Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 - Februar 1999 - S. 23-33 [z46exis2.htm]


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Existenzgeldforderung und landläufige Vorstellungen

oder: Warum schreiben sich Linke die kapitalistische Reproduktion auf ihre Fahnen?

Praktische Orientierungen haben immer etwas mit der Art und Weise zu tun, wie über Gesellschaft nachgedacht wird. Der aktuelle Streit über Kampagnen für ein Existenzgeld läßt sich nicht verstehen, ohne den dahinterliegenden Gesellschaftsvorstellungen auf den Grund zu gehen.

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze und Methoden, über Gesellschaft nachzudenken: die eine stellt sich die Gesellschaft als die Summe vieler Individuen vor, die zueinander in Beziehung treten, miteinander kommunizieren usw.. Ausgangspunkt ist bei dieser Betrachtungsweise das vereinzelte Individuum. Die Beziehungen, Gruppen, Schichten, Klassen usw. werden erst durch das Aufeinandereinwirken und das Sich-Zusammenfinden der einzelnen Individuen hergestellt. Diese theoretische Betrachtungsweise entspricht dem Ideal der individuellen Selbständigkeit, an dem sich die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft orientieren. Jede und jeder möchte seine eigenen Gedanken haben, seine eigene Einzigartigkeit herausfinden, das tun, was sie oder er selber »wirklich will« usw.. Seit Mitte der 80er Jahre hat sich dieses Denken nach dem Scheitern neuer Formen des Zusammenlebens wieder verstärkt durchgesetzt. Erstmals aufgekommen war diese Vorstellung vom autonomen Einzelindividuum in der Aufklärung, als danach gefragt wurde, wie die vereinzelten und isolierten Menschen überhaupt dazu kommen, sich zu einer Gesellschaft und einem Staat zusammenzuschließen. Da diese Denker von der Atomisierung als Naturzustand ausgingen, konstruierten sie einen »Vertrag« zwischen den Individuen, durch den sie Gesellschaft und Staat konstituieren, ohne dabei auf ihre individuelle Freiheit und Autonomie verzichten zu müssen (z.B. Rousseau oder Hobbes).

Die andere Herangehensweise stellt in Rechnung, daß der Mensch nicht von Natur aus ein vereinzeltes Wesen ist, sondern daß die Atomisierung Merkmal einer besonderen, historischen Form von Gesellschaft ist. Er steht immer schon im gesellschaftlichen Zusammenhang - der ihm aber unter den historischen Bedingungen der Vereinzelung als eine ihm äußerliche »Struktur« erscheinen muß. [1] Die zweite Herangehensweise geht von vornherein vom Zusammenhang der Menschen miteinander aus - statt ihn sich als etwas von den einzelnen Menschen erst nachträglich hergestelltes zu denken (dies wurde als der Standpunkt der »Totalität« bezeichnet, d.h. Gesellschaft kann nur als eine in sich widersprüchliche Einheit gedacht werden).

Der Gegensatz zwischen den beiden Herangehensweisen steckt hinter der gesamten Debatte um Grundsicherung und Sozialstaat. Vom methodischen Standpunkt des Individualismus aus ist die Forderung nach einem Mindesteinkommen sowohl taktisch wie inhaltlich schlüssig: die Forderung soll eine Masse vereinzelter Individuen zusammenzuführen, die bisher in keinem Zusammenhang untereinander standen, und mit ihrer Durchsetzung wird die Grundlage für die Autonomie der Individuen geschaffen. Der dahinterliegende methodische Standpunkt immunisiert gegen Kritik, denn vom vereinzelten Individuum ausgehend gibt es keine historischen Tendenzen, Entwicklungsrichtungen, Klassenbeziehungen, strukturell begründete Konfliktlinien, sondern nur die freie Tat der Menschen. Wenn sie sich auf einer Konferenz über eine Forderung verständigen, so hängt es allein von ihnen ab, was sie aus der »Ambivalenz« der Forderung machen.

