleichbar demjenigen, den Henry Ford Anfang des jahrhunderts verbreitete, als die ersten mechanischen Produktionsmaschinen eingeführt wurden.

Industriebetriebe gehen dazu über, ihre Telefonarbeit, soweit das möglich ist, in Callcenter auszulagern. Etwa die Telefonarbeit, die für die Logistik des Teilenachschubs nötig ist. Der ganze Vorgang der Auslagerung wird unter dem Stichwort Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft geführt. Und tatsächlich sind dadurch Arbeitsplätze in der Industrie weggefallen. Was ist aber wirklich passiert? Die eigentliche Arbeit bleibt dieselbe: ein Telefongespräch. Aber vorher wurde sie vielleicht von einer Sekretärin in einem kleinen Büro mit Kaffeemaschine gemacht. Sie war keine Fabrikarbeiterin, wurde aber statistisch als Beschäftigte in der Industrie geführt. Jetzt wird die Arbeit unter Dienstleistung subsummiert: aber sie trägt jetzt viel stärker die Merkmale klassischer Industriearbeit.

Aber ist nicht das Produkt, eine Marktanalyse, etwas vollkommen anderes als ein LKW? Schlagworte wie »die neue immaterielle Qualität der Ware« tauchen auf. Eine Dienstleistung ist eine Ware. Was aber ist eine Ware? Es ist alles mögliche, aber letztenendes ist eine Ware eine vergegenständlichte Form der Arbeit. Eine vergegenständlichte Form verschiedenster Formen der Arbeit. Weil die Arbeit geteilt ist, nimmt sie Millionen verschiedener Formen an. Viele davon sehen handfester, greifbarer, materieller aus. Andere erscheinen wenig konkret: aber ein Telefongespräch über die Absatzchancen eines LKWs ist genauso konkret wie die Herstellung einer Kurbelwelle für einen LKW. Zur ganz unmittelbaren Herstellung eines Motors sind unzählige Verrichtungen immaterieller Art nötig. Du wärst erstaunt, wieviel an Kommunikation und Information dazu nötig ist. So gesehen gibt es keine neue immaterielle Qualität der Ware. Oder: jede Ware enthält massenhaft Informationsarbeit, Kommunikationsarbeit. Was macht das für einen grundlegenden Unterschied, ob diese Informationsarbeit mittels eines Computers, eines Telefons, mittels schriftlichen Plänen oder mittels der Zunge geleistet wird? Wir sollten diese Unterschiede jedenfalls nicht überschätzen, indem wir daraus regelrecht eine neue Theorie des Kapitalismus ableiten.

Das mit der »neuen immateriellen Qualität der Ware« ist ein Mythos. Alles fühlt sich zwar neu an, ist aber im Grunde genommen immer noch die gleiche alte Scheiße.

»Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch und Haus und Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit.«

(MEW 23, S. 52)

Du wirst jetzt unwirsch. Hör mal, meinst Du, Du kannst doch nicht abstreiten, daß es in den letzten 100 Jahren gewisse Veränderungen gegeben hat!

Ja, klar. Es hat entscheidende Veränderungen gegeben. Zum Glück. Wir müssen diese Veränderungen jenseits der gängigen Mythen auf ihre Bedeutung für die Befreiung vom Kapitalismus untersuchen. Beispielsweise die Tatsache, daß sich Nadeschda nicht als Arbeiterin sieht oder vielmehr, was sich dahinter verbirgt. Aber das unterscheidet sie eben nicht vom klassischen Industriearbeiter, sondern das ist ein Phänomen, das in der Fabrik auch da ist. Es ist sogar so, daß dieses Phänomen dort seinen Ursprung hat. Genauso, wie die Anforderungen an Kommunikationsfähigkeit nicht etwa ein Phänomen der Informationsarbeit sind.

