Wildcat Nr. 85, Herbst 2009



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Die Massenaufstände haben die strategischen Debatten überholt.

Auszüge aus einem Gespräch mit Karl Heinz Roth im Juli 2009

KHR: Der Schariati-Flügel, mit dem wir damals intensive Diskussionen geführt haben, hat uns gezeigt, dass die Kommunikation zwischen revolutionärer Intelligenz und Massenarmut ein Problem hat, das wir als metropolitane Linke nicht kennen, nämlich das Problem der Schriftlichkeit. Eine Kommunikation war nur möglich durch unmittelbare Agitation, durch Kassetten, durch Reden. In der Teheraner Südstadt wurden Kassetten mit revolutionärer Musik, mit Reden von linken Mullahs oder mit Schariati-Texten verbreitet. Ich habe das als eine Theologie der Befreiung verstanden.

Nima: Ich habe die Geschichte anders erlebt.
Aber eine Bemerkung vorweg: die neue Geschichte des Iran beginnt mit einer konstitutionellen, laizistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Seither gab es immer beide Strömungen: eine nationale, atheistische und eine religiöse. Erst durch den »Verrat« der prorussischen Tudeh-Partei im Laufe der Nationalisierungsbewegung des Erdöls und die »antiimperialistische« Radikalisierug von Teilen der Geistlichkeit im Verlauf der »Weißen Revolution« bekamen diejenigen, die den Islam erneuern wollten, mehr Impulse.
Vom Islam als politischer Sache sprachen damals drei Strömungen: Khomeini, die Volksmodjahedin und Schariati. Sie hatten natürlich verschiedene Interpretationen des Islam, und das war auch klassenmäßig erklärbar. Khomeini war zu Beginn der 60er Jahre von den Grundbesitzern zu den Basaris gewechselt; die Volksmodjahedin kamen aus dem Milieu der Intellektuellen, Studenten usw., Schariati aus der educated society. Es ist schwierig, das über die ganzen Jahre als »Befreiungstheologie« zu sehen.

KHR: Es gab 1979 eine extreme Polarität, von der wir nur den einen Pol wahrgenommen haben – der andere war die Aufrüstung des wahabitischen reaktionären, sklavenhalterischen Islamismus durch die USA, die dann in Afghanistan tatsächlich den Bürgerkrieg gegen die UdSSR gewonnen hat. Vieles von dem, was wir damals in der Autonomie über den Iran geschrieben haben, war unscharf. Das wirklich substanzielle Problem der Massenarmut des Südens haben wir im Kern richtig thematisiert, aber unsere globale Einteilung in prä- und post-industrielle Massenarmut war eine Konstruktion, die empirisch widerlegt ist. Wir haben gar nicht gesehen, dass im Rahmen der »neuen internationalen Arbeitsteilung« eine ganz neue Dimension von globaler Weltarbeiterklasse entstanden ist. Das war der Diskussionspunkt, wo wir uns auseinander bewegt haben. Zu diesem Thema habe ich 1994 die Proletaritäts-Thesen veröffentlicht – eineinhalb Jahrzehnte später, also viel zu spät, und trotzdem fand dieser Ansatz zunächst nur wenig Resonanz.