Die Reproduktion ist ambivalent, weil sie verkehrt erscheint

Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Totalität, des Gesamtzusammenhangs der gesellschaftlichen Reproduktion aus gibt es aber diese Ambivalenz nicht mehr. Die Forderung zeigt sich dann in eindeutiger Weise als Teil der aktuellen Veränderungen in der kapitalistischen Reproduktion der Individuen - und nicht deren Überwindung.

Vom einzelnen Individuum aus betrachtet ist das Einkommen - ob Lohn oder Sozialleistung - das Mittel für den eigenen Konsum und Genuß. Es benutzt es für sich und nicht für jemand anderen. Vom gesellschaftlichen Standpunkt aus betrachtet ist der individuelle Konsum hingegen Mittel der Reproduktion der Gesellschaft, die aus den Individuen besteht. Es versteht sich von selbst, daß dies nur dann ein Widerspruch ist, wenn Individuum und Gesellschaft auseinanderfallen und in einen Gegensatz zueinander treten. Denn das Individuum ist Gesellschaft, ist nichts anderes als das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, und die Gesellschaft ist keine eigenständige »Struktur« und kein selbständiges »Subjekt«, sondern wird durch die Beziehungen der Individuen konstituiert. Es ist ein spezifisches Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft, daß »die Gesellschaft« den Individuen als feindliche und fremde Macht gegenübertritt. Sie geraten andauernd in Lebensumstände und Verhältnisse, denen sie sich gegen ihren Willen anpassen und unterwerfen müssen. Vom Standpunkt der kapitalistischen Gesellschaft wird die Tätigkeit des Individuum zum bloßen Mittel für die Reproduktion »der Gesellschaft«, d.h. des Kapitals.

Reproduktion als Arbeitskraft ist kapitalistische Reproduktion

Das Individuum reproduziert in seinem Konsum sich selber als Arbeitskraft für das Kapital - ob sie nun gerade genutzt wird oder nicht. Als prinzipiell verfügbare Arbeitskraft reproduziert sich das Individuum in seinem Konsum nur, wenn dabei zweierlei passiert: wenn es sich erstens als lebendiges menschliches Wesen erhält, statt zu verhungern oder krank zu werden, und wenn es zweitens durch den Konsum immer wieder den Zustand seiner Eigentumslosigkeit herstellt, d.h. sein gesamtes Einkommen verkonsumiert - statt sich davon Fabriken, Maschinen und Arbeitskraft zu kaufen, um selber zum Ausbeuter zu werden - oder, und dies wäre der kommunistische Ausweg, im seinem Konsum zugleich das Problem der gesellschaftlichen Produktion in einer Weise löst, daß es sich anschließend nicht wieder auf die ihm fremden Produktionsbedingungen als Kapital beziehen muß.

Solange diese beiden Bedingungen erfüllt sind, handelt es sich um kapitalistische Reproduktion. Durch den Konsum hindurch wird nicht nur das körperliche und geistige Weiterleben des Individuums gesichert, sondern zugleich seine Einordnung in das Klassenverhältnis, d.h. seine Bestimmung, Arbeitskraft für etwas Anderes, Fremdes, eben das Kapital zu sein. Dieser Charakter der kapitalistischen Reproduktion ist unabhängig davon, wie im einzelnen die Arbeitskraft der Menschen vom Kapital im Produktionsprozeß genutzt wird - ob von allen gleichzeitig, oder abwechselnd oder nur von einem Teil der Individuen. Entscheidend ist, daß sie als Arbeitskraft reproduziert werden, als Eigentumslose. Der kapitalistische Charakter wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß es Einzelnen gelingen kann, sich auf die andere Seite zu schlagen und durch Überarbeitung und Enthaltsamkeit selber zum Ausbeuter zu werden. Was reproduziert wird, ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis - ein Klassenverhältnis.