Also: was hier passiert ist nicht vor der Schablone der Gegenüberstellung von alter Fabrikgesellschaft und moderner Dienstleistungsgesellschaft zu verstehen. Postfordismus, Postmoderne, Postindustrialismus, Informationsgesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft, gesellschaftlicher Arbeiter, immaterielle Arbeit... Wir sollten all diese Begriffe sehr vorsichtig, wenn überhaupt verwenden. Kürzlich habe ich sogar im hiesigen Stadtmagazin vom »heutigen Postkapitalismus« gelesen: he, wo leben die eigentlich? Auf dem Mars? Aber selbst da gibts ja inzwischen Maschinen, sogar kaputte und im Weltraum gabs auch schon Klassenkämpfe, spielen Konflikte um Arbeitsleistung, Schichtwechsel, Qualität, Abmahnung, Kündigung eine Rolle. Die Besatzung der MIR weiß davon ein Lied zu singen.

Macht die moderne Technologie arbeitslos?

Gibt es keine alten Fabriken mehr?

Es gibt die Fabriken: diese sind zwar in einem beständigen Umstrukturierungsprozeß, d.h. manche alten werden »modernisiert« oder ganz dicht gemacht; dafür entstehen wieder neue: das »modernste Motorenwerk der Welt« beim Benz in Mettingen, die »modernste Autofabrik Europas« in Hambach, die »modernste Chipfabrik Europas« in Dresden ... ich habe auch in »modernisierten Abteilungen« gearbeitet: mit »Gruppenarbeit«, mit »Gruppensprechern«, mit »modernster Technologie« und all dem Zeug. Ich behaupte: ein geschickter Requisiteur aus der Filmindustrie könnte die allermeisten Jobs in diesen modernen Fabriken mit geringem Aufwand so frisieren, daß man einen Film über Henry Fords Autofabrik River Rouge in Detroit um 1924 drehen könnte.

Auch mit der Technologie ist es nicht ganz so einfach, wie es uns die Arbeitssoziologie und andere weismachen wollen. In einer alten Abteilung hatten sie Anfang der 80er eine CNC-Anlage zum Schneiden aufgebaut. Das sollte Personal einsparen und eine bessere Qualität garantieren. Vorher hatte das ein Arbeiter von Hand gemacht. Dieser Versuch scheiterte komplett. Hinterher war nicht mehr nur ein Arbeiter nötig, sondern drei. Zwei »klassische«, nämlich einer der die Ungenauigkeiten der Maschine nacharbeitete (mit Qualität waržs bei der Maschine nicht weit her), einer der die Knöpfchen an der Maschine drückte und einen, der in gewisser Weise wirklich ein Arbeitnehmer »neuen Typs« war, nämlich die CNC programmierte. War schon in diesem Fall der Arbeiter »alten Typs« nicht verschwunden, sondern hatte sich auf wundervolle Weise verdoppelt, so war es in der modernisierten Halle noch krasser: die CNC war völlig verschwunden und der Arbeiter mit der Trennscheibe, die jetzt in einer simplen Führung lief und der Schleifhexe war wieder da. Dieses Beispiel soll verdeutlichen:

1. Nicht jede Einführung moderner Computertechnologie führt zum Verschwinden klassischer Industriearbeit. Unmittelbar nicht und mittelbar erst recht nicht (mit mittelbar meine ich, daß ja auch die Produktion des Chip oder des Gehäuses für die CNC Industriearbeit ist.)

2. Nicht jede Modernisierung bedeutet Einführung moderner Technologie wie in der restrukturierten Abteilung sichtbar. Genauer ausgedrückt: die modernste Stufe der Technologie ist hier eben der Arbeiter mit der Trennscheibe in der Hand. Modernität war hier Rückkehr zur Manpower.

Sicher gibt es auch viele Fälle, wo das andersrum läuft. Aber es ist falsch zu meinen, Technologie produziere generell Arbeitslosigkeit. Hat die Einführung der Dampfmaschine, des Elektromotors, die Atomtechnologie die Arbeit beseitigt? Genausowenig dürfen wir es vom Computer erwarten.

O.K., aber was hat es mit dem »Ende der Massenproduktion« auf sich, das mit dem Übergang zur Produktvielfalt begründet wird?

Henry Ford meinte damals, bei ihm könne man Autos in jeder Farbe kaufen, vorrausgesetzt sie sind schwarz. Ein beliebtes Zitat, um den »Postfordismus« zu begründen. Die Individualität der Kundenwünsche führe zum Ende der Massenproduktion, des Taylorismus, des Fließbandes, weiß Gott was sich die Apologeten dieser These noch alles davon versprechen, daß man heute sein Auto mit oder ohne Schiebedach kaufen kann.

