Wildcat Nr. 70, Sommer 2004, S. 76-78 [w70hydra.htm]


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Buchbesprechung

Die vielköpfige Hydra

Seeleute, Sklaven, Gemeine und die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantik

Die Ablösung der Weltreiche, das Entstehen und die Durchsetzung des Kapitalismus – das kennen wir aus der Weltsystemanalyse (Arrighi, Wallerstein). Wir wissen, dass das Kapitalverhältnis als von beiden Seiten umkämpftes Verhältnis entsteht (Holloway). Linebaugh und Rediker illustrieren die verschwiegene Klassenseite dieser Epoche, quasi als innere Geschichte der Arbeiterbewegung. Dabei betonen sie, dass

Leider gibt es bislang keine deutsche Übersetzung des Buches [2008 auf Deutsch erschienen, s.u.]. Es ist aber spannend genug, um es sich als Urlaubslektüre an einem Stück reinzuziehen.

 

Der griechische Held Herakles musste dereinst zwölf Arbeiten verrichten. Sie waren ein Programm der Durchsetzung menschlicher Ordnung gegen die finsteren Kräfte der Natur. Die Urbarmachung des Landes durch Abholzen der Wälder und Trockenlegen von Sümpfen diente der Einführung rationeller Landwirtschaft; die Zähmung wilder Tiere stellte die Weichen dafür, die Natur nicht nur rüde beiseite zu schieben, sondern sie für sich arbeiten zu lassen. Als zweite Aufgabe stellte sich ihm der Kampf gegen die Hydra, ein Ungeheuer mit neun Köpfen. Schlug man einen ab, so wuchsen ihm zwei neue. Herakles schaffte es, die Hydra zu enthaupten – sein Trick war, die Stümpfe auszubrennen. Dieser Mythos des Kampfs von Herkules (der römische Name von Herakles) gegen die Hydra symbolisierte in der politischen Rhetorik des 17. und 18. Jahrhunderts die Aufsässigkeit und Kämpfe der Unterklassen. Die Heldengestalt des Herkules stand für Rationalität, Aufklärung und vor allem Arbeitsdisziplin.

Linebaugh und Rediker nehmen die Hydra als Leitmotiv ihres Buchs über die Kämpfe des multiethnischen, internationalen, »atlantischen Proletariats«, die die Geschichtsschreibung unsichtbar gemacht hat. Die koloniale Expansion vor allem des englischen Kapitals beruhte auf der Kooperation einer Schicht von entrechteten Landvertriebenen. An den neuralgischen Punkten des atlantischen Welthandels – in den Hafenstädten, aber vor allem auf den Schiffen – kamen die des Landes beraubten englischen, irischen, afrikanischen und amerikanischen Proletarier zusammen. Diese »Multitude« war einerseits der Motor der kapitalistischen Globalisierung, aber auch ihr Todfeind.

Sie beginnen ihre Geschichte mit dem Schiffbruch der Sea Venture im Jahre 1609. Auf dem Weg von Plymouth nach Virginia geriet dieses Schiff der Virginia Company bei den Bermudas in einen fürchterlichen Hurrikan. Nach drei Tagen des aussichtslosen Kampfes gegen die Elemente gab die Besatzung auf. Angesichts des nahen Todes brachen sie in die Kapitänskajüte ein und plünderten die Schnapsvorräte. Im Vollrausch strandeten sie wie durch ein Wunder auf einer »unbewohnten« Insel, ohne dass jemand zu Tode kam. Die Passagiere bestanden aus mehr bzw. meist weniger freiwilligen Siedlern für die englische Kolonie in Virginia. Schnell entdeckten sie, dass die »barbarischen« Bermudas mehr versprachen als das mühselige Leben in Virginia. Der britische Gouverneur konnte erst durch einige öffentliche Hinrichtungen der Rädelsführer verschiedener Meutereien die Disziplin auf den Bermudas herstellen. Damit wurde die wilde Siedlung zur Keimzelle einer neuen englischen Kolonie. Aber vielen gelang auch die Flucht in die Wälder, wo sie zusammen mit den Einheimischen lebten.