Würden wir im Denken oder im Handeln vom Konsum und der Reproduktion des Individuums in der Gesellschaft ausgehen, so würden uns alle Verhältnisse genauso verkehrt und falsch erscheinen, wie es in der kapitalistischen Gesellschaft ständig passiert. Und in unseren Aktionen würden wir nur immer wieder das Klassenverhältnis reproduzieren, von dem wir ausgegangen sind, indem wir das Individuum in seiner Eigentumslosigkeit unhinterfragt zum Ausgangspunkt genommen haben. Während das Individuum meint, sich im eigenen Konsum selber zu reproduzieren, so reproduziert es da hindurch in Wirklichkeit und im Wesentlichen sich als Arbeitskraft, also das gesellschaftliche Klassenverhältnis. Während die theoretischen Begründungen für ein Existenzgeld immer schon vom Standpunkt der individuellen Reproduktion ausgehen, müssen wir für eine revolutionäre Theorie, d.h. eine Theorie des entfremdeten und verrückten Charakters dieser Gesellschaft, von vornherein vom Klassenverhältnis und dessen Reproduktion durch den Sozialstaat hindurch ausgehen.

Bedürftigkeit oder gesellschaftlicher Reichtum?

Das ist der methodische Knackpunkt und die ganze Schwierigkeit bei der Diskussion um das Existenzgeld. Gruppen wie »Blauer Montag« oder »Fels / Arranca« fallen bei der Betrachtung des Einkommens wie automatisch auf den individuellen Ausgangspunkt zurück, selbst wenn sie sich anderes vorgenommen hatten. Sie wollen zwar auf Klassenkampf hinaus, aber sie gehen nicht vom Klassenverhältnis als einer gesellschaftlichen Totalität aus, sondern von vereinzelten Individuen, die erst durch die Forderung und Aktion zusammengebracht werden müssen. Das Fehlen berauschender Kämpfe und das soziologische Gelabere über Prekarisierung und Segmentierung läßt sie vergessen, daß der Ausgangspunkt im Kapitalismus immer schon das gesellschaftliche Klassenverhältnis ist. Stattdessen stellen sie sich eine Mobilisierung über den individuellen Bezug des Individuums auf seine eigene Bedürftigkeit vor. In ihren Formulierungen wird das Einkommen der Proletarier, das nur das Medium der Reproduktion des Klassenverhältnisses ist, zur »Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum« oder zur »Partizipation am gesellschaftlichen Prozeß«. In dieser Betrachtungsweise steht das Individuum der Gesellschaft gegenüber und tritt über sein individuellen Einkommen in Kontakt zu ihr.

Diese Vereinzelung im Einkommen ist eine gesellschaftliche Qualität und beruht auf der bestimmten Form des gesellschaftlichen Zusammenhangs von Produktion und Reproduktion, der immer schon vorausgesetzt ist. Der Reichtum ist ihr eigener Reichtum, der ihres eigenen Zusammenhangs. Es geht nicht darum, sie daran »teilhaben« zu lassen, sondern die permanente Enteignung aufzuheben, die alle Proletarier - ob sie nun arbeiten, Rente beziehen, arbeitslos sind oder zur Schule gehen - von ihrem eigenen Reichtum trennt.

Gehen wir von der Trennung und der Getrenntheit statt von der Einheit oder Totalität (in ihrer verrückten Form) aus, wie es die gesamte moderne Soziologie und Wissenschaft tut, dann landen wir zwangsläufig bei moderaten Umverteilungsideen, die die verrückte Form nicht angreifen, sondern aufrechterhalten. Statt den Vorgang der Trennung zu untersuchen und zu kritisieren, d.h. die Produktion des Reichtums als Kapital, woraus sich die Formen des individuellen Einkommens ergeben, wird vom Einkommen ausgegangen, als ob es eine eigenständige, willkürlich zu bestimmende Form sei. Über das Einkommen soll dann eine bessere oder »gerechtere« Beziehung zu dem Reichtum hergestellt werden, dessen abgetrennte Form damit akzeptiert wird. Dabei wird das Einkommen zu einer scheinbar reinen Innenbeziehung des Individuums auf sich selbst, wenn von »Bedürfnisbefriedigung« oder »lebenswertem Leben« (LiRa) als seinem Maßstab gesprochen wird. Jedes Verwaltungsgericht, das über den Regelbedarf der Sozialhilfe entscheidet, hat mehr Ahnung von der Totalität des gesellschaftlichen Individuums, weil es seinen Bedarf an den Lebensgewohnheiten der Vergleichsgruppe der »Personen mit niedrigem Einkommen« mißt, also an Dimensionen des gesellschaftlichen Reichtums - natürlich in den Formen und Grenzen der Klassengesellschaft.