Wie siehts in Wirklichkeit aus? Selbst in Fabriken, die eine sehr differenzierte Nachfrage bedienen, ist das Fließband keineswegs verschwunden. Im Gegenteil: in den letzten 5 Jahren wurde die Produktion eines relativ differenzierten Produkts wie Rolls Royce auf Fließband umgestellt (obwohl jeder Millionär seine eigene Vorstellung von der integrierten klimatisierten Zigarrenkiste hat). 1994 wurde die Produktion der Mercedes-Tuning Firma AMG auf Fließband umgestellt. Die LKW-Produktion von Mercedes in Wörth, wo eine ungeheure Typenvielfalt herrscht, läuft auch nach dem Anlauf des Actros voll am Band. Die A-Klasse, der Smart, die alten wie auch die neuen Abteilungen der Busproduktion - alles Band. Ein Ende des Fließbands ist nicht in Sicht. Sogar genau umgekehrt. Wo immer möglich, wird auf Fließfertigung umgestellt. Die Gegenüberstellung von »Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft« und der »fordistischen Produktion« ist falsch.

Funktioniert die Arbeitslosigkeit als Mittel, neue schlechter bezahlte und weniger garantierte Beschäftigungsformen zu etablieren?

Sind die Arbeitslosen wirklich schon so weichgekocht, daß sie alles akzeptieren?

Das Beeindruckende und Überraschende für mich beim Benz war die allgemeine Unzufriedenheit. Sie paßt so überhaupt nicht zum smarten Bild dieser Firma. Ein Kollege meinte mal: wenn wir das draußen erzählen, was hier abgeht, das glaubt uns kein Mensch, daß wir beim Daimler arbeiten. So gut wie alle, inklusive der Meister empfinden die Arbeit als Qual; man/frau kann zuschauen wie die eigene Gesundheit den Bach runtergeht. Natürlich gibt es noch hier und da einen schlanken Job, aber für die große Mehrheit gibt es sowas wie Arbeitszufriedenheit nicht. Die Firmen-Propaganda ist, was dieses Thema angeht, in den letzten Jahren auch schon leiser geworden. Spätestens mit dem Flop der Gruppenarbeit in Rastatt ist klar geworden: industrielle Produktion bei Mercedes in der BRD und anderswo bedeutet ganz normale taylorisierte Band- und Maschinenarbeit. Jobrotation, Jobenrichment, Jobenlargement, Gruppenarbeit sind Maßnahmen, die Arbeitsleistung des einzelnen zu erhöhen. Man kann schon hier und da mal einen kleinen Vorteil draus ziehen. Im Wesentlichen bedeutet es aber einfach: mehr Maloche. In Rastatt sollte der Bandanteil möglichst gering gehalten werden zugunsten von nicht-tayloriserter Boxenmontage in Gruppenarbeit. 1995 wurde das Rastatter Modell begraben, die Rückkehr zum Fließband stand an. Dies sage ich ohne Bedauern, denn die Montage in den Boxen soll mit das Stressigste gewesen sein, was es bei Benz gibt. Und so wundert es auch nicht, daß sie in Rastatt lange Zeit Probleme hatten, ArbeiterInnen zu finden. Es hatte sich wohl rumgesprochen. Ein junger Türke meinte »Benz - das ist doch wie Knast - da gehe ich nicht hin«. So mußten sie auch von ihren Vorstellungen von jungen, olympiareifen Mannschaften Abstand nehmen. Anfangs hieß es noch: Höchstalter 28 und dann: auch Arbeiter über 40 (!) erhalten eine Chance. Und das in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit und benachbartem Elsaß, wo die Löhne noch niedriger sind.

Auch in Wörth wurden die Töne, was Gruppenarbeit angeht, sehr bald leiser. Es war einfach nicht das Ding, als das es in den Medien gehandelt wurde.