Nima: Bereits im Zuge der »Weißen Revolution« waren neben den Ölarbeitern auch moderne Fabriken entstanden. Die städtische Massenarmut entstand später. 1961 hatte Teheran vielleicht 2 Millionen Einwohner, Anfang der 70er 5 Millionen, heute 12 Millionen. Die Bewegung fing Mitte der 70er Jahre in den Slums an.
Entscheidend war die Forcierung nach 1973 mit dem Ölboom und wie die Guerilla Gruppen sich zu der kapitalistischen Entwicklung verhalten haben. Für einige war die Richtung, in diese Stadtteile zu gehen, in kleinen Fabriken zu arbeiten. Von früher hatten wir noch die Vorstellung, dass man sich dabei vervollkommnen kann. Die Volksmodjahedin hatten immer gesagt, im Iran ist der Islam das, was der Kommunismus z.B. in Vietnam war. ›Islam ist unsere Ideologie, Marxismus ist unsere Wissenschaft, ohne Marxismus kann man nicht kämpfen‹. Der Islam wurde als Hebel gesehen, als Vermittlung zum Volk. Aber in den Fabriken stellte man fest, dass die Leute mit dem Islam überhaupt nichts zu tun hatten. Bei den Diskussionen mit den Arbeitern in der Fabrik hat das nicht funktioniert. Mit dem Islam konnte man die wichtigsten Dinge nicht erklären. 1974 kam es zur großen Spaltung bei den Volksmodjahedin genau an dieser Frage des Islam. Der große Teil wurde Marxisten, ein kleiner Teil blieben Volksmodjahedin.
Die »Marxisten« haben mit Attentaten gegen Agenten des Regimes, US-Militärberater usw. aufgehört und sich den Fabriken zugewandt, eine wichtige Zeitschrift von ihnen hieß »Arbeiteraufstand«. Außerdem haben sie sich in die Auseinandersetzungen eingemischt, als die Aneignungen in den Slums begannen und das Schahregime mit Bulldozern zurückschlug.
Je mehr sich die Aufstände entfalteten und je mehr sich die Arbeiter einmischten, desto mehr wandten sich die Gruppen vom Guerillakonzept ab und dem Arbeiterkampf zu, die Begriffe »Volk« und »Iran« verschwanden aus den Namen der Gruppen. Die Autonomie NF hat diese ganze Phase von 1973-79 überhaupt nicht wahrgenommen!

KHR: Was Du berichtest, ist extrem wichtig. Das war uns unbekannt und wurde uns damals auch nicht erzählt, obwohl wir immer nach der Geschichte der Gruppen gefragt haben. Was würdest Du in der Konsequenz sagen? Hat die Guerilla, haben beide Guerillagruppen, einen wesentlichen Beitrag zum Massenaufstand geleistet?

Nima: Das ist nicht leicht zu beantworten, weil nach 1976 beide Gruppen so zerschlagen waren. Alles in allem würde ich sagen, die Guerilla hat ungeheuer hohe Opfer gebracht, aber allzu groß war ihr Einfluss auf die Entwicklung nicht. Und obwohl diese Gruppen nach der Revolution viel Zulauf hatten, hat sie das neue Regime zunächst nicht angegriffen, sondern einen Pakt mit (linken) Intellektuellen geschlossen. Die Repression traf nicht zuerst die Volksmodjahedin, sondern die Frauen. Drei Wochen nach der Revolution hat Khomeini verordnet, dass die Frauen mit Kopftuch zur Arbeit zu kommen hatten. Das war das erste Zeichen – und die Volksmodjahedin blieben neutral! Danach wurde Kurdistan bombardiert. Die Arbeitslosenbewegung, Arbeiterräte, Bauernräte u.a. standen unter ständigen Angriffen, die Unis wurden für die »Islamisierung« geschlossen – alles mit Unterstützung Bani Sadrs. Sahabi, ein Liberaler, der früher bei den Volksmodjahedin war, später von Khomeini in den »Islamischen Revolutionsrat« berufen wurde und Chef der Planungsorganisation von Bazargans Regierung war, beschreibt, wie sie nach der Revolution monatelang in einer Art »Kriegsrat« die 600 Fabriken zurückeroberten, die von Arbeitern bzw. Arbeiterräten besetzt worden waren, die Unternehmer waren verjagt oder geflüchtet, die Arbeiter streikten. Erst nachdem sie das »erledigt« hatten, haben sie die linken Gruppen angegriffen. Der Pakt zwischen Mullahs, Basaris, einem Teil der Liberalen und einem Teil der islamischen Intelektuellen und Volksmodjahedin war von Anfang an brüchig. Im Gegensatz dazu hatte der Pakt zwischen Mullahs und Basaris auch eine ökonomische Basis, durch die islamische Steuer haben beide profitiert.

KHR: Würdest Du sagen, dass die Toleranzpolitik der Volksmodjahedin – und auch eines Teils der Volksfedajin – gegenüber dieser ­Übergangssituation falsch war und dass es richtig gewesen wäre, mit aller Kraft die Bauernräte, Arbeiterräte usw., also den sozialrevolutionären Prozess zu unterstützen? ­Hätte man ausschließlich auf den revolutionären Prozess setzen müssen – mit dem Risiko, dann sehr schnell in eine Unterdrückungssituation zu geraten, aber wenigstens klare Fronten zu haben?