Der Reichtum ist die Produktion der Bedürfnisse

Im Einkommen erscheint das Bedürfnis als der vorausgesetzte Maßstab - im wirklichen historischen Prozeß der Selbst-Produktion des gesellschaftlichen Lebens erzeugen die Proletarier als Produzenten ihre Bedürfnisse immer neu und vervielfältigen sie. Der Maßstab ist nie ein gegebenes Bedürfnis oder eine vorgefundene Vorstellung von »lebenswert«, sondern ihre eigene Macht der Produktion. In Bezug auf diese ist das proletarische Einkommen im Kapitalismus immer eine Vermittlung der Ausbeutung. Im Begriff der »Teilhabe«, der aus der katholischen Soziallehre und dem bürgerlichen Grübeln über die beängstigende »soziale Frage« stammt, wird das Verhältnis der Ausbeutung begrifflich ins Gegenteil verkehrt. »Teilhabe« ist der ideologische Schein, mit dem die Ausbeutung verschleiert werden soll. Damit läßt sich nicht gegen den Kapitalismus kämpfen, sondern nur zu seiner ideologischen Festigung beitragen.

Existenzgeld - darüber läßt der Staat mit sich reden

Auch wenn viel über die »Ambivalenz« der Forderung und die »Offenheit« des weiteren Prozesses geredet wird, ist es kein Zufall, daß gerade die Forderung nach 1500 Mark rauskommt (und nicht z.B. die ähnlich interessante Forderung der APPD nach 1 Million Überziehungskredit auf allen Girokonten). Der Betrag liegt deutlich über dem vom Gesundheitsministerium errechneten Bedarfsniveau der Sozialhilfe für einen Alleinstehendenhaushalt von 1.126 Mark [2] oder der durchschnittlichen Arbeitslosenhilfe von 1.073 Mark und leicht über dem durchschnittlichen Arbeitslosengeld von 1.424 Mark [3]. Gleichzeitig bleibt er deutlich unter dem durchschnittlichen verfügbaren Einkommen eines Einpersonen-Arbeiterhaushalts von etwa 2.500 Mark [4]. Der Betrag ist also keineswegs aus der Luft gegriffen, er fügt sich brav in die Logik des Lohnabstandsgebots ein, wie es im Bundessozialhilfegesetzes rechtlich vorgeschrieben ist. Sozialleistungen sollen stets so knapp bemessen sein, daß selbst die Aufnahme einer miesen Arbeit noch zu einer Steigerung des Einkommens führt.

