Wildcat-Zirkular Nr. 65 - Februar 2003 - S. 35-48 [z65argen.htm]


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Revolutionäre Situation in Argentinien?

Seit die ArgentinierInnen vor einem Jahr mit einem Aufstand mehrere Regierungen gestürzt haben, richten sich einige Hoffnungen auf dieses ehemalige Musterland des 'Neoliberalismus'. Der Absturz des Landes in eine dramatische Krise, die mehrjährige Rezession und das ökonomische Desaster im Nachbarland Brasilien werfen konkret die Frage auf, ob der Kapitalismus überhaupt noch einen Ausweg zu bieten hat. Vor allem aber zeigen neue Bewegungen, dass andere Lösungen auf die Tagesordnung kommen könnten. Die Frage nach einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft wird in Argentinien auf den Straßen diskutiert. Hat hier eine revolutionäre Umwälzung begonnen?

Es haben sich verschiedene Bewegungen entwickelt und radikalisiert, die mit dem Selbstbewußtsein auftreten, staatliche Pläne verhindern und gegebenenfalls auch die Regierung stürzen zu können. Sie erobern den öffentlichen Raum zurück und sind bereit, sich mit der Staatsgewalt anzulegen. In dieser Situation schlagen trotzkistische Parteien sehr traditionell die Übernahme der Macht und eine Arbeiterregierung vor. Aber das entspricht nicht den realen Prozessen: weder hat sich eine parlamentarische Alternative mit Massenbasis entwickelt, noch will eine Bewegung den Staatsapparat übernehmen. Aus dem Aufstand gegen die Regierung ist ein Aufstand gegen die Politik geworden. »Que se vayan todos« - Sie sollen alle abhauen: das ist nach wie vor die Hauptparole, die verschiedenste Bewegungen vereint. Das drückt nicht nur den Hass auf die korrupten Politiker aus, sondern lehnt traditionelle Politik als solche ab, als Machtspiel von Interessenvertretung und Delegierung. Die neuen Bewegungen organisieren sich horizontal, ohne AnführerInnen, sie setzen auf Versammlungen statt auf Hierarchien. Der Staat hat seine Legitimation verloren.

Der Aufstand und die neue Art von Bewegung haben (v.a. in der Antiglobalisierungsbewegung) Begeisterung ausgelöst. Nachdem die Leute so oft gegen die Symbole der internationalen Finanzinstitutionen angestürmt sind, sehen sie in dem realen Widerstand gegen die Folgen dieser Politik einen greifbaren Hoffnungsschimmer. Sie haben den 20. Dezember, den Jahrestag des Aufstands in Argentinien, zum Global Action Day erklärt.

'Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen' - John Holloway sieht in Argentinien diese Vision Wirklichkeit werden. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buchs (siehe Besprechung auf Seite 48) werden drei Ereignisse als Beleg für diesen Ansatz genannt: Der 11.9. und seine Folgen zeigten mehr denn je die Notwendigkeit, und der 'argentinazo' sowie das Weltsozialforum in Porto Alegre den Weg zu einer solchen Weltveränderung. Holloway sieht in Argentinien den Zapatismus in den Städten ankommen, den Aufbau einer Gesellschaftlichkeit ohne Aufseher, in der kollektive (Über-)Lebensformen jenseits des Kapitals entwickelt werden. Er weist aber auch auf die Gefahren hin: eine Revolte, die nicht in Revolution übergeht, könne nicht überleben, und wenn der Kampf nachlässt, können selbstorganisierte Projekte wieder in kapitalistische Formen integriert werden.