Von dieser Begebenheit ausgehend knüpfen Linebaugh und Rediker mehrere Erzählstränge:

1) Den historischen Rahmen stellt die Ablösung der iberischen und mediterranen Seemächte Spanien, Portugal, Neapel, Venedig, Algier usw. durch die nordeuropäischen Mächte Holland, Frankreich und später England um 1600 dar. Damit verschob sich der Schwerpunkt des europäischen Welthandels vom Mittelmeer zum Atlantik. Militärtaktisch beruhte der Erfolg zunächst der Holländer auf technischen Neuerungen, aber vor allem auf einem neuen Konzept der »Menschenführung«, wie man es heute nennen würde. Während die Söldner des Dreißigjährigen Krieges ihre Motivation aus der Erlaubnis zur Plünderung zogen, setzten die Holländer auf strengste Disziplin, durchgesetzt durch drakonische und grausamste Strafen. Das Regime des Terrors in Gestalt des Galgens, des Rades und dergleichen mehr stand am Anfang der kapitalistischen Neuzeit.

2) Eines der halbstaatlichen Instrumente Englands bei der Etablierung des transatlantischen Handels war die Virginia Company. Sie war eine besonders eifrige Propagandistin der Zwangsmobilisierung der land- und arbeitslos gewordenen Armen in den Großstädten für einen Einsatz in den Kolonien. Sklaverei, Zwangsarbeit und (Schuld-)Knechtschaft waren anfangs die tragenden Säulen der sich langsam entwickelnden freien Lohnarbeitsgesellschaft.

3) Die »Motley Crew« der Sea Venture war typisch für die multiethnische Klasse besonders in der Seewirtschaft. Das Wort motley bezeichnete ursprünglich das aus bunten Stofffetzen zusammengenähte Narrengewand, später wurde es zum Synonym für die aus allen Ländern und Kontinenten bunt zusammengewürfelten Mannschaften der Seeschiffe. Aber nicht nur auf den Schiffen, auch in den Kolonien und den Hafenstädten war die Kooperation über alle sprachlichen und sonstigen Schranken hinweg unverzichtbar sowohl für die Kolonisten, als auch für die, die dem Terror entkommen wollten. Die entflohenen Sklaven, Knechte, Sträflinge und Rebellen aller Hautfarben fanden sich in der Karibik, Nordamerika und Afrika in einer Vielzahl von sogenannten maroons wieder, in denen sie oftmals unter dem Schutz örtlicher Stämme in relativer Freiheit lebten.

Am Anfang des Kapitalismus stand die Zerstörung der Subsistenzwirtschaft und die Verwertung der freigesetzten Arbeitskräfte in den Arbeiten des »Holzhauens und Wasserschöpfens«. Mit diesen Begrifflichkeiten bezog sich die zeitgenössische politische Literatur auf biblische Aussprüche und meinte die Urbarmachung des Landes, den Aufbau der Infrastruktur für den globalen Handel und die Reproduktion der dafür notwendigen Arbeiter. Die »Holzhauer und Wasserschöpfer« waren zunächst keine Lohnarbeiter, sondern Sklaven und Zwangsarbeiter, Kinder und Frauen. Zweidrittel aller Arbeiter im 17. Jahrhundert waren Zwangsarbeiter. Der Zwang zur Arbeit wurde durch blanken Terror, die Drohung des (Völker-)Mordes an allen, die »überflüssig« oder renitent waren, durchgesetzt.

Von Anfang an war dieser Prozess von Widerstand begleitet. Zunächst von den um ihre Subsistenzgrundlage kämpfenden Bauern in den europäischen Ländern selber und in Afrika und Amerika. Um diesen Widerstand zu brechen, internationalisierten die europäischen Mächte das Proletariat. Englische Landvertriebene wurden als »Siedler« nach Irland und Amerika gebracht, Iren in die Karibik, afrikanische Sklaven arbeiteten auf den Plantagen und dienten als Schiffsbesatzungen in den Kolonialkriegen, Indianer wurden Soldaten usw..