Um radikal zu bleiben, wird die Forderung ergänzt: »plus Miete« (was auch noch unter dem Durchschnittseinkommen des Single-Haushalts liegt); »plus Krankenversicherung«, »plus Mehrbedarfszuschläge bei Behinderung oder Krankheit«, und, und, und ... Da wären wir schnell bei einer Diskussion um das gesamte System sozialstaatlicher Sicherung - aber gerade darauf wollen sich die Gruppen mit gesellschaftsveränderndem Anspruch nicht einlassen. [5] Schließlich wollen sie sich nicht an der Diskussion um den Umbau des Sozialstaats beteiligen. Was bleibt dann aber? Die Attraktivität eines Geldbetrags, der in etwa dem entspricht, was schon bisher durch Kombinationen von Sozi, Arbeitslosenunterstützung, BAFöG und Schwarzarbeit rauskam - nur ohne den Streß auf Ämtern und ohne nervige Gelegenheitsjobs. Anders gesagt: die Plausibilität der Forderung speist sich aus den Verhaltensweisen einer bestimmten Schicht, die den Sozialstaat eigentlich ganz gut für sich benutzen kann, ihn eigentlich für eine feine Sache hält, wenn da nur nicht diese lästigen Ämter wären. Es ist der Versuch, das eigene individuelle Umgehen mit dem Sozialstaat politisch in einer Forderung auszudrücken. Und ganz »zufällig« kommt die Forderung den Grundsicherungsmodellen von staatlicher Seite sehr nahe, wodurch sie »bündnisfähig« und »politikrelevant« werden kann. [6]

Das Existenzgeld im Rahmen der Gesamtreproduktion

Noch deutlicher wird die Einordnung des geforderten Existenzgeldes in den Gesamtzusammenhang der Reproduktion des Klassenverhältnisses und damit seine objektive Erbärmlichkeit, wenn wir uns die Aufteilung des Gesamteinkommens anschauen. Dabei wird dann auch deutlich, daß ein Existenzgeld nicht schon deswegen die »Lohnarbeitszentriertheit« des Kapitalismus aufhebt, weil es Einkommen ohne Arbeit ist. Das gehört nämlich zum festen Bestandteil der kapitalistischen Reproduktion.

Zunächst ein paar Vorbemerkungen: Der Konsum der Proletarier, in dem sich die Reproduktion des Klassenverhältnisses vollzieht, hat sich noch nie allein aus dem Lohn der unmittelbar geleisteten Arbeit gespeist. Entweder wurde der Lohn des Einzelkapitalisten durch Formen eigener Reproduktionsarbeit ergänzt (sogenannte Subsistenzarbeit und Semiproletarisierung), oder in dem Maße, wie diese wegfiel, durch einzelkapitalistische, staatliche oder semi-staatliche Ergänzungszahlungen und -leistungen. Die Reproduktion der Arbeiterklasse beruht nicht allein auf Geldleistungen, sondern auch auf Sach- und Dienstleistungen, die z.B. im Krankheitswesen zur Verfügung gestellt werden. Aufgrund der allgemeinen kapitalistischen Verfaßtheit werden sie heute zwar in Geld ausgedrückt, aber sie gehören nicht zu dem Geldeinkommen, über das die Proletarier frei entscheiden können (ich kann mir nicht statt eines Arztbesuchs eine Flasche Schnaps kaufen, oder statt den Lehrer zu bezahlen mit den Kindern ans Meer fahren). Ein großer Teil ihres Einkommens bzw. Konsums ist ihnen damit vorgegeben, wird vom Staat und seinen Bediensteten kontrolliert, damit es zweckmäßig für die Reproduktion des Klassenverhältnisse verwendet wird. Auf der anderen Seite steht der in den Statistiken ausgewiesene Brutto-Geldlohn den Proletariern aufgrund der Abzüge nicht vollständig als Einkommen zu Verfügung. Und drittens leben die Proletarier nicht alle als Einzelindividuen, d.h. die Frage ist immer auch, wie viele Menschen aus dem verfügbaren Einkommen reproduziert werden müssen. Um einen groben Eindruck von den Verhältnissen der kapitalistischen Reproduktion zu gewinnen, gehen wir daher von der statistisch erfaßten Verteilung der Einkommen nach Haushalten aus.