Bei Mercedes in Wörth wird seit einigen Jahren verstärkt mit Befristungen gearbeitet. Die Zahl der Befristeten schwankt. In Phasen des Produktwechsels, in Wörth vor dem Produktwechsel zum neuen LKW-Modell, wurden die Befristeten auf 10% der Stammbelegschaft hochgefahren. Im Schnitt der letzten Jahre liegt der Anteil der Befristungen vielleicht bei 5 %. Das ist nicht viel. Aber es betrifft viele Leute: über die Jahre hinweg wurden so tausende von Leuten beim Daimler durchgeschleust. Neuerdings zahlt Daimler den neueingestellten Befristeten nur noch den Einstiegslohn von 80%. Es gibt sogar Projekte mit dem Arbeitsamt: Langzeitarbeitslose machen ein sechswöchiges, unbezahltes Praktikum, d.h. sie arbeiten die ersten sechs Wochen unbezahlt am Band, Daimler spart die Anlernkosten. Dann arbeiten sie auf 80% des Lohns, der teilweise von der Bundesanstalt für Arbeit subventioniert wird.

Mercedes Benz hat in den letzten Jahren, etwa seit der »Autokrise 92« das erfolgreichste Restrukturierungsprogramm der Firmengeschichte durchgezogen. Produktivitätssprünge von 50% waren keine Seltenheit. Diese Produktivitätssprünge waren nicht das Resultat technischer Rationalisierung, sondern haben ihre Grundlage zum großen Teil in mehr und härterer Maloche.

Wirkt die Arbeitslosigkeit als Erpressung? Für viele Festangestellte schon. Sie haben Angst vor Entlassung. Sie (natürlich nicht alle, aber eine Mehrheit) bekämpfen die Befristeten als mögliche Konkurrenten. Die Männer und Frauen, die seit Jahrzehnten am Band stehen, haben Angst, nach einer möglichen Entlassung auf der Straße zu sitzen. Nun ist diese Angst nicht völlig irrational. Sie wird aber maßlos übertrieben. Dies ist ein Resultat der Propaganda über die Schrecken der Arbeitslosigkeit. Wir haben es auch diesen Arschlöchern auf den Demos der Arbeitslosenbewegung zu verdanken, die sich Schilder mit »Nehme jede Arbeit« um den Hals hängen. Solche Bilder werden von den Medien besonders gern gezeigt.

Viele Personalchefs sitzen wohl selber dem Mythos des unterwürfigen, zu allem bereiten, nur auf Arbeit wartenden Millionenheers auf. Sie glauben, sie können mit den Befristeten alles machen. Aber wenn heute ein Industriebetrieb einen Metallarbeiter sucht, ist es schwieriger als je zuvor: das Angebot ist unübersichtlich geworden. Die Risiken jemand ungeeignetes zu kriegen sind hoch. Die »atmende Fabrik« läuft zunehmend Gefahr, bei ihren tiefen Atemzügen jede Menge schlechte Luft einzuatmen.

Das kann Hustenreiz auslösen: Beispiel Benz in Mannheim, Ende 97. Im Unterschied zu den Festangestellten kannten die neuen Befristeten den Arbeitsmarkt sehr genau. Sie wußten, daß es gar nicht so aussichtslos ist, Arbeit zu finden. Sie akzeptierten es keineswegs, als Kanonenfutter verheizt zu werden. Das Kuschen um die Übernahme in ein festes Arbeitsverhältnis hielt sich stark in Grenzen. Es kam zu lautstarken Konflikten mit Festangestellten und Meistern. Als der Lohn über den ersten Anlernmonat auf 80% blieb, kam es zu kleinen Aktionen in der Abteilung, kleinen Versammlungen von vielleicht 10-15 Leuten, gemeinsamen Gängen zu Meistern, Abteilungsleitern. Betriebsrat, Lohnbüro. Der Betriebsrat versuchte zu spalten und den Konflikt zu individualisieren (»Bei einigen werden wir das nochmal überprüfen«) Dieses Manöver ist mißlungen. Die Befristeten wollten die Zusage einer Nachzahlung für alle, unabhängig von ihrer konkreten Arbeitsleistung. Das Lohnbüro machte einen Rückzieher. Die 80% werden nachträglich aufgestockt. Ein kleiner Konflikt um eine Lohnfrage. Es ging nur um ein bißchen Kohle. Eigentlich nicht der Rede wert. Aber ich habe solche Konflikte schon 10 Jahre nicht mehr erlebt. Und an einem äußerst disziplinierten Band wie beim Benz macht das schon einigen Wirbel.

Sind die Arbeitslosen nicht zu den Demos gekommen, weil sie gerade gearbeitet haben?