Diese Internationalisierung hatte aber auch den Effekt, dass die Ideen und Erfahrungen der Unterdrückten sich über die Meere verbreiteten und dass sich ihr Widerstand zunehmend ins »Innere« des globalen Kapitalismus verlagerte. Auf den Plantagen und auf den Schiffen trafen sich die Erfahrungen der zwangsmobilisierten Arbeiter aus allen Teilen der Welt. Die Arbeitskräfte der Plantagen des 17. Jahrhunderts bestanden zu etwa gleichen Teilen aus europäischen, amerikanischen und afrikanischen Zwangsarbeitern. Dementsprechend war auch der Widerstand dort noch nicht durch rassische Schranken begrenzt. Aber nicht allein die militärische Übermacht war entscheidend für die Niederschlagung der Verschwörungen und Aufstände – an erster Stelle stand die Etablierung eines differenzierten Herrschaftssystems, das den europäischen Zwangsarbeitern gewisse Rechte zugestand und ihnen perspektivisch die Stellung von Aufsehern über die Sklaven zuwies. Das Kalkül ging im Großen und Ganzen auf; bis 1700 wich die Furcht vor allgemeinen Aufständen einer panischen Angst vor Sklavenaufständen. Die rassistische Spaltung auf den Plantagen funktionierte immer besser, und der Kampf der multinationalen Arbeiterklasse verlagerte sich in den folgenden Jahrzehnten auf die Seefahrt. Bis heute mythenumwoben sind die Umtriebe der Piraten.

4) Die Piraterie entwickelte sich in verschiedenen Stufen; im späten 16. Jahrhundert zunächst von den höchsten Staatsfunktionären organisiert, wurde sie Anfang bis Mitte des 17. von den großen Handelshäusern und am Ende des 17. Jahrhunderts von kleinen, zumeist kolonialen Händlern durchgeführt. Nach 1710 organisierten sich die Seeleute überwiegend selber. Mehr noch als bei den Piraten in der Karibik, die größtenteils 1688 vertrieben wurden, spielte Selbstorganisation eine Rolle bei den Piraten vor der afrikanischen Küste. Zwischen 1716 und 1726 erschütterte eine Welle von Meutereien den Sklavenhandel. Die Meuterer übernahmen bei Erfolg das Schiff und setzten die Totenkopf-Flagge. Nach konservativen Schätzungen von 1724 verloren die Kaufleute in zwei Jahren über 100 Schiffe. Erst mehrere militärische Expeditionen konnten dem Widerstand der Piraten, die sich zum Teil auch aus befreiten Sklaven rekrutierten, ein Ende setzen.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte das kapitalistische System vor allem mit drei Bedrohungen zu kämpfen:

Zum einen geriet die Plantagenwirtschaft durch eine zunehmende Zahl von Sklavenaufstände in Bedrängnis. Am augenfälligsten wurde dies durch die erfolgreiche Unabhängigkeit der französischen Kolonie Haiti um 1800.

Zum zweiten nahm der Widerstand der Seeleute auf den Schiffen des Militärs und der Handelshäuser zu. In der zweiten Jahrhunderthälfte gab es außerordentlich viele Meutereien und Streiks der internationalen Klasse an und unter Deck. Die Seeleute bekämpften sowohl in Amerika als auch in England selber zunehmend das Unwesen der Press Gangs, stürmten die staatlichen Büros, verprügelten die »Werber« und befreiten Gefangene. Nach der amerikanischen Unabhängigkeit desertierten in wenigen Jahren schätzungsweise über 40 000 Seeleute von der englischen Navy.

Der dritte Ort des Widerstands waren die Hafenstädte. Die Emigranten aus Europa wurden nicht mehr zwangsweise in die Kolonien gebracht – ihren Platz dort hatten die afrikanischen Sklaven eingenommen. Sie gingen nun als Lohnsklaven in die Städte.

In den amerikanischen Städten und ihrem internationalen Proletariat sehen die Autoren den Kern der Amerikanische Revolution. Dass die koloniale Oberschicht die Ideen von Freiheit und Gleichheit aufnahm, hatte vor allem mit den zunehmenden städtischen Riots zu tun, die fast alle ihren Ausgangspunkt an der Frage der Zwangsrekrutierung von Seeleuten nahmen und sich vermittelt über die teilnehmenden Sklaven auch gegen die Institution der Sklaverei richteten.