1996 zählten die Statistiker in der BRD 82 Mio. Menschen, die in 37 Mio. Haushalten lebten - darunter 13 Mio. Einpersonen-, 12 Mio. Zweipersonen-, 6 Mio. Dreipersonenhaushalte und 6 Mio. Haushalte mit vier und mehr Personen. Diese 37 Mio. Haushalte teilen sich entsprechend der Haupteinnahmequelle wie folgt auf: 2,4 Mio. Selbständige, 17 Mio. Erwerbstätige (1,7 Mio. Beamte, 8,2 Mio. Angestellte, 7,5 Mio. Arbeiter) und 17 Mio. Nichterwerbstätige (1,8 Mio. Arbeitslosengeld/-hilfe, 12,3 Mio. Rente und Pensionen, 1 Mio. Sozialhilfe und 1,9 Mio. sonstige Quellen). [7]

Aus diesen Zahlen geht hervor, daß der Kapitalismus einen großen Anteil von Nichtarbeit finanziert, wobei nicht Arbeitslosigkeit sondern die Nichtarbeit im Alter den bei weitem größten Teil ausmacht. In dem hochtrabenden Anspruch, mit einem Existenzgeld gegen die »Lohnarbeitszentriertheit der Gesellschaft« vorzugehen, werden diese realen Dimensionen völlig übersehen. Dasselbe zeigt auch ein Blick in die Gesamtausgaben des Sozialstaats: vom Sozialbudget der BRD, das etwa ein Drittel des Bruttosozialprodukts ausmacht, entfallen 30 Prozent auf die Rentenversicherung, 20 Prozent auf die Krankenversicherung, 11 Prozent auf die Arbeitslosenversicherung und nur 4 Prozent auf die Sozialhilfe - die gesamten Sozialhilfeausgaben sind damit gerade so hoch, wie die Ausgaben der Unternehmer für die Bezahlung von Nichtarbeit im Krankheitsfall (Lohnfortzahlung)!

Ein anderes Rechenbeispiel kann die Dimensionen der gesellschaftlichen Arbeits- und Nichtarbeitszeit verdeutlichen: Bei der aktuellen Beteiligung am »Erwerbsleben« würden mit einer beim Wort genommenen »Rente mit 60« (was die Gewerkschaften nicht ernsthaft vorschlagen!) auf einen Schlag 800 000 Menschen von der Qual der Erwerbsarbeit befreit. Entsprechendes gilt für die Frage der Ausbildungszeiten. Hätten alle Menschen einen Anspruch darauf, bis 30 zu studieren und diese Zeit ohne den Zwang zu Jobberei als Phase »lebensgeschichtlicher Reflexion« zu nutzen, so würden den Kapitalisten weitere 2 Mio. Arbeitskräfte fehlen. Die Erwerbsquote der 15-20jährigen ist in den letzten zehn Jahren in Westdeutschland von 47 auf 34 Prozent zurückgegangen - ohne daß damit die »Lohnarbeitszentriertheit der Gesellschaft« in Frage gestellt worden wäre.

Alle Zahlungen für Nichtarbeit sind umkämpft und werden gerade zur Zeit an vielen Punkten angegriffen. Aber Geld für Nichtarbeit ist nicht schon als solches »antikapitalistisch«, sondern auch ein Moment der kapitalistischen Reproduktion der Arbeitskraft: die arbeitsfreie Jugendzeit soll eine Qualifizierung für die Lohnarbeit ermöglichen; Krankheitstage werden bezahlt, um die Arbeitskraft für die hochintensive Ausbeutung fit zu halten; das gesicherte Ruhegeld ist die »Durchhalteprämie« für ein aufopferungsvolles Arbeitsleben. Solange die bezahlte Nichtarbeit der kapitalistischen Verwertung dient, wird sie nicht in Frage gestellt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung hat immer wieder betont, daß Einrichtungen wie das »Gesundheitswesen« nicht einfach »zu teuer« geworden sind, sondern daß das Preis-Leistungs-Verhältnis für den Kapitalprofit nicht mehr stimmt. Die Ausgaben für den Sozialstaat werden dysfunktional, weil sie zu keiner Steigerung der Mehrwertmasse führen. [8] Aus diesem Grund wird heute von den Herrschenden über Modelle der Grundsicherung nachgedacht.