Es gibt vielleicht 5 Millionen SchwarzarbeiterInnen in der BRD, zwanzigmal soviel, wie vor zwanzig Jahren. Die Zahlen sind ungefähr analog zur Arbeitslosigkeit. Die Rechnung ist aber nicht so einfach. Nur ein Viertel der 5 Millionen Schwarzarbeiter sind Arbeitslose. Die anderen sind Friseurinnen, die nach Feierabend Haare schneiden, Elektriker, die nebenher was machen, oder illegale Arbeiter, die aber nicht arbeitslos gemeldet sind.

Der Anteil der Arbeitslosen unter den Schwarzarbeitern korrelliert aber ungefähr mit dem Anteil der Langzeitarbeitslosen unter den Arbeitslosen.

Es gibt keine dauerhafte und/oder absolute Arbeitslosigkeit im Kapitalismus. Schwarzarbeit, Hausarbeit, unbezahlte Kulturarbeit, Sozialarbeit, Beziehungsarbeit, Kriminalitätsarbeit, Arbeitssucharbeit, Ämterarbeit... Kein Mensch kommt ohne die eine oder andere, vielmehr ohne eine Kombination verschiedener Formen der Arbeit aus. Kombinationen, die heute selten stabil sind. Aber auch früher, zu Zeiten des »Fordismus« waren sie weit weniger stabil, als der partielle Blick zurück aus der Perspektive eines mystifizierten Bildes des neuen Kapitalismus vermuten läßt.

Diese Instabilität ist nicht Resultat der Flexibilisierungsbedürfnisse des Postfordismus. Sie ist vielmehr Resultat von gelungenen und mißglückten Versuchen des Kapitals, die in den proletarischen Kämpfen artikulierten Bedürfnisse aufzunehmen und zu verwerten. Und sie ist nicht nur Resultat des Konflikts, sondern selbst und direkt ein Moment des Kampfs.

Sind Arbeitslose spaßig? Haben sie Glück dabei?

Ein Spaßvogel sprühte an das hiesige Arbeitsamt: Arbeitet niemals! Eine gute Idee, wenn auch nicht ganz neu. Aber wie soll das gehen? Als Programm der individuellen Arbeitsverweigerung kann der Vorsatz nicht wahrscheinlich nicht mal für den Sprayer selbst verhindern, daß er kurze Zeit später irgendwo gegen Hungerlohn malocht. Es ist in Zeiten, in denen jeder über Arbeitslosigkeit jammert, eine erfrischende Provokation. Aber der Slogan am Arbeitsamt trägt Eulen nach Athen. Die meisten Menschen hätten besseres zu tun, als zu arbeiten. Sie wissen nur nicht, wie das zu bewerkstelligen ist.

Sich zwischen zwei Jobs arbeitslos zu melden, einen längeren Urlaub mittels ALG zu organsieren (also das was früher der proletarische Gebrauch des Sozialstaats genannt wurde) ist heute zu einer breiten Selbstverständlichkeit geworden. Arbeitslosigkeit ist keine Schande mehr. Ein Kollege beim Benz meinte: »So wie hier in den letzten Jahren die Schraube der Arbeit angedreht wurde... Früher habe ich immer auf die Faulenzer geschimpft. Jetzt verstehe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Leute, die lieber den ganzen Tag am Kiosk rumstehen oder unter der Brücke sitzen.«

Entgegen allen Medienberichten über menschliche Dramen, hat die Arbeitslosigkeit für viele ihren Schrecken verloren. Aber Sozialknete ziehen ist auch nicht subversiv, auch nicht dann, wenn man die Alhi mit Kaufhausklau aufstockt. Die subversive Seite des proletarischen Gebrauchs des Sozialstaats drückt sich aus, bevor der Sozialstaat überhaupt in Anspruch genommen wird: dann nämlich, wenn die Drohung des Meisters »Wenn du dich nicht am Riemen reißt, setze ich Dich auf die Straße« nur noch ein müdes Lächeln hervorruft: »Und weiter?«

Die Arbeitslosenbewegung - eine seltsame Symbiose

In der Arbeitslosenbewegung trifft man/frau auf höchst unterschiedliche Motive, Richtungen und Ziele. Für die einen ist es eine Bewegung gegen Arbeitslosigkeit. Ihre gesellschaftliche Utopie ist der Ameisenhaufen: »Arbeit für alle«. Das sind im wesentlichen Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Das propagandistische Ziel Vollbeschäftigung wollen sie über einen Regierungswechsel erreichen: »Kohl muß weg.« Für sie ist die Bewegung ganz unmittelbar Wahlkampf.