In Buenos Aires hat das Colectivo Situaciones schon im Dezember 2001 die 'neue Art von Aufstand' analysiert und begrüßt. [1] Die Leute vom Colectivo Situaciones bezeichnen sich als Militante UntersucherInnen (sie beschäftigen sich theoretisch seit längerem mit Negri). Auch sie betonen die Führungslosigkeit des Aufstands, die Vorreiterrolle der Basis und das klare 'Nein', das kein alternatives Modell vorschlägt und nicht zu staatlicher Macht wird. Den zentralen Schlüssel für die neue Radikalität sehen sie in der Vielfalt. In vielfältigen Netzen würde eine Gesellschaftlichkeit jenseits des Korsetts von Staat und Markt entstehen. Ein weiterer Artikel von ihnen, 'Die Parallelgesellschaft; eine Revolution in der Wüste' [2] provozierte letztens auf Indymedia Argentina einen wütenden Kommentar: Trotz aller lautstarken Forderungen sei die wirtschaftspolitische Macht nicht nur nicht abgehauen, sondern sei im Gegenteil dabei, ihre institutionellen Strukturen zu reorganisieren - während das Leben teurer wird, weiterhin ArbeiterInnen entlassen werden, Kinder an Unterernährung sterben, die Polizei noch immer mordet, usw. - »denn sie haben die Macht«. Man muss die Ansicht des Autors, man müsse die Machtübernahme vorbereiten, nicht teilen. Aber der Hinweis darauf, dass die alte Macht noch keinesfalls besiegt ist, ist leider angebracht.

Beide Positionen sind sympathisch, weil sie das Handeln der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen, aber sowohl Hollowayaner wie Negristen beschäftigen sich kaum mit den realen Verhältnissen von wirtschaftlicher und staatlicher Macht. Denn trotz aller Krise und Bewegung herrscht in Argentinien noch der Kapitalismus, die Gesellschaft reproduziert sich auf kapitalistischer Basis, und die ArbeiterInnen sind als solche nicht am Aufstand beteiligt. Auf der anderen Seite gibt es Positionen wie die der Trotzkisten oder der IKS; sie weisen auf diese Probleme hin, haben dann aber sofort die richtigen Erklärungen/Antworten: die Trotzkis sehen die Lösung meistens darin, dass sich die ArbeiterInnen von ihnen anführen lassen sollen, die IKS erklärt das Ausbleiben der Revolution damit, dass die ganze Bewegung das Machwerk von 'Kleinbürgern' und 'Lumpenproletariern' sei. Solches Schubladendenken hilft in keiner Weise weiter.

Diese Fragen sind offen. Dass (noch) niemand eine Antwort drauf hat, macht die Sache gerade so spannend. Eine Antwort darauf finden kann nur die reale Bewegung in Argentinien. Aber trotzdem (bzw. gerade deswegen!) müssen wir diese Fragen stellen: Wo kann die revolutionäre Kraft herkommen? Wie kann ein Umsturz aussehen?

Wir zeichnen im Folgenden den Absturz der argentinischen Ökonomie in die Krise nach, und wie dieser die sozialen Verhältnisse in der Arbeiterklasse Argentiniens durcheinandergerüttelt hat. Auf dieser materiellen Grundlage sind die derzeitigen neuen Bewegungen entstanden, und auf diesem Hintergrund können wir ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit besser begreifen (und davon lernen). Sind darin Schritte in Richtung Revolution zu erkennen? Oder ist die Frage so schon falsch gestellt und müsste eher lauten: Welche Rolle spielt die Arbeiterklasse Argentiniens in der Weltwirtschaft, und wie können wir in diesem Gesamtzusammenhang die Macht entwickeln, die mit der alten Macht Schluss macht?

Der Absturz in die Krise

Bis Ende der 90er Jahre ist es den Krisenverwaltern gelungen, die soziale Polarisierung aufrecht zu erhalten. Die piqueteros haben zwar große Blockadeaktionen organisiert, sie blieben aber gegenüber einer breiten 'Mittelschicht' marginalisiert und isoliert. Durch den Krisenabsturz der letzten vier Jahre haben sich die Lebensbedingungen in kürzester Zeit nach unten angeglichen. Die Krise hat dem Bezug auf den Staat den Sinn genommen: keine Gruppe kann mehr hoffen, durch Verhandlungen mit der Staatsgewalt bessere Bedingungen für sich rauszuschlagen. Das drückt sich in der vereinheitlichenden Parole: »Sie sollen alle abhauen!« aus.

Argentinien war Mitte der 70er Jahre ein Industrieland, mit hochqualifizierten und für Lateinamerika sehr gut bezahlten ArbeiterInnen. Diese arbeiteten hauptsächlich in der Konsumgüterindustrie, deren Produkte vor allem auf dem Binnenmarkt abgesetzt wurden. Exportiert wurden (und werden) vor allem Öl und landwirtschaftliche Produkte. (Mit abnehmender Kaufkraft steigt der Export, z.B. von Milchprodukten, während der Pro-Kopf-Verbrauch im Land sinkt und Kinder hungern.) Eine Investitionsgüterindustrie entstand jedoch nicht; Maschinerie wurde importiert. Trotz hoher Agrarproduktion arbeiten in der Landwirtschaft prozentual weniger Menschen als in der BRD (Argentinien 0,8% - BRD 2,8%). 89% der Menschen leben in Städten (BRD 87%).