Für die linken Verfechter ist das Existenzgeld eine Art Zauberformel, die all diese umkämpften Einkommensformen in einer einfachen Forderung des Individuums an den Staat zusammenfassen und damit die Menschen zu gemeinsamen Kämpfen führen soll. In Wirklichkeit ist es aber zugeschnitten auf eine ganz bestimmte Schicht und von deren Verhaltensweisen abgeleitet; es ignoriert die tatsächlichen Einkommensverhältnisse, die auf dem Klassenverhältnis beruhen und nur von da aus radikalisiert werden können. Bestenfalls wird es dem Universum der Konflikte um das proletarische Einkommen gegenüber bedeutungslos bleiben, schlimmstenfalls wird es zur Legitimation eines profitorientierten Umbaus des Sozialstaats beitragen.

Das wird klar, wenn wir die Einkommenshöhe der Haushalte betrachten. Angesichts der aktuellen Einkommen wären 1500 Mark (ob mit oder ohne Miete) Grundsicherung kein Beinbruch für die kapitalistische Reproduktion der Arbeitskraft. Für die Masse der Proletarier bewegt sich dieser Betrag auf dem beschissenen Level, auf dem sie schon heute stehen und dem sie jeden Tag in ihren Träumen zu entfliehen versuchen.

Das verfügbare monatliche Einkommen der Haushalte verteilt sich (als Einkommen pro Haushaltsmitglied! und ohne nichtentnommene Unternehmergewinne) wie folgt: [9] Selbständige 5.200 Mark, Beamte 2.600, Angestellte 2.400, Arbeiter 1.660, Arbeitslosengeld/hilfe 1.300, Rente 2.200 (Pension 3.500) und Sozialhilfe 1.000 Mark.

Das alles zusammengenommen - also sowohl den Konsum der Kapitalisten wie den der Proletarier - bleiben vom gesamten gesellschaftlichen Produkt 20 Prozent übrig, die wieder als Investitionen in die kapitalistische Produktion einfließen. Für die Kapitalisten ist das schmerzlich wenig im Vergleich zu Raten von über 25 Prozent in den 50er und 60er Jahren und ein wesentliches Faktum der kapitalistischen Krise. Aber es ist immer noch Ausdruck des kapitalistischen Charakters der Reproduktion, daß sich durch den Konsum hindurch die Klassenverhältnisse reproduzieren. Eine Grundsicherung von 1.500, 2.000 oder 2.500 Mark monatlich würde daran nichts ändern. Im Gegenteil, gerade der gesellschaftskritische Gestus, mit dem diese Forderung vorgetragen wird, trägt dazu bei, den Gesamtzusammenhang der beständigen Reproduktion des Kapitals zu verbergen.

Politikfähigkeit oder Emanzipation?

Diese groben Zahlen machen klar, warum 1.500 Mark als Forderung für das Mitmischen im politischen Geschäft so geeignet sind. Der Betrag bewegt sich in den Dimensionen, die das Sozialbudget und die gesamte Reproduktion der Arbeiterklasse schon heute haben. Und als Vorschlag für eine Veränderung am Sozialstaat kann die Forderung in den aktuellen Diskussionen um die im kapitalistischen Interesse erforderliche Anpassung des jetzigen Transfersystems an die geänderten Klassenverhältnisse genutzt werden. Würde man z.B. das Durchschnittseinkommen der 11 Mio. Rentnerhaushalte von 2.200 Mark im Zuge einer Umstellung auf Grundsicherung auf 1.500 Mark absenken, dann wäre selbst eine Aufstockung der 2,8 Mio. Arbeitslosen- und Sozialhilfehaushalte auf 1.500 Mark pro Person ein Bombenerfolg bei der Kürzung des Sozialbudgets.