Die kritischen Ränder dieser Strömung ahnen, worauf sie sich da eingelassen haben. Deshalb erweitern sie den Ameisenstaat um ein sozusagen selbstbestimmtes, gerechtes, humanes Modell: Arbeit zu annehmbaren Bedingungen für alle, die es wollen. Diese Modifizierung emanzipiert sich aber nicht wirklich von den Planern des Ameisenstaats. Sie operiert nur an der langen Leine. Was sind annehmbare Bedingungen?

Die Stoßrichtung der radikalen Linken ist dem offiziellen Kampf gegen die Arbeitslosigkeit eigentlich entgegengesetzt. Sie kämpfen gegen die neuen Zumutungen der Arbeits- und Sozialämter, gegen die wieder um sich greifenden Versuche, Zwangsarbeit durchzusetzen. Die Arbeitslosenbewegung ist für sie ein Medium die Massen zu erreichen, indem ein Punkt der gesellschaftlichen Unzufriedenheit thematisiert wird. Die Beziehung zur offiziellen Bewegung ist taktisch. Man hofft, die durch die breite Berichterstattung der Medien verstärkte gesellschaftliche Sensibilität zu nutzen, um die eigenen Inhalte zu vermitteln. Eine paradoxe Symbiose: der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und in direkter Anlehnung daran der Kampf gegen die Folgen dieses Kampfes, die immer deutlicher werden: Zwangsarbeit, Niedriglohnprogramme, Verstärkung des Arbeitszwangs.

Es ist wichtig, der entstehenden »neuen, deutschen Arbeitsfront« was entgegenzusetzen. Deshalb rede ich auch nicht einer vornehmen Zurückhaltung das Wort. Aber wie verhindern, daß die radikaleren Initiativen vereinnahmt werden, daß wir zu den Demos gehen, um der Arbeitsfront was entgegenzusetzen und uns hinterher im Fernsehen als die Träger gerade dieser Politik dargestellt sehen? Und es ja auch teilweise unfreiwillig sind?

Mit Kohl und Kapital französisch reden?

Oder doch lieber gar nicht?

War die französische Bewegung wirklich besser?

Wirklich massenhafter war sie nicht. So beteiligten sich am dritten deutschen Aktionstag nach Angaben der Veranstalter ca. 50000 Menschen. Mehr waren es in Frankreich auch nicht. Allerdings war die Frequenz der Aktionen höher. Die Aktionen waren viel militanter. Die radikale Linke hatte einen größeren Anteil als hier. Die Flugblätter waren lebendiger.

Mit der Entwicklung eines politischen Begriffs von Prekarität haben Teile der AktivistInnen erkannt, daß eine Organisierung »der Arbeitslosen« unmöglich ist, weil es sie so als stabile gesellschaftliche Schicht gar nicht gibt. Daß »die Arbeitslosen« eine rechtliche Kategorie sind. Wohl aber gibt es zunehmend prekäre Lebensverhältnisse, die Rotation zwischen Niedriglohnjob, Alg/Alhi/Sozi-Bezug, ABM, Zwangsarbeit, Umschulung, Weiterbildung. Auch hat die Bewegung teilweise erfolgreich neue Räume der Kommunikation geöffnet.

Aber gerade da wird es problematisch: es sind tatsächlich große gesellschaftliche Bereiche entstanden, die nicht mehr oder nur marginal in den formellen Kreisläufen der kapitalistischen Ökonomie auftauchen. Was nicht heißt, daß sie außerhalb des Kaptalismus stehen. Nicht einmal daß sie insgesamt marginal wären: beispielsweise ist die Drogenökonomie einer der wichtigen kapitalistischen Sektoren, aber eben informell und halb- oder illegal.