Argentinien hat eine lange Geschichte von Arbeiterkämpfen. Der letzte Kampfzyklus wurde 1976 mit der Militärdiktatur beendet, während der 30 000 Menschen 'verschwanden'. Die meisten Opfer waren gewerkschaftlich und politisch aktive ArbeiterInnen. [3] Im Schatten der Militärs begann der neoliberale Angriff auf die Arbeiterklasse, der von den folgenden Zivilregierungen mit Privatisierungen und Marktliberalisierung fortgeführt wurde.

Von den Privatisierungen waren vor allem die Ölarbeiter und die Beschäftigten von Telefongesellschaft, Bahn und Wasserwirtschaft betroffen. Die staatliche Erdölgesellschaft YPF und die Telefongesellschaft wurden an spanische Multis - Repsol und Telefónica - verkauft. Schon im Vorfeld der Privatisierungen kam es dort zu Massenentlassungen.

Zudem wurden Zollbeschränkungen abgebaut und der Markt liberalisiert. Auch die 1991 eingeführte Dollar-Parität begünstigte Importe. Billiglohnimporte aus Asien und subventionierte Importe aus den USA und der EU führten zum Abbau nationaler Industrie. Aus Produktionsunternehmen wurden Importeure und Händler. Die Privatisierung des Transports führte zu Verteuerungen und Streckenstilllegungen, was wiederum die Klein- und Mittelbetriebe in den Provinzen in Mitleidenschaft zog. Staatliche Subventionen flossen in das Großkapital, nicht in produktive Investitionen von Klein- und Mittelbetrieben. Lebensmittel-, Textil- und Konsumgüterindustrie gehen zurück. Durch die Massenentlassungen in der Ölindustrie stürzen ganze Ortschaften ins Elend ab. Die Entlassungen beginnen Ende der 80er Jahre in den Provinzen und kommen zehn Jahre später in den Industrievororten von Buenos Aires an.

Die 90er Jahre sind das Jahrzehnt der scharfen sozialen Polarisierung. Das Proletariat differenziert sich in arbeitslose Verlierer und in noch beschäftigte Besitzstandswahrer. Auf der anderen Seite stehen die Absahner: die Reichen werden immer reicher. Während die entlassenen Öl- und Fabrikarbeiter zu Langzeitarbeitslosen und Armen werden, können die Staatsangestellten des Öffentlichen Dienstes ihre Position - auch durch Streiks - halten. Die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst steigt bis Ende der 90er Jahre sogar noch an. Auch der Bausektor bleibt bis dahin stabil. Zur »Mittelschicht« zählen sich in Argentinien alle, die über einen Job mit geregeltem Einkommen verfügen, auch die noch beschäftigten IndustriearbeiterInnen. In diesem Sinn lässt sich davon sprechen, dass die Mittelschicht in den 90er Jahren ihren Lebensstandard halten konnte, denn die Reallöhne bleiben bis zum Kriseneinbruch 1998 stabil. In der zweiten Hälfte der 90er kommt es sogar zu einem Boom in der Autoindustrie, weil die inländische Nachfrage stark ansteigt.

Mit dem Kriseneinbruch 1998 kommt es zu einer Massenverarmung und Proletarisierung vorher relativ gutsituierter Leute. Auch die Einkommen der Mittelschichten reichen zum Lebensunterhalt nicht mehr aus; sämtliche Familienmitglieder müssen einen oder mehrere Jobs machen. Löhne und Kaufkraft sinken dramatisch, v.a. seit der Peso-Abwertung Anfang 2002. Seit dem Kriseneinbruch 1998 hat sich der Abbau der Industrie beschleunigt. Seitdem sind 30% der Arbeitsplätze abgebaut worden; von einer Million IndustriearbeiterInnen Anfang der 90er Jahre sind noch 630 000 übriggeblieben. In Argentinien findet sich die weltweit höchste Konzentration von arbeitslosen IndustriearbeiterInnen. Mehr als die Hälfte der 36 Millionen ArgentinierIn-nen leben inzwischen unter der Armutsgrenze, und das sind bei weitem nicht mehr nur Arbeitslose: Fast 20% der IndustriearbeiterInnen und mehr als 15% der offiziell Beschäftigten in Handel und Bau leben unterhalb der Armutsgrenze.

 

Verteilung der lohnabhängig Beschäftigten (im Jahr 2000, nach ILO)
Lohnabhängige insgesamt 5 975 900
Industrie892 000
Bau333 200
Handel / Dienstleistung912 600
Transport525 900
Öffentlicher Dienst631 800
Schule578 100
Krankenhaus389 600
Beschäftigte in Privathaushalten500 000
  
Selbständige ArbeiterInnen1 789 500

 

Die informelle Arbeit macht nach offiziellen Angaben 41% der Beschäftigung aus. Neue Berufe haben Konjunktur. In der Provinz Buenos Aires kommen auf 45 000 staatliche Sicherheitskräfte mehr als 70 000 private Wachleute, von denen mehr als die Hälfte schwarz arbeiten. Jede Nacht kommen 40 000 Menschen aus den Außenbezirken nach Buenos Aires, um aus den Mülltüten am Straßenrand Papier und andere verwertbare Stoffe herauszusortieren. Die Hälfte von ihnen waren vor einem Jahr noch ArbeiterInnen oder Angestellte. Da man heutzutage in der Fabrik nie weiß, ob man wirklich Lohn bekommt - die Lohnrückstände betragen oft 3-6 Monate - werden die Sofortpesos für Altpapier zur besseren Alternative. Die Zahl der Menschen, die Armutsarbeiten wie Kartonsammeln oder Straßenverkauf machen, ist seit 1998 um 773 000 auf 1,8 Millionen gestiegen.

Der Kriseneinbruch hat in Argentinien zu einer Homogenisierung der Lebensbedingungen auf niedrigstem Niveau geführt.

Zum Stand der Bewegung, ein Jahr nach dem Aufstand

Piqueteros

Die organisierten Arbeitslosen sind die derzeit stärkste Bewegung der Arbeiterklasse in Argentinien. Der Begriff piqueteros taucht zum ersten Mal im Juni 1996 auf, in Neuquén, einer der Erdöl-Provinzen. In den kleinen Ortschaften Cutral Co und Plaza Huincal (58 000 EinwohnerInnen) wurden nach der Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft 4000 Arbeiter entlassen. Als der Vertrag mit einer Düngemittelfabrik platzt, und damit auch das Versprechen auf neue Arbeitsplätze, kommt es in den Orten sechs Tage lang zu einem Aufstand, an dem sich die Hälfte der BewohnerInnen beteiligt. Sie blockieren sämtliche Zufahrten zu den Orten und zur Raffinerie mit massiven Straßensperren. Die piquetes - eigentlich: Streikposten - sind erfunden. Schon in diesem Aufstand liegt die Entscheidung über das Vorgehen bei Versammlungen von bis zu 5000 Leuten, und Politiker haben das Problem, dass sie keine Ansprechpartner für Beschwichtigungsverhandlungen finden.

Im folgenden Jahr, im Mai 1997, wird in der nördlichen Provinz Jujuy die Brücke, die die Hauptverbindung zu Bolivien bildet, vier Tage lang blockiert - nachdem der Vorzeigebetrieb der Provinz, die Eisen- und Stahlwerke Aceros Zapla im Zuge der Privatisierung von 5000 auf 700 Beschäftigte reduziert worden war. Zollsenkungen und Billigimporte ließen weitere Industriearbeitsplätze verschwinden. Die Blockaden dehnen sich auf weitere Provinzen aus. Präsident Menem führt die Planes Trabajar ein, eine Art ABM-Programm für Arbeitslose.

Manche piqueter@s haben ihr ganzes Leben in Armut verbracht und im informellen Sektor gearbeitet, als StraßenverkäuferInnen, Gelegenheitsarbeiter oder Hausangestellte. Aber viele andere sind ehemalige IndustriearbeiterInnen, die in der Öl-, Metall- und Textilindustrie gut verdient haben und über gewerkschaftliche Erfahrung verfügen. An den piquetes beteiligen sich auch Noch-Beschäftigte. Es geht meist nicht nur um Forderungen von Arbeitslosen, sondern auch um ausstehende Löhne von Staatsangestellten, um Wohnungen für Obdachlose, usw. Nach weiteren Aufständen in nördlichen Provinzen, an denen auch Transport- und Bauarbeiter beteiligt sind, kommt die Bewegung im Jahr 2000 in der Hauptstadt an, in La Matanza, einem Vorort, in dem zwei Millionen Arme zwischen hunderten von stillgelegten Fabriken leben. Hier finden die größten Blockaden statt.

2001 ist das Jahr der landesweiten Organisierung der piqueteros, Anfang 2002 sind mehr als 200 000 von ihnen organisiert (eigentlich eher piqueteras, denn die Frauen sind in der Mehrheit). Drei Strömungen haben sich herausgebildet. [4] In dieser 'Vielfalt' finden sich die aktuellen politischen Differenzen wieder - von klassischer Lobbypolitik über traditionelle Parteivorstellungen von Machtübernahme bis hin zur Weltveränderung ohne Macht:

Asambleas

Die Stadtteilversammlungen sind aus dem Aufstand entstanden. Sie sind grundsätzlich öffentlich und finden im öffentlichen Raum statt. Zuerst auf der Straße, im Winter haben sie leerstehende Gebäude besetzt, wo sie außerdem Volksküchen, selbstorganisierte Bäckereien für billiges Brot oder Medikamentenproduktion zu erschwinglichen Preisen betreiben.

Die proletarisierten Mittelschichten haben ein neues Verhältnis zu piqueteros und Armen entwickelt. Solange sie sich das Autofahren noch leisten konnten, haben sich manche über die Blockaden der zerlumpten piqueteros aufgeregt. Heute applaudieren sie, wenn die piqueteros bei gemeinsamen Demos auflaufen. Sie haben auch die Organisations- und Aktionsformen der piqueteros übernommen, Versammlungen und Straßenblockaden. Die asambleas haben den Spaß am Widerstand und die Solidarität entdeckt, und sie kümmern sich um die sozialen Fragen im Stadtteil: sie fordern billige Strompreise für Arbeitslose und verhindern Stromabschaltungen und Zwangsräumungen, zudem verteidigen sie die besetzten Betriebe.

Schon früh kam die Parole auf »Piquete und Kochtopf - ein Kampf«. Sie drückt einen Anspruch aus, der sich in verschiedenen Konfrontationen bewährt hat. Aber trotz aller Homogenisierung bleiben die Lebenswelten der piquetes und der Kochtöpfe verschiedene: Die Mittelschichten, die vielleicht immer noch hoffen (wenn auch immer weniger), durch die Rückgabe ihrer Sparguthaben den Anspruch auf ein besseres Leben verwirklichen zu können - die piqueteros, die keine greifbare Perspektive auf Arbeitsplatz und Wohlstand sehen - und dazwischen die ArbeiterInnen der besetzten Betriebe, die versuchen, ihre Arbeitsplätze festzuhalten.

Besetzte Betriebe

Über die Hälfte der Industriekapazität in Argentinien liegt brach. Inzwischen sind mehr als 100 Betriebe, die pleite waren oder kurz davor standen, von ihren ArbeiterInnen instandbesetzt und ans Laufen gebracht worden. Die meisten besetzten Betriebe sind Klein- und Mittelbetriebe (Nahrungsmittel, Textil, Glas, Papier, Aluminium, Druckerei, usw., mit im Durchschnitt 70 Beschäftigten). 10 000 ArbeiterInnen machen Erfahrungen mit Basisdemokratie im Betrieb, stellen das Privateigentum praktisch in Frage und müssen das teilweise handgreiflich gegen die Staatsgewalt durchsetzen. Sie werfen die kapitalistische Arbeitsorganisation über den Haufen und demonstrieren, dass es zum Produzieren keine Chefs braucht.

Selbstverwaltete Betriebe als Inseln im Meer der kapitalistischen Krise sind jedoch ein widersprüchlicher Versuch, der leicht in der Selbstverwaltung der Krise stecken bleiben kann. Dass ein paar tausend ArbeiterInnen in verlassenen Fabriken auf eigene Rechnung arbeiten und damit ihr Überleben sichern, muss nicht unbedingt weitergehende Folgen haben. »Diese Bewegung ist keine Bedrohung für kapitalistische Unternehmen«, schreibt The Economist (9.11.2002). Die Wiedereröffnung von Firmen unter Arbeiterkontrolle würde nicht nur den Arbeitern, sondern auch den Kapitalgebern helfen, da sie die Maschinerie vor Verfall und Vandalismus bewahre. Sie zitieren damit den Anwalt und einen Vertreter der MNER, der Nationalen Bewegung instandbesetzter Betriebe, in der sich 2001 selbstverwaltete Kooperativen zusammengeschlossen haben. Bei so viel Beteuerung von Harmlosigkeit ist es kein Wunder, dass die MNER von Kirche, Gewerkschaften und Staat unterstützt wird. Zu ihrer ersten großen Versammlung im September kam ein Regierungsvertreter - und er durfte sogar reden! (was bei dem Hass auf Politiker in Argentinien sehr ungewöhnlich ist).

Unter dem Druck der Besetzungen hat die Regierung Enteignungsverfahren entwickelt, die an der Widersprüchlichkeit der Bewegung ansetzen und letzten Endes das Privateigentum bestätigen sollen. Die Gebäude werden den BesetzerInnen für zwei Jahre überlassen; in dieser Zeit bezahlt der Staat dem Eigentümer eine Miete, danach haben die ArbeiterInnen ein Vorkaufsrecht. Die ArbeiterInnen sollen also mit ihrer Arbeit aus dem wertlosen Schrott, der in den Fabriken rumsteht, wieder Kapital machen, und dürfen es danach kaufen. Der Staat subventioniert die Eigentümer, nicht die ArbeiterInnen, die tragen nur das ganze Risiko. Trotz dieses betrügerischen Angebots haben sich einige besetzte Betriebe darauf eingelassen, und viele haben sich als Kooperativen legalisiert, weil sie damit Räumungen und Zwangsversteigerungen verhindern konnten. Mitte-Links-Parteien und Teile der Gewerkschaftsbürokratie unterstützen die Gründung von Kooperativen und machen den BesetzerInnen Druck, sich auf 'realistische Lösungen' einzulassen. Sie haben offensichtlich Sorge, die Besetzungen könnten zum Anfang einer antikapitalistischen Bewegung werden. Auch der oben erwähnte Economist-Artikel fürchtet eine »Erosion der Eigentumsrechte«.

Einige besetzte Betriebe tun auch was für diese Erosion. Sie lehnen es ausdrücklich ab, Kooperativen zu gründen und fordern stattdessen 'Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle'. Damit sind die Textilfabrik Brukman in Buenos Aires und die Keramikfabrik Zanón in der Provinz Neuquén zu einem Zentrum von Organisierung geworden, nicht nur für andere besetzte Betriebe, sondern auch für Arbeitslose, radikale ArbeiterInnen und oppositionelle Gruppen in den Gewerkschaften. Der Aufbau einer gemeinsamen Streikkasse wird von diesem Bündnis bereits in Angriff genommen. An diesen Treffen und Aktionen beteiligen sich auch besetzte Betriebe der MNER, die sich für die Kooperativenlösung entschieden haben. Bislang lassen sich die verschiedenen Fraktionen nicht gegeneinander ausspielen. Wenn der Versuch der BesetzerInnen von Brukman und Zanón, die Trennungslinien in der Klasse zu überwinden und ein Bündnis zwischen piqueteros und 'MittelklassearbeiterInnen' herzustellen, größere Ausmaße annimmt, könnte das eine neue Qualität ausmachen und die Macht grundlegend in Frage stellen.

Tauschringe (ein Exkurs)

Tauschringe in Argentinien werden von hier aus stark wahrgenommen - obwohl in ihnen sicher weniger Bewegung steckt als in den anderen beschriebenen Selbsthilfeprojekten. Der erste Tauschring in Argentinien wurde 1995 von dreissig Leuten gegründet. Mit der Krise hat sich das massenhaft ausgeweitet, auf dem Höhepunkt gab es 8000 Tauschclubs mit 3 Millionen Mitgliedern, samt mitversorgten Familienmitgliedern also etwa 10 Millionen Menschen. Getauscht werden alle möglichen Dienstleistungen, Handwerk und Produkte, bis hin zu Autos, Grundstücken und Wohnungen.

Im Gegensatz zu den piqueteros und asambleas, die dem Mangel mit kollektiven und solidarischen Projekten begegnen, sind die Tauschringe eine zwar massenhafte, aber doch individuelle Krisenlösung, die der Marktlogik folgt. Jeder betritt den Markt als einzelner Anbieter oder Nachfrager, und die Chancen sind je nach Startbedingungen unterschiedlich. Zum Beispiel haben Leute, die noch Geld hatten, in Supermärkten eingekauft und die Waren im Tauschclub gegen höherwertige Dinge oder Dienstleistungen getauscht. Ein altbekanntes Modell: Wer Kapital hat, kann es vermehren, und wer keins hat, kann nur seine Arbeitskraft zum (Tausch)-Markt tragen.

Die Tauschmärkte funktionieren mit einer Alternativwährung, den créditos. Schon Anfang 2002 tauchten die ersten Fälschungen auf. Mitte des Jahres nahmen sie dann überhand, bis zu 90% der créditos waren gefälscht, es kam zu Spekulation und Inflation. Leute, die z.B. Kuchen für den Markt gebacken hatten, bekamen dafür noch nicht mal mehr genug créditos, um Zutaten für die nächste Produktion zu kaufen. Die Zahl der regelmäßigen TeilnehmerInnen sank auf 250 000.

Die Verfechter der Tauschringe sehen darin aber keinen Fehler der Marktwirtschaft, sondern allenfalls das Problem, dass der Markt zu groß geworden wäre, weswegen nun striktere Einstiegsregelungen eingeführt werden. Und gegen Fälschungen helfen bekanntlich Staat und Polizei, so auch bei den Tauschringen: Sie haben neue créditos ausgegeben und sie sich patentieren lassen - damit die Polizei in Zukunft Leute, die damit handeln, festnehmen kann ...

... und die Revolution?

Argentinien ist ein Laboratorium, in dem verschiedenste Gruppen neue soziale Erfahrungen ausprobieren und mit Basisorganisierung experimentieren. Trotz aller Widersprüche, die in dieser Vielfalt auftreten, liegt darin ein großer Reichtum. In der Welle von Politisierung und Mobilisierung sehen einige linke Parteien die Chance, »Revolution und Machtfrage« - auf die Tagesordnung zu setzen. Sie rufen zu einem weiteren 'Argentinazo', einem Volksaufstand zum Sturz der Regierung auf. Aber BasisaktivistInnen kritisieren derartige Aufrufe als leichtfertig und unverantwortlich gegenüber einer Bewegung, die erst am Anfang steht. Hunderttausende gehen auf die Straße und organisieren sich - aber die restlichen Millionen bleiben noch untätig. Die Bewegung ist noch nicht auf große Konfrontationen vorbereitet. Bisher gehen nur die piqueteros mit organisiertem Selbstschutz auf die Straße, und der besteht bislang nur aus Tüchern und Knüppeln. Die Leute lernen erst, sich zu organisieren und zu bewegen. Dabei haben sie allerdings in kurzer Zeit große Schritte gemacht. Sie übertreten Regeln, stellen alle möglichen Normen in Frage und erfinden sie neu. Der Aufstand hat für viele Menschen den Alltag und die Verhältnisse untereinander verändert. Unmögliches wird gefordert und gedacht.

Aber es wird in Argentinien kurzfristig nicht zu einer Revolution nach dem Muster »Wir stürmen das Winterpalais« kommen. Zum einen haben die ArgentinierInnen das vor einem Jahr ja schon gemacht: Sie haben den Regierungspalast, die Casa Rosada gestürmt und mehrere Präsidenten verjagt. Die derzeitige Regierung ebenfalls zu stürzen, wäre vielleicht im Moment ein Schritt zu weit. Denn was käme dann? Fast alle Antworten auf diese Frage haben was mit militärischer Unterdrückung oder Militärinvasion zu tun ... Es wäre aber auch zu wenig, denn die soziale Revolution ist kein triumphaler Aufstand, nach dem sich alles ändert. Sie ist ein langer Prozess, in dem die Staatsmacht aufgelöst wird, die Fragen der eigenen Reproduktion gemeinsam angegangen werden, Formen der gesellschaftlichen und politischen Organisierung ausprobiert und verworfen werden. All das können wir im argentinischen Laboratorium zur Zeit beobachten. Aber die soziale Revolution läßt sich auch nicht auf die molekularen Veränderungen im Alltag runterbrechen. Die Revolte muß weiter gehen, muß sich verallgemeinern, sonst verkümmert sie. Die Grenzen der Bewegungen liegen im Staat (Militärmacht; Abtrennung von den Bewegungen in Uruguay, Brasilien usw.) aber auch in der Bewegung selber: Alles Mögliche und Unmögliche wird in Frage gestellt, aber die Arbeit läuft weiter. In den Zentren der (Re)-Produktion finden bislang kaum offene Kämpfe statt. Es gibt ein paar Ausnahmen, wie Streiks im Öffentlichen Dienst, oder die so wunderbar unzeitgemäße Kampagne der Metro-ArbeiterInnen in Buenos Aires, die mitten in der Krise die Wiedereinführung einer alten Errungenschaft gefordert haben: die Verkürzung ihrer täglichen Arbeitszeit auf sechs Stunden wegen ungesunder Arbeitsbedingungen, selbstverständlich bei vollem Lohnausgleich. Für diese Forderung gab es mehrere Mobilisierungen - aber keine größeren Streiks. Diese Macht bleibt noch ungenutzt: wenn zu den Straßenblockaden der piqueteros der Streik der TransportarbeiterInnen hinzukäme, und wenn ...

Wenn wir nicht nur ein paar Spielregeln ändern, sondern die ganze Gesellschaft umwälzen wollen, dann kommen wir an den Produktionsverhältnissen nicht vorbei. Aber das geht in der Weltwirtschaft nicht in einem Land allein. Dafür muss es auch an anderen Stellen unseres globalen Zusammenhangs losgehen. Solange die ArbeiterInnen in Argentinien isoliert bleiben und nicht das Vertrauen haben können, dass ihre Streiks anderswo ein Echo finden und aufgegriffen werden (wie in den 70er Jahren), werden sie den Schritt von der Revolte zur Revolution kaum wagen, weder im Betrieb, noch auf der Straße.

Ganz Lateinamerika ist ein Pulverfass. Und der argentinische Krisenabsturz könnte leicht getoppt werden: Lula hat bei seinem Amtsantritt ein Land übernommen, das 300 Mrd. Dollar Schulden hat, 80% des brasilianischen Bruttosozialprodukts (Argentinien hatte im Dezember 2001 etwa 140 Mrd. Dollar Schulden, das entsprach 52% seines BSP). Noch gibt es keine Signale dafür, dass der Aufstand in weiteren Ländern übernommen würde. Auf dem Rest des Kontinents ist die Armut älter, oder die Verarmung entwickelt sich langsamer - und es bestehen vielerorts immer noch Hoffnungen auf eine parlamentarische Rettung. Diese Illusionen könnten aber gerade in Brasilien sehr schnell verfliegen: 41% der Kredite laufen in diesem Jahr aus und müssen bedient werden! Die Krise der Weltwirtschaft wird auch Länder und Regionen außerhalb Lateinamerikas erfassen, und für den Fall können wir von den Erfahrungen und Versuchen in Argentinien sicher einiges lernen: von den asambleas, von den piqueteros und den ArbeiterInnen der besetzten Betriebe ...


Fußnoten:

[1] Artikel (spanisch) am 29.12.2001 auf www.rebelion.org. Das Colectivo Situaciones hat im April 2002 ein Buch zum Aufstand herausgebracht, das im Frühjahr in überarbeiteter Form bei Assoziation erscheint.

[2] La sociedad paralela; una revolución en el desierto.

[3]  Wie z.B. die linksoppositionellen Betriebsräte von Mercedes-Benz in Buenos Aires, die von der Firmenleitung denunziert und von den Militärs entführt und ermordet wurden. Der Fall und die Verwicklung der deutschen Konzernzentrale werden zur Zeit juristisch wieder aufgerollt. Siehe die Dokumentation auf Labournet.

[4] Siehe dazu Wir sind alle Piqueteros auf unserer Webseite.


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