Solche Rechenbeispiele können wir getrost den kapitalistischen Planern und Sozialexperten überlassen. Sie machen nur klar, daß es auf der Ebene der individuellen Einkommen keine Zauberformel gibt, über die sich die schon heute tobenden verschiedenen Einkommenskonflikte zusammenführen ließen. Denn auf dieser Ebene läßt sich nicht die Macht entwickeln, die in der Widersprüchlichkeit des Klassenverhältnisses begründet ist: die ProletarierInnen sind die ProduzentInnen des Reichtums und vermittelt über das Einkommen werden sie von ihm enteignet. Über diesen zentralen Widerspruch wird heute mit ein paar oberflächlichen Bemerkungen zur neuen Produktionsstruktur hinweggegangen, ohne diese auch nur ansatzweise untersucht zu haben. »Aber wir wissen, daß neue proletarische Bewegungen kaum noch am (prekären und flexibilisierten) Arbeitsplatz entstehen werden. Sie können sich eigentlich nur noch in konkreten politischen Kämpfen konstituieren, wo Solidarität im gemeinsamen Projekt (und nicht wie früher am Arbeitsplatz) erfahren wird.« [10] Dies taugt nur als Begründung dafür, sich selber als Politiker und Partei zu sehen, die die Massen von oben vereinheitlichen und in die Schlacht führen müssen. Wir halten dagegen, daß emanzipative Politik nur von dem ausgehen kann, was die Menschen selber tun, vom Universum ihrer alltäglichen Konflikte. In diesen müssen wir präsent sein und nach den Ansatzpunkten von revolutionärer Macht suchen, statt uns auf die Selbstgefälligkeit von Forderungsplattformen zurückzuziehen.


Fußnoten:

[1] Der Strukturalismus ist keine Kritik des methodischen Individualismus, sondern nur seine Kehrseite. So wie der Individualismus von der Vereinzelung als einem Naturzustand ausgeht, so hält der Strukturalismus die Verdinglichung der vorgegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu Strukturen für eine überhistorische Tatsache.

[2] Stand 01.01.1997, nach: NRW, Landessozialbericht, Band 7, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerhaushalte mit Niedrigeinkommen, Bergheim 1998, S. 294.

[3] Stand 1995; ebd. S. 72.

[4] Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Verfügbares Einkommen, Zahl der Haushalte und Haushaltsmitglieder nach Haushaltsgruppen, Oktober 1998. Es liegt z.B. auch noch unter dem verfügbaren Einkommen von alleinstehenden weiblichen Arbeiterinnen im produzierenden Gewerbe von NRW von 2.244 Mark. Nach: NRW, a.a.O., S. 313, und leicht unter dem durchschnittlich zu erwartenden Nettolohn einer Hilfe-zur-Arbeit-Stelle für unqualifizierte Arbeiten von ca. 1.600-1.700 Mark.

[5] »Dabei interessiert es uns nicht, den 'Wohlfahrtsstaat' von links zu verteidigen und zu überlegen, welche Arbeitszeitverkürzung wie viele Jobs schaffen würde oder welche Grundsicherung wie finanziert werden kann.« (Arranca Nr. 15, Herbst '98)

[6] In der Beilage zur Konferenz wird sie daher auch als »Leitfaden zwischen Realisierungsproblemen einerseits und utopischen Ansprüchen andererseits« charakterisiert!

[7] Nach: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Verfügbares Einkommen, Zahl der Haushalte und Haushaltsmitglieder nach Haushaltsgruppen, Arbeitsunterlage 1998.

[8] Im Ausdruck »sozialverträgliches Frühableben« ist dieses Problem der Herrschenden so offen und zynisch ausgesprochen worden, wie es sich vom Standpunkt des Kapitals aus tatsächlich stellt. Weil dies der Legitimation der herrschenden Verhältnisse aber nicht gut tut, wurde der Ausdruck zum »Unwort des Jahres« gekürt.

[9] Statistisches Bundesamt Wiesbaden, a.a.O.

[10] Aufruf zur Konferenz, in: Arranca, Nr. 14, S. 71.


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