Diese gesellschaftlichen Bereiche stehen auch zu den Institutionen der sozialen und politischen Vermittlung in keiner stabilen Beziehung. Und sie revoltieren. Die Träger der Randalen in den Vorstädten waren ganz andere als die der Arbeitslosenbewegung. Sie sind nicht rechts, nicht links, noch nicht einmal wesentlich unter islamistischer Kontrolle. Sie sind patriarchal, gewalttätig, zerstörerisch, wenn auch vielleicht anders, als die Medien das darstellen. Sie sind die Bösen. Die Träger der Arbeitslosenbewegung gelten zwar auch als Anarchisten, aber mit denen gibt es einen Dialog. Teilweise (aber nur teilweise!) ohne es zu wollen, versucht die Arbeitslosenbewegung neue Kanäle der Vermittlung, Dialoge, Beziehungen zwischen staatlicher Macht und denen, die bislang zwar nicht außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, aber ohne Bezug zu deren Integrationsinstanzen waren. Sie bietet dem Kapital via Sozialstaat die Chance die abgebrochenen Verbindungen wieder aufzubauen, die Chance der Reintegration. Die Arbeitslosenbewegung kommt damit dem Kapital sehr gelegen, auch wenn sie in den Zeitungen angefeindet, von Bullen niedergeknüppelt wird. Hauptsache man redet miteinander. Sie eröffnet dem Staat die Möglichkeit der Differenzierung in Reintegrierbare und in solche, die man aufgeben muß.

Werden die Armen immer ärmer?

Ein weitverbreiteter Mythos der Arbeitslosenbewegung, der Linken insgesamt, der bürgerlichen Öffentlichkeit überhaupt ist dieser: die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer. Natürlich stimmt das für bestimmte Gruppen, etwa RentnerInnen oder MigrantInnen. Aber: in gewisser Weise ist diese Sichtweise self-fulfilling-prophecy. Eine Armuts-, Elends-, und Opferpropaganda erzeugt nicht rebellisches Selbstbewußtsein, sondern Lethargie und Angst.

Eine Statistik der OECD kommt zu anderen Schlüssen. Untersucht wurde das Verhältnis der Einkommen der obersten 10% zu dem der untersten 10%. Die Untersuchung ergibt, daß die Schere in Deutschland seit Anfang der 80er Jahre sehr stabil in einem Verhältnis von ca. 2,2 ist, gegenüber 4,3 in USA, 3,3 in Frankreich, 3,3 in GB, 2,8 in Japan. In allen Ländern außer Deutschland hat sich die Schere in den letzten zehn Jahren stark geöffnet. Lediglich in Italien ist das Verhältnis ähnlich wie in BRD, mit einem Einbruch im Jahr '91, der zum Anstieg von 2,2 auf 2,6 bei steigender Tendenz führt. Die Wirtschaftswoche kommentiert die Statistik mit dem Sichwort »Deutsche Gleichmacherei«.

Wir sollten auf keinen Fall kapitalistische Ziele oder Tendenzen mit der Realität verwechseln.

Eine Folge der Massenarbeitslosigkeit ist das Wiederauftauchen der sozialen Frage. Die soziale Frage wird gestellt, um der Frage nach einer anderen Gesellschaft zuvorzukommen. Sie kennt nur das Leiden und die Ohnmacht. Sie kennt nicht den Kampf und wenn, dann nur als defensive Reaktion. Die soziale Frage provoziert Strategien des Reformismus: Gerechtigkeit, Arbeitszeitverkürzung, Umverteilung von oben nach unten. Die soziale Frage sieht nicht die Dynamik der Konflikte, sieht nicht die Träger des Kampfes, sondern problematische Strukturen und Mechanismen, deren negative Auswirkungen es zu beherrschen gilt. Die Strukturen der Weltwirtschaft, die Stukturen des Sozialstaats, die Verteilungsmechanismen, die Strukturen der modernen Arbeitsgesellschaft. Die soziale Frage nimmt Arbeitslosigkeit durch die Schablone des individuellen Massenelends wahr. Das führt dazu, nur noch arme Menschen zu sehen. Opfer, die nicht handeln, die Hilfe, Sozialarbeit, Betreuung, Führung brauchen.

Keine Macht für die, die uns als ohnmächtig hinstellen, weil sie uns gerne so hätten!

12. April 1998, Redaktion Mannheim/Ludwigshafen


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