Nima: Das Problem ist, dass die Volksmodjahedin nach der Spaltung 1974 keine sozialrevolutionäre Perspektive mehr hatten. Wenn Ihr damals Kontakt zu anderen Leuten aufgenommen hättet, zu Marxisten z.B., dann hätttet Ihr die Situation ganz anders einschätzen können. Schon vor der Revolution waren die alten Konzepte in die Krise geraten. Die Arbeiter und andere Schichten in den Stadtteilen waren so aktiv, dass wir verstehen wollten, woher die große, autonome Kraft der Massen kam. Alle müssen hingehen, in eine Fabrik oder anderswohin und rauskriegen, wie wir dieses Verhältnis ändern können. Wir können diese Menschen nicht führen, eigentlich müssen die uns führen.

KHR: Du würdest sagen, die Massenaufstände haben alle diese strategischen Debatten, die wir aus der Ferne mit einer zeitlichen Verzögerung wahrgenommen haben, schon überholt?

Nima: Ja. Anfang der 70er Jahre war ich wegen Verbindungen zu den Volksmodjahedin in den Knast gekommen, als ich '74 wieder raus kam, war alles anders. An der Uni waren zwar viele revolutionäre Studenten, aber ihre wichtigsten Aktionen waren, Arbeiter bei Streiks und bei Fabrikbesetzungen zu unterstützen. Da konnte ich also gleich in eine Fabrik gehen. Obwohl wir überhaupt nichts wussten – erst später, als ich hier im Exil war, hab ich darüber gelesen, dass auch andere Revolutionäre, in Italien z.B., es so gemacht haben – haben wir immer Berichte geschrieben über Textilfabriken, Schokoladefabriken, Schuhfabriken, Autofabriken usw. Die haben wir unseren Kontaktgenossen gegeben und die haben sie dann detailliert diskutiert, und manche wurden über illegale Radiostationen im Ausland ausgestrahlt. Somit konnten viele Menschen ganz einfach diese Berichte hören, was Arbeiter sagen usw.

KHR: Das heißt, Ihr habt richtig Arbeiteruntersuchung gemacht. Ich finde das sehr wichtig, was Du sagst, weil das klärt, dass diese Massenbewegung eine eigene Dynamik entwickelt hat, und dass sie eine Antwort auf eine beschleunigte kapitalistische Akkumulation war. Diese ganz neue Dynamik haben wir damals nicht gesehen.

Lesehinweise:
  • Autonomie – Materialien gegen die Fabrikgesellschaft, Neue Folge
    Nr. 1: Der Iran (5/79) [pdf];
    Nr. 8: Die Volksmodjahedin im Iran (8/81) [pdf].
  • Karl Heinz Roth: Die Wiederkehr der Proletaritiät, Köln 1994.
  • Asef Bayat (»Making Islam Democratic; Social Movements and the Post-Islamist Turn«) arbeitet in seinen Untersuchungen heraus, dass alle die »islamische Komponente« überbewerten und spitzt das in der These zu: Im Iran ist es zu einer islamistischen Revolution ohne islamische Bewegung gekommen (umgekehrt in Ägypten). Der Klerus war seit der konstitutionellen Revolution, über die Phase mit Mossadeg, die Schahzeit (vor allem nach der »weißen Revolution«) marginal, und die Verstädterung führte zu einer Säkularisierung der Bevölkerung. Schariati ist Ausdruck und Sprecher einer relativ kleinen Schar von Intellektuellen, mit einem Avantgardekonzept, dem es nicht um die Massen (im Sinne der Massenarmut) ging, sondern um die neue Klasse der Gebildeten. In dem Buch finden sich Zitate von Khomeini und Schariati vom Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre, in denen beide ihre Frustration und ihren Pessimismus bezüglich ihrer Projekte ausdrücken.
  • Sahabi: Gespräch über politische Ökonomie der Islamischen Republik, in: Bahman Amuii: Eghtesad e Siasi e Jomhuri ye Eslami (Politische Ökonomie der Islamischen Republik), 3. Auflage, Teheran 2004, S. 16-19.


aus: Wildcat 85, Herbst 2009



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