Im Laufe der Revolution gelang es der amerikanischen Oberschicht, den Kampf der Unterschichten zu spalten, indem sie die Idee der persönlichen Freiheit auf die Weißen begrenzten. Dies war unter anderem möglich, weil die Weißen nach der Revolution in Haiti zunehmend Angst vor dem aufgestauten Hass der Sklaven hatten und um ihr Leben fürchteten. Die Engländer wiederum schafften es, eine große Zahl von Sklaven auf ihre Seite zu ziehen, indem sie ihnen die persönliche Freiheit versprachen, wenn sie auf englischer Seite gegen die Kolonisten kämpften. Zugespitzt formuliert ließe sich sagen, dass die Amerikanische Revolution beiden, dem englischen Empire als auch der kolonialen nordamerikanischen Oberschicht half, das transatlantische System aufrechtzuhalten. Das Regime der Sklaverei vertiefte sich in der Folge, und die Engländer hatten Kapazitäten frei, ihr Kolonialreich in Asien aufzubauen.

Hier hätten Linebaugh und Rediker ihr Buch besser abgeschlossen. Nachdem sie bis dahin durchaus reale Bruchpunkte in der historischen Entwicklung des transatlantischen Kapitalismus aufzeigen, kann das letzte Kapitel über die religiösen Radikalen in den frühen Jahren der USA keine großen Hoffnungen mehr wecken. In der Englischen Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts stand die bürgerliche Herrschaft vor dem Zusammenbruch; die Piraterie führte fast zur Unterbrechung des Sklavenhandels, die Sklavenaufstände in der Karibik drohten ernsthaft, das Plantagensystem zu zerstören, und die Amerikanische Revolution stellte ein letztes Mal die Frage nach der Einheit der Unterdrückten. Danach scheint es, als ob sich der Kapitalismus mit seinem spezifischen Rassismus vorerst durchgesetzt habe. Sicher, die »Hydra« reckt an allen möglichen Orten und Zeiten ab und an ihr Haupt, aber die Machtfrage stellt sie in diesem Zeitraum global nicht mehr.

hh

 


Peter Linebaugh, Marcus Rediker
The many headed Hydra
Sailors, Slaves, Commoners, and the hidden history of the revolutionary Atlantic

London: Verso, 2000, 356 pp., ISBN: 978-1859844205

In deutscher Übersetzung:

Peter Linebaugh, Marcus Rediker
Die vielköpfige Hydra
Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks

Aus dem Englischen von Sabine Bartel
Berlin: Assoziation A, Februar 2008, 432 S., 28 Euro, ISBN 978-3-935936-65-1

Peter Linebaugh war Mitte der 70er Jahre zusammen mit Harry Cleaver und George Caffentzis im Redaktionskollektiv Zerowork und schrieb in Nr. 1 der Zeitschrift über Klassenkampf und Krise in der Automobilindustrie der USA (siehe Thekla 10 – Zerowork. Politische Materialien aus den USA 1975 und 1977 zum nordamerikanischen und internationalen Klassenkampf, Berlin 1988, wildcat, noch lieferbar).

Im USA-Dossier in Wildcat Nr. 73 geht Peter Linebaugh im Gespräch mit Manuel Yang der Frage nach, wie es zur »Implosion« des Arbeiterverhaltens zu Zeiten der schlanken Produktion in der US-Autoindustrie kommen konnte: Blut auf dem Polster des Jeep »Liberty«. Ein Gespräch über den Mord in Toledo am Tag danach.

Von Peter Linebaugh erschien 2003 in zweiter Auflage die Studie The London Hanged. Crime and Civil Society in the Eighteenth Century (2nd edition), London: Verso 2003, in der er zeigt, wie die öffentlichen Hinrichtungen im London des 18. Jahrhunderts dazu dienten, die englische Armutsbevölkerung gewaltsam in disziplinierte Arbeitskräfte der kapitalistischen Produktionsweise zu verwandeln.



aus: Wildcat 70, Sommer 